Auszüge aus Vance Packard's
"Verlust der Geborgenheit"

Unsere kinderkranke Gesellschaft
Was die Vernachlässigung der Familie für unsere Kinder und die Zukunft der Gesellschaft beedeutet.

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Einleitung: Unsere gefährdeten Kinder

Fehler bei der Erziehung unserer Kinder machen wir nicht erst, seit das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts angebrochen ist – nur machen wir heute andere und vor allem gefährlichere Fehler. Auch frühere Gesellschaften sind mit ihren Kindern oft unsanft umgesprungen, haben sie vernachlässigt oder nach überholten Normen erzogen, besonders in Zeiten, in denen sie, wie wir heute, als Folge gesellschaftlicher Umbrüche und Erschütterungen oder neuer Ideologien mit bis dato unbekannten Problemen konfrontiert wurden.

Die Kindheit ist keineswegs zu allen Zeiten als eine eigenständige Lebensphase vom Erwachsensein unterschieden worden – im Gegenteil, diese Vorstellung ist sogar erst ziemlich spät entstanden. Früher sind die Kinder als kleine Erwachsene betrachtet und behandelt worden. In der mittelalterlichen Welt war es, wie auch in primitiven Kulturen, völlig normal, daß ein Kind im Alter von etwa sieben Jahren an Arbeit und Spiel der Erwachsenen teilzunehmen begann. Bald nach der Entwöhnung, so schreibt Philippe Ariès, der als erster die Geschichte der Kindheit – so der Titel seines Buches – systematisch untersucht hat, "wurde das Kind zum natürlichen Gefährten des Erwachsenen". Auch wenn die Spiele der Großen unter dem Einfluß des Alkohols einen erotischen Charakter annahmen oder ein wenig vulgär wurden , wie etwa Brueghel es auf einigen seiner Bilder dargestellt hat, blieben die Kinder selbstverständlich mit dabei und vergnügten sich auf ihre Weise.

Das Fehlen einer Abgrenzung zwischen Kind und Erwachsenem zeigte sich auch in der Kleidung. Ob bei der Arbeit, beim Spiel oder bei festlichen Anlässen – was die Kinder anhatten, war immer mehr oder weniger eine Miniaturausgabe der Kleidung der Erwachsenen. Vor mir liegen sechs von naiven Künstlern gemalte Bilder, die Kinder oder Erwachsene mit Kindern zeigen. Auf allen Bildern sind die Kinder wie die Erwachsenen angezogen. Ein um 1815 gemaltes Porträt, das "Schullehrer mit zwei Knaben" betitelt ist, zeigt alle drei in der gleichen Tracht.

Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts begann es allgemein üblich zu werden, Kinder anders anzuziehen als Erwachsene. Knaben wurden in kurze Hosen oder Matrosenanzüge gesteckt, für Mädchen wurde der Zopf obligatorisch. Kurz – die Kindheit wurde zu etwas Besonderem. Dieser Vorgang fiel zusammen mit der zunehmenden Trennung der Kinder von den Erwachsenen, zu der in erster Linie die Entwicklung des Schulwesens beitrug.

Das heißt nicht, daß zugleich mit der modernen Zeit für die Kinder in der westlichen Welt die Ära der "sorglosen Kindheit" angebrochen wäre. Ganz im Gegenteil, sie hatten wenig zu lachen, vor allem in der Epoche zwischen Mitte des 17. und Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Umwälzungen, die sich in der rauhen Frühphase des industriellen Zeitalters vollzogen, das Zusammenströmen großer Menschenmassen in den Ballungszentren und die Rigorosität der von den Fegefeuer-Calvinisten gepredigten Verhaltensnormen, all dies brachte für die Kinder wenig Erfreuliches.

In vielen europäischen Großstädten war es im 18. Jahrhundert absolut üblich, daß eine frischgebackene Mutter ihr Neugeborenes "weggab", das heißt einer Amme aus der näheren oder weiteren Umgebung anvertraute, oft einer Frau, die auf dem Lande lebte. Es gab eine Zeit, da wurde sogar die überwiegende Mehrheit der in Paris zur Welt gekommenen Kinder aufs Land verfrachtet.

Ein herzloses und egoistisches Verhalten? In vielen Fällen gewiß, obwohl das Kleine auf diese Weise manchmal in den Genuß einer Betreuungsperson kam, die sich nur ihm allein widmete. Doch man muß die Umstände in Rechnung stellen: Die rapide Urbanisierung hatte das familiäre und gemeindliche Zusammengehörigkeitsgefühl weitgehend zerstört und das Leben für Kinder in jeder Beziehung ungesund gemacht.

Die Städte explodierten geradezu. London beispielsweise war im Jahr 1700 zu einer großen, verdreckten Metropole mit 750.000 Einwohnern herangewachsen. Abfallhaufen und Pferdedung lockten Ratten, Flöhe, Fliegen und Mücken an, die Seuchenerreger wie Typhusbakterien und andere für Kinder gefährliche Krankheitskeime übertrugen.
Von den in den neuen Ballungsgebieten zur Welt gekommenen Kindern starben die meisten vor Erreichen des sechsten Lebensjahrs. Man kann sich leicht vorstellen, daß Eltern es sich unter solchen Umständen versagten, in eine intensive Gefühlsbeziehung zu ihren Neugeborenen und Kleinkindern zu treten. Historiker behaupten, daß es im 17. Jahrhundert so etwas wie ein "Zärtlichkeitstabu" zwischen Erwachsenen und kleinen Kindern gegeben habe.

Oder denken wir an die Kinderarbeit. In traditionellen Gesellschaften übernehmen Kinder schon früh eigene Verantwortung. Sechsjährige müssen auf ihre jüngeren Geschwister aufpassen oder werden mit der Aufgabe betraut, eines der Kleinen tagsüber mit sich herumzutragen.

Bevor der Industrialisierungsprozeß einsetzte, war es in den westlichen Gesellschaften üblich, daß alle Söhne, außer dem ältesten, zu auswärtigen Meistern in die Lehre geschickt wurden. Dies geschah gewöhnlich zwischen dem siebten und dem neunten Lebensjahr. Vom Meister wurde erwartet, daß er seinem kindlichen Lehrling sein Handwerk beibrachte, oft auch, daß er ihn im Lesen und Schreiben unterrichtete; und er besaß die Disziplinargewalt über das Kind. Diese Regelung hatte zu einer Zeit, da es noch so gut wie keinen öffentlichen Schulunterricht gab, gewiß ihren Sinn.

Etwas ganz anderes, Brutaleres war jedoch die Kinderarbeit in der Frühzeit der industriellen Revolution. Was damals an Formen der Ausbeutung von Kindern vorkam, war, zum Teil wenigstens, abscheulicher, als ich mir je hätte vorstellen können, bevor ich mich für dieses Buch näher damit befaßte.

Es gab kaum gesetzliche Bestimmungen über die Beschäftigung von Kindern. Fabrik- und Bergbauunternehmer konnten diese billigen Arbeitskräfte nach Gutdünken auspowern. Sie beriefen sich dabei auf die puritanische Ethik, die Kinderarbeit als eine Gottesgabe rechtfertigte, und die zu jener Zeit allgemein anerkannten Glaubenssätze einer Wirtschaftstheorie, die das Prinzip des Laisser-faire predigte.

In den Baumwollbetrieben Neuenglands standen die Kinder oft vierzehn Stunden täglich an den Maschinen. 1842 wurde eine "Reformation" verabschiedet, die die Arbeitszeit für Kinder unter zwölf Jahren auf zehn Stunden pro Tag begrenzte.

Ihren negativen Höhepunkt fand die Ausbeutung von Kindern wohl in den englischen und schottischen Kohlenzechen des frühen 19. Jahrhunderts. Die sowieso dürftigen gesetzlichen Regelungen über Kinderarbeit in Fabriken galten für den Bergbau nicht. Eine detaillierte Darstellung dessen, was dort vor sich ging, gab 1842 der Siebente Earl von Shaftesbury in seinem nüchternen Bericht für das britische Unterhaus.

Mit Erreichen des fünften Lebensjahrs – in den Gruben von Oldham sogar schon mit vier – galten die Kinder als reif für die Arbeit unter Tage, und zwar Jungen und Mädchen. Die meisten von ihnen, Knaben wie Mädchen, wurden als Zugtiere in den engen Stollen eingesetzt. Auf Händen und Knien krabbelnd, zogen sie beladene Karren hinter sich her – vierzehn bis sechzehn Stunden am Tag. Die Buben arbeiteten in der Regel nackt, die Mädchen mit nacktem Oberkörper. Das "Zaumzeug" für diese charakterstählende Arbeit war ein Hüftgürtel, an dem eine Kette befestigt war, die zwischen den Beinen nach hinten zur Karre führte. Die Kette scheuerte den Kindern oft das Fleisch wund, da sie stundenlang kriechen mußten, ohne sich zwischendurch einmal strecken zu können. Ihre Lungen füllten sich mit Kohlenstaub. Wenn sie klagten, wurden sie von ihren Aufsehern dafür gewöhnlich gezüchtigt.

Wen wundert’s, daß aus Kindern von liebenswürdigem Naturell in den Kohlegruben binnen kurzer Zeit "kleine Teufel" wurden, wie ein Geistlicher aus Tranent klagte.

Nicht wenig trug zum schweren Los der Kinder im 17. und 18. Jahrhundert die Kirche bei. Viele überzeugte Protestanten – vor allem die Calvinisten – sahen im Kind die Verkörperung der "Erbsünde". Ihrer Überzeugung nach mußte man Kindern ihre "teuflischen Neigungen" austreiben und ihren Willen brechen, um Erlösung zu finden und der Hölle zu entgehen.

Dieser Philosophie zufolge war es die Christenpflicht der Eltern – und der neuen Berufsgruppe der Lehrer und Schulmeister –, die "Reinigung" der Kinder mit Strenge und, wenn nötig, mit dem Stock zu erzwingen. Zeigte sich ein Kind verspielt, so galt dies als Zeichen von Besessenheit. Geschah einem Kind das Unglück, ins Bett zu machen, so konnte die Strafe dafür darin bestehen, daß es einen halben Liter Urin trinken mußte.

In evangelischen Häusern galt die Grundregel, daß Kinder den Gehorsam gegenüber Gott nur lernen konnten, wenn sie zuvor gelernt hatten, ihren Eltern zu gehorchen. Von dem bekannten Geistlichen John Wesley stammt die Mahnung an die Adresse der Eltern: "Brecht ihren Willen, um ihre Seelen zu retten."

Der wirksamste Widerspruch gegen die weithin akzeptierte Ansicht, daß Kinder von Natur aus böse seien und nur durch strenge Zucht auf den richtigen Weg gebracht werden könnten, wurde von zwei bedeutenden Denkern des 18. Jahrhunderts artikuliert: Jean Jacques Rousseau und John Locke. Das Kind – so Rousseau – könne gar nicht von Natur aus böse sein, denn es sei ein Geschöpf der Natur, und die Gesetze der Natur würden eo ipso für eine gesunde Entwicklung des einzelnen sorgen. Rousseau erklärte die Kindheit für einen besonders wichtigen Lebensabschnitt und postulierte, das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern müsse durch gegenseitige Zuneigung geprägt sein. Auch der große Humanist John Locke forderte die Eltern auf, ihre Kinder zu lieben. Um den Respekt des Sohnes zu gewinnen, müßten, so meinte er, die Eltern ihrerseits den Sohn respektieren.

Die Ideen Rousseaus und Lockes fanden vor allem in Amerika dankbare Aufnahme, wo die Solidarität innerhalb der Familie oft, namentlich in den Gebieten der "Frontier", der westlichen Siedlungsgrenze, eine Bedingung für das Überleben war. Die amerikanischen Kinder hatten es leichter als ihre europäischen Altersgenossen, die traditionelle Ehrfurcht vor den Erwachsenen – die allzuoft hauptsächlich aus Furcht bestand – abzulegen.
Obwohl diese Entwicklung sich mittlerweile in der gesamten westlichen Welt vollzogen hat, gehören Probleme im Umgang mit den Kindern und der Kindheit keineswegs der Vergangenheit an. Im Gegenteil: Plötzlich sehen wir uns mit einer "Beziehungs-Krise" zwischen Erwachsenen und Kindern konfrontiert, ohne uns der Ursachen dafür bewußt zu sein.

Was ist los?

Für mich steht fest: Unsere Gesellschaft hat in ihrer Aufgabe, Kinder auf das Erwachsenendasein vorzubereiten, auf eine besorgniserregende Weise versagt. Die Vielfalt und damit Beliebigkeit, die wir heute in den Methoden der Kindererziehung beobachten können, sind in der Geschichte ohne Beispiel. Wir sprechen zwar ständig von Verbesserung der Lebensqualität, von Fortschritt und Bewältigung der Herausforderungen der Zukunft – aber wie diese Zukunft aussehen wird, hängt wesentlich mit davon ab, wie wir jetzt und heute unsere Kinder erziehen. Dieses Problem scheinen wir erfolgreich zu verdrängen. Dabei müßte bei all unseren Überlegungen und Planungen stets die Frage im Mittelpunkt stehen: Aber was ist mit den Kindern?

Natürlich gibt es nach wie vor eine Menge intakter Familien, wo die Kinder unter der Obhut einfühlsamer, liebevoller Eltern aufwachsen. Aber das übergreifende, beherrschende Faktum ist doch, daß die gesamte Tendenz unserer Gesellschaft, unserer Institutionen und eben auch unseres Familienlebens dahin geht, daß wir die nachwachsende Generation vernachlässigen und sie mit Leid, Angst und entmutigenden Problemen allein lassen. Manche dieser Leiden und Probleme drohen einen großen Teil der jungen Menschen auf eine irreversible Weise zu schädigen.

Das Aufziehen von Kindern wird für Eltern (und solche, die es werden wollen) offenbar zunehmend zu einem Mysterium – und zu einer immer größeren Herausforderung. Viele Paare haben das Gefühl, nicht mehr frei über eine Familiengründung und die Zukunft ihrer Familie entscheiden zu können. Und Eltern haben oft den – wenn nicht zutreffenden, so doch verständlichen – Eindruck, daß unsere Institutionen und die in unserer Gesellschaft vorherrschende Einstellung das Kinderkriegen eher bestrafen als belohnen. Unsere grundlegende gesellschaftliche Einheit, die Familie, ist in spürbare Bedrängnis geraten.

Schon vor einigen Jahren hat einer der führenden Fachleute auf dem Gebiet der Kindererziehung, der Psychologieprofessor Urie Bronfenbrenner von der Cornell University, auf die Folgen hingewiesen, die sich aus den radikalen Veränderungen in Struktur und Funktion der Familie für die Kinder ergeben; er äußerte die Befürchtung, die Auswirkungen seien "auf dem besten Wege, die Bezeichnung verhängnisvoll zu verdienen".

Wie sehen diese radikalen Veränderungen aus?

Ich denke, sie betreffen vor allem drei gesellschaftliche Bereiche:

1.   Es hat sich – mehr oder weniger ungewollt – ein kinderfeindliches Klima entwickelt, so daß Kinder sich außerhalb des familiären Zuhauses einer kalten, abweisenden Welt gegenübersehen.

2.   Es ist uns nicht gelungen, eines der einschneidendsten Phänomene dieses Jahrhunderts in den Griff zu bekommen: die Emanzipation der (verheirateten) Frau und Mutter, verbunden mit außerhäuslicher Berufstätigkeit.

3.   Wir haben gerade erst begonnen, die Aus- und Nachwirkungen der sprunghaft gestiegenen Zahl der Scheidungen auf die Millionen betroffener Kinder zu erkennen.
Diese Faktoren tragen, wie ich glaube, entscheidend zu jenen "modernen Formen der Verdammnis" – wie Professor William Kessen es so treffend ausgedrückt hat – bei, denen unsere Kinder ausgesetzt sind. Es ist das Grundanliegen dieses Buches, einmal jene Phänomene unter die Lupe zu nehmen, in denen sich meiner Ansicht nach diese moderne Verdammnis verkörpert, und Vorschläge zu machen, was wir dagegen tun könnten.

Wenn ich im folgenden versuche, die Welt der "Kinder" zu erkunden, so beziehe ich mich dabei auf die Altersstufen zwischen dem Neugeborenen und dem Jugendlichen im Alter von vierzehn Jahren. Dabei geht es mir weniger um jene, die straffällig werden, die behindert oder manifest verhaltensgestört sind, also nicht um die – aufs Ganze gesehen – Ausnahmefälle, sondern vielmehr um die "typischen" Kinder aus den zunehmend typischer werdenden Familien – den Millionen von Familien, die versuchen, mit der immer verwirrenderen und fordernderen Welt zurechtzukommen, in der unsere Kinder heutzutage aufwachsen und erzogen werden.

Im Laufe meiner Beschäftigung mit dem Thema bin ich zu der Überzeugung gelangt, daß Kinder widerstandsfähiger und anpassungsfähiger sind, als ich ursprünglich gedacht hatte. Sie sind in der Lage, eine ganze Menge frühkindlicher Schockerlebnisse zu verkraften oder sogar positiv zu verarbeiten, wenn gewisse gegenwirkende Faktoren vorhanden sind. Andererseits müssen wir feststellen, daß bestimmte Lebens- und Erziehungsformen, die Kindern oft bleibende Schäden zufügen können, immer mehr an Terrain gewinnen.

Das gestörte Verhältnis unserer Gesellschaft zum Kind

Im Laufe des vergangenen Jahrzehnts hat sich das Phänomen der sogenannten kindlichen Ausreißer zu einem zunehmend besorgniserregenden Problem entwickelt. In den Vereinigten Staaten hat es mittlerweile "epidemische Ausmaße" angenommen: Ein Senatsausschuß schätzte die Zahl der kindlichen Ausreißer auf über eine Million im Jahr.
Interessanterweise ist das Durchschnittsalter dieser Ausreißer immer niedriger geworden und liegt derzeit bei ungefähr dreizehneinhalb Jahren. Daß Kinder von zu Hause weglaufen, kommt in allen sozialen Schichten vor – auch "in den besten Familien". Mädchen entfliehen in der Regel eher einer als zu rigoros empfundenen elterlichen Beaufsichtigung und Gängelei, Jungen häufiger einer Situation, die durch das weitgehende Fehlen elterlicher Autorität gekennzeichnet ist. Viele Ausreißer kommen aus einer Familie, in der ein Elternteil fehlt oder in der das Verhältnis zwischen den Eltern hoffnungslos zerrüttet ist.

Kindliche Ausreißer sind nicht nur in Amerika ein Problem, sondern beispielsweise auch in Deutschland und England. Als ich zum letzten Mal in England war, schlug man sich gerade mit kollektiven Schuldgefühlen herum über den Tod eines kleinen, bis dato gänzlich unbekannten Jungen. Der achtjährige Ausreißer war bei dem Versuch, nachts ein Sumpfgebiet zu durchqueren, erfroren. Fast alle Zeitungen widmeten dem Fall tagelang tränenreiche Schlagzeilen, und der Daily Express sprach von "einer Tragödie unserer Zeit".

Der Junge, der Lester hieß und von den Zeitungen "Lonely Lester" genannt wurde, stammte aus einer geschiedenen Ehe. Er war in einem Heim gewesen, bis seine Mutter wieder geheiratet und ihn zu sich genommen hatte. Der Stiefvater hatte den in seinen Augen "respektlosen" Jungen häufig mit Ohrfeigen und Fausthieben traktiert, worauf Lester sich erst in die innere Emigration zurückgezogen und dann versucht hatte, das Weite zu suchen. Viermal innerhalb von zwei Monaten hatte die Polizei ihn aufgegriffen und wieder nach Hause gebracht.

Viele dieser kindlichen Ausreißer sind eigentlich eher Vertriebene, Kinder, die den Eltern auf die Nerven gehen, weil sie angeblich aufsässig oder quengelig sind. Wegen Lappalien kommt es dann zu lautstarken Auseinandersetzungen, Stubenarrest, Prügel; bis das Kind schließlich die Flucht ergreift – wie schon Hunderttausende andere in jedem Jahr.

Wenn ein Ausreißer nicht nach wenigen Wochen wieder nach Hause zurückkehrt, gerät er mit einiger Wahrscheinlichkeit in eine trostlose Lage – Fotomodell für Porno-Magazine oder Darsteller in Porno-Filmen, wenn nicht gar gleich Prostitution heißen dann oft die Stationen auf dem Weg nach unten.

In Chicago ist vor kurzem ein "Ausreißertelefon" eingerichtet worden, das rund um die Uhr aus dem ganzen Land gebührenfrei angerufen werden kann. Rund 50.000 Anrufer im Jahr machen von dieser Möglichkeit, sich beraten und helfen zu lassen, Gebrauch. In fast allen amerikanischen Städten sind Häuser als Zufluchtsstätten für Ausreißer eingerichtet worden. Sie stehen untereinander in Verbindung und bilden so ein landesweites Netzwerk.

Ich habe ein großes Ausreißerhaus in New York, unweit des Broadway, besucht. Es liegt in einer der schlimmsten Gegenden der Stadt. Drogenhandel, Pornographie und Prostitution sind in diesem Viertel zu Hause, und an den meisten dieser Aktivitäten sind "frische" Ausreißer beteiligt. Um in das Haus reinzukommen, das vierundzwanzig Stunden am Tag geöffnet ist, muß man sich an einen Wächter wenden, der in einer abgeschirmten Pförtnerloge sitzt und darauf achtet, daß keine Zuhälter oder andere unerwünschte Personen das Haus betreten. Wenn man ihn davon überzeugt hat, daß man ein legitimes Motiv hat, Einlaß zu begehren, betätigt er per Knopfdruck den Türöffner.

Ich besuchte das Haus gegen vier Uhr nachmittags. Viele der jungen Ausreißer lagen schlafend auf Sofas oder auf großen Kissen am Boden. Andere saßen oder lagen dösend vor einem Fernsehapparat in der Ecke.

Für die Nacht werden Mädchen und Jungen in getrennten Stockwerken untergebracht. Wer dort kein Bett mehr findet, schläft in einem "Ausweichzimmer". Wenn auch dort der Platz nicht reicht, werden Minibusse eingesetzt, um Spätankömmlinge zu anderen an das Netzwerk angeschlossenen Unterkünften zu transportieren. Dreimal täglich wird in diesem "Krisenzentrum" ein warmes Essen serviert.

Viele der hier gestrandeten Kinder und Jugendlichen sind vergewaltigt oder zu pornographischen Exzessen gezwungen worden, viele haben versucht, mit Prostitution Geld zu verdienen. Allerdings: "Sie werden hier keinen glücklichen Strichjungen finden", erklärte mir einer der Betreuer.

Eine dreizehnjährige, in die Prostitution abgerutschte Ausreißerin tauchte mit einem Baby im Kinderwagen im Asyl auf; ein zehnjähriger Junge kam mit einem Sack voll Spielzeug an – er war von einem Homosexuellen mißbraucht und mit Spielsachen statt Bargeld entlohnt worden.

Von den Tausenden von Kindern, die Jahr für Jahr in dem Haus landen, sind zweitausend jünger als fünfzehn. Als Hauptgrund für ihr Weglaufen von zu Hause nennen die meisten einen rohen, versoffenen Vater.

Die Betreuer bestehen darauf, daß die Eltern bzw. ein Elternteil jedes bei ihnen Schutz suchenden Kindes angerufen werden, damit die wissen, daß ihr Sohn oder ihre Tochter "in Sicherheit" ist. Diese Anrufe zeigen dann oft, daß es sich nicht um Ausreißer im eigentlichen Sinn, sondern um Ausgestoßene handelt. Einer der Betreuer erzählte mir: "Wir rufen an und sagen: 'Wir haben Ihren Sohn hier.' Antwort: 'Schön. Behalten Sie ihn.'"

Er fügte hinzu: "Die Kinder sind im Grunde in Ordnung, aber sie sind von allen für ihr Leben wichtigen Institutionen, einschließlich der Familie und der Schule, im Stich gelassen worden." Nur selten kann eine sofortige Rückkehr nach Hause in die Wege geleitet werden. Für die meisten versucht das Betreuungszentrum, Arbeitsplätze zu finden, zum Beispiel als Hot-dog-Verkäufer, oder es überweist sie zwecks längerfristiger Rehabilitationsmaßnahmen an eine geeignete Einrichtung.

Ein ebenfalls in New York ansässiges Zentrum, die Foundation for Child Development, hat versucht, einen breiteren Überblick über das tägliche Elend in amerikanischen Familien zu gewinnen. Es hat unter 2301 Kindern zwischen sieben und elf Jahren – ein repräsentativer Querschnitt aus allen Teilen der Vereinigten Staaten – eine Erhebung durchgeführt. Acht von zehn der befragten Kinder gaben an, Angst um den Bestand ihrer Familie zu haben. Weniger als die Hälfte der Kinder lebte noch mit ihren beiden "richtigen" Elternteilen zusammen und beurteilte die Ehe ihrer Eltern als glücklich. Als die Kinder aber gebeten wurden, aus einer Reihe von Vorlagen ein Gesicht auszuwählen, das ihre Gefühle gegenüber ihrer Familie am besten zum Ausdruck brachte, entschieden sich erstaunlicherweise neun von zehn für eines mit glückstrahlender Miene. Wir werden später noch mehr über den Angstindex dieser Kinder erfahren.

Die zunehmende Vereinsamung oder Entwurzelung heutiger Kinder wird durch eine Reihe offizieller Erhebungen belegt. In den Vereinigten Staaten verbringen mindestens zwei Millionen Kinder einen großen Teil des Tages allein zu Hause. Zehntausende davon sind jünger als sechs Jahre. Untersuchungen, die in Detroit durchgeführt wurden, deuten darauf hin, daß solche alleingelassenen Kinder einen beträchtlichen Teil der registrierten Wohnungsbrände verursachen.

Ein Forschungsinstitut an der University of Michigan hat die Ergebnisse von zwei Umfragen veröffentlicht, die im Abstand von zwanzig Jahren durchgeführt wurden: die erste 1956, die zweite 1976. Jedesmal wurden 2000 Personen über ihre allgemeine Stimmung und Gemütslage befragt. Das auffälligste Ergebnis war, daß die 1976 Befragten – vor allem die jüngeren unter ihnen, die im Laufe dieser zwanzig Jahre volljährig geworden waren – offenbar viel größere Schwierigkeiten hatten, "ihre Rolle und Stellung in der Gesellschaft zu finden", und in dieser Gruppe auch eine dramatische Zunahme der Symptome ängstlicher Erregung wie Magenbeschwerden, Schlaflosigkeit und nervöse Erschöpfung zu verzeichnen war.

Depressionen bei Kindern haben alarmierend zugenommen, wie die psychiatrischen Betreuungsdienste mit wachsender Sorge feststellen müssen. Natürlich sind kindliche Depressionen keine neue "Erfindung", doch galten sie noch vor fünfzehn Jahren nicht als ein nennenswertes gesundheitspolitisches Problem. Heute gibt es schon zahlreiche Spezialkliniken zur Behandlung dieses Leidens. Aber auch andere psychische Störungen werden mehr und mehr zu "Alltagskrankheiten".

Der Kinderverhaltensforscher Robert J. Thompson von der Duke University nennt in einer Liste der Indikatoren für das Vorliegen schwerwiegender emotionaler Störungen bei einem Kind folgende Verhaltensweisen: Hyperaktivität, Agressivität, Quengeligkeit, Ängstlichkeit, Jähzorn, Traurigkeit, extremes In-sich-gekehrt-Sein.

1034 Kinder aus repräsentativ ausgewählten New Yorker Familien wurden im Rahmen eines Langzeit-Forschungsprojekts von acht Verhaltenswissenschaftlern beobachtet. Achtzehn verschiedene Verhaltensweisen oder Verhaltensaspekte wurden bei den Kindern in unterschiedlich starker Ausprägung festgestellt, darunter so ernste Symptome wie regressive Angst (die sich beispielsweise in häufigem angstvollen Hochschrecken aus dem Schlaf äußert), kognitive Probleme (wie das Verwechseln von Wörtern), motorische Automatismen (wie unbewußtes Kopfnicken). Die Wissenschaftler kamen zu dem Schluß, daß rund ein Drittel der Kinder an psychischen oder geistigen Defekten litt; bei jedem achten wurde von Psychiatern eine so schwere Störung diagnostiziert, daß für die betreffenden Kinder umgehend eine psychiatrische Behandlung oder Betreuung veranlaßt wurde. Selbst wenn man in Rechnung stellt, daß die Psychologen vielleicht zu einer übermäßig dramatisierenden Deutung der beobachteten Verhaltensweisen neigen, bleiben die statistischen Daten erschütternd und sind nicht von der Hand zu weisen.

Kinder ohne Kontrolle

"Die Eltern haben die Zügel gelockert, und die Kinder haben jetzt keinen Halt mehr", so versucht ein Beamter des psychiatrischen Dienstes die Situation zu charakterisieren. Was immer die Ursachen sein mögen – und es liegt sicher nicht an den Eltern allein –, Tatsache ist, daß eine rasch wachsende Zahl von Kindern außer Kontrolle gerät.
Schulverhalten als Indikator: Laut der National Association of Secondary School Principals sehen sich die amerikanischen Lehrer mit einem neuen Schülertypus konfrontiert. Einer der Spitzenfunktionäre des Verbandes, Scott D. Thomson, sagte mir: "Unsere Heranwachsenden bewegen sich irgendwie jenseits der Einschränkungen, die jungen Menschen normalerweise von den Erwachsenen auferlegt werden."

So ist zum Beispiel ein massives Nachlassen der Lernmotivation zu konstatieren, eine Weigerung, die Schule ernst zu nehmen. In manchen Gegenden schwänzen so viele Schüler den Unterricht, daß man dazu übergegangen ist, ihnen Frisbees, T-Shirts oder Jojos als Belohnung dafür zu geben, daß sie überhaupt zum Unterricht erscheinen. Dieser Motivationsverlust ist quer durch alle Schichten der Gesellschaft zu beobachten. Die Ursachen dafür sind wohl vor allem in der häuslichen Umwelt, in der Qualität des Schulunterrichts oder in einem übermäßigen Fernsehkonsum zu suchen. Aber was auch immer die Gründe sein mögen, die Tatsache als solche ist bedrückend.

In der Zeit zwischen den frühen sechziger und den späten siebziger Jahren – einem Zeitraum, in dem die Ausgaben für das öffentliche Schulwesen sich verfünffachten und viele neue Unterrichtstechniken eingeführt wurden – sanken die sprachlichen Fähigkeiten der Schüler, wie Tests ergaben, um zehn Prozent. In den vergangenen fünf Jahren hat sich bei den amerikanischen Schulkindern, egal ob man Neunjährige, Dreizehnjährige oder Siebzehnjährige testete, die Fähigkeit zur Problemlösung, wie sie per Intelligenztests gemessen wird, deutlich verschlechtert. Ende der siebziger Jahre stellte man fest, daß einer von acht High-School-Absolventen beim Eintritt in das letzte Schuljahr, das heißt im Alter von sechzehn Jahren, praktisch ein Analphabet war. 1981 kam eine von der Bundesregierung finanzierte Untersuchung zum landesweiten Bildungsfortschritt zu dem Ergebnis, daß die Fähigkeit der Dreizehn- und Siebzehnjährigen, in einer Diskussion einen Standpunkt zu formulieren, im Laufe der siebziger Jahre abgenommen hatte.

Diese alarmierenden Daten ließen allseits lautstarke Forderungen nach strengeren Prüfungsrichtlinien und besseren Motivationsstrategien in der Schule laut werden, so daß vielleicht Aussicht besteht, die Talfahrt noch zu bremsen.

  • Ungesetzliches Verhalten als Indikator: Nicht nur in den Vereinigten Staaten sind von Kindern und Jugendlichen begangene Straftaten zum Problem geworden; in der Bundesrepublik Deutschland wird im Zusammenhang mit der Jugendkriminalität von einer "gesellschaftlichen Katastrophe" gesprochen.

Hier wie dort werden die Gesetzesbrecher immer jünger. 1982 standen die kalifornischen Behörden vor der schwierigen Aufgabe, die Untaten eines siebenjährigen Buben rechtlich würdigen zu müssen, der im Verdacht stand, bei insgesamt siebzehn Brandstiftungen oder anderen zerstörerischen Aktionen einen Schaden in Höhe von vierzigtausend Dollar angerichtet zu haben. Landesweit handelt es sich bei der Hälfte aller ertappten Diebe und Einbrecher um Jugendliche und Kinder unter achtzehn. In einigen Ländern sind es zunehmend mehr Mädchen, die sich auf kriminelle Aktivitäten verlegen. In den Vereinigten Staaten wächst die Zahl der verhafteten Mädchen dreimal so schnell wie die der verhafteten Jungen. Bezeichnend für kriminelle Handlungen Jugendlicher ist oft deren gedankenlose, überflüssige Brutalität, etwa wenn alte, wehrlose Leute nicht nur beraubt, sondern anschließend auch noch verprügelt werden.
Wie das FBI mitteilte, ist die Zahl der wegen krimineller Delikte verhafteten Kinder zwischen 1963 und 1977 dreimal so rasch gestiegen wie die Zahl festgenommener Erwachsener. Die Zahl der wegen schwerwiegender Straftaten erfolgten Verhaftungen von Kindern hat sich in diesem Zeitraum verdreifacht. 1981 konstatierte das FBI eine beginnende Abflachung der Kriminalitäts-Wachstumsrate; der Grund dafür: Der Anteil der Teenager an der Gesamtbevölkerung ist gesunken.

  • Sexualverhalten als Indikator: In den Vereinigten Staaten ist das Durchschnittsalter, in dem ein Mädchen seinen ersten Geschlechtsverkehr erlebt, im Laufe der vergangenen zwei Jahrzehnte auf knapp fünfzehn Jahre gesunken. Ein Fünftel aller Jugendlichen sammelt innerhalb des ersten Jahres nach Eintritt in die Pubertät Koituserfahrungen.

Zwei Professoren der Johns Hopkins University, Melvin Zelnik und John F. Kanter, fanden im Rahmen einer Untersuchungsreihe heraus, daß der Anteil der sexuell erfahrenen Mädchen im Teen-Alter sich in weniger als einem Jahrzehnt verdoppelt hat.

Obwohl die Verwendung von Empfängnisverhütungsmitteln unter Jugendlichen recht verbreitet ist, kommt es noch immer sehr oft zu einer Schwangerschaft. 400.000 Mädchen unter fünfzehn werden Jahr für Jahr schwanger. Das Alan Guttmacher Institute in New York schätzte 1981, daß rund vierzig Prozent der damals vierzehnjährigen Mädchen noch vor ihrem zwanzigsten Lebensjahr mindestens einmal schwanger werden würden.

Unter weiten Teilen der Bevölkerung gilt es längst nicht mehr als Schande, ein uneheliches Kind zur Welt zu bringen. Es ist sogar schon vorgekommen, daß kindliche Mütter gestanden haben, sie hätten ihr Kind nur ausgetragen, weil sie sich so etwas wie eine zärtliche lebende Puppe zum Spielen gewünscht hätten. Die Zeitschrift Time zitierte ein schwangeres vierzehnjähriges Mädchen, das erklärte, es werde sein Baby "richtig warm in kleine Kleider und solche Sachen einpacken". Eine andere junge, bereits verheiratete Schwangere sagte: "Ich schätze, alle Leute wollen Kinder. Wahrscheinlich, um ihr Leben auszufüllen. Sie langweilen sich so. Sie wissen mit diesem Leben nichts anzufangen."

Der Anteil der minderjährigen Mädchen, die ein Kind bekommen, sich aber dafür entscheiden, nicht zu heiraten, hat sich nach Angaben des U.S. Census Bureau in den vergangenen zwei Jahrzehnten spürbar erhöht. Derzeit wächst die amerikanische Bevölkerung jedes Jahr um rund eine Viertelmillion Kinder unverheirateter Mütter zwischen zwölf und neunzehn Jahren.

In Städten wie Phoenix, Arizona, wird die größte Zuwachsrate bei Schwangerschaften unter den zwölf- bis vierzehnjährigen Mädchen verzeichnet. Ein erklecklicher Teil der Neugeborenen wird also von Müttern zur Welt gebracht, die selbst noch Kinder sind; diese Säuglinge werden in ihren wichtigen frühen Lebensjahren von einer kindlichen Bezugsperson geprägt. Der Direktor des Catholic Social Service in Fort Wayne, Indiana, hat erklärt, die wachsende Zahl junger, unverheirateter Mädchen, die ein Kind zur Welt bringen und es selbst aufziehen wollen, sei für seine Einrichtung zu einem zentralen Problem geworden; er sieht in diesem Phänomen das Symptom einer für unsere Gesellschaft potentiell verhängnisvollen Entwicklung.

Die Geschlechtskrankheiten bei Kindern und Jugendlichen haben sprunghaft zugenommen. Ein Viertel aller registrierten Fälle betrifft Minderjährige.

  • Drogenkonsum als Indikator: Auch in diesem Zusammenhang wird von den Gesundheitsbehörden gern und oft der Ausdruck "epidemisch" benutzt. Binnen fünfzehn Jahren hat sich die Zahl der Verhaftungen von Kindern und Jugendlichen wegen Drogenkonsums oder Drogenhandels um sechsundvierzig Prozent erhöht. Zu den populärsten Drogen zählen Marihuana und Kokain sowie "Engelsstaub", dem eine stark enthemmende und Gewalttätigkeit fördernde Wirkung zugesprochen wird. Vor einem Jahrzehnt rauchten vor allem Studenten Marihuana. Dann griffen die Schüler zu diesem Kraut, bis sie dazu übergingen, mit Speed-Pillen und Kokain zu experimentieren. Besonders gestiegen ist der Marihuanakonsum in letzter Zeit unter den zehn- bis vierzehnjährigen Schülern. Als eines der Motive für die sprunghafte Zunahme des Drogenkonsums gerade bei dieser Altersgruppe wird Langeweile angegeben. Ein anderes Motiv ist Einsamkeit.

Das Marihuana, das heute verkauft wird, wirkt fünfmal so stark wie der in den frühen siebziger Jahren an den Colleges gerauchte Stoff. Das Nationale Institute of Drug Abuse hat erklärt, das heute verwendete Marihuana reduziere die Aufnahmefähigkeit im Schulunterricht und stelle zweifellos ein Gesundheitsrisiko dar.

  • Alkoholkonsum als Indikator: Die Jungen beginnen heute früher mit dem Trinken und bevorzugen härtere Sachen. Laut dem National Institute on Alcohol Abuse and Alcoholism gibt es in den Vereinigten Staaten 1,3 Millionen Kinder und Jugendliche zwischen zwölf und siebzehn, deren Trinkgewohnheiten ein ernstes Problem darstellen, ernst genug, um sie in Konflikt mit der Polizei oder der Schule zu bringen. Den Angaben des Instituts zufolge trinken Jugendliche bzw. Kinder durchschnittlich im Alter von zwölf Jahren zum ersten Mal Alkohol, ein Jahr früher als in den sechziger Jahren. Die Anonymen Alkoholiker haben eine speziell für Jugendliche gedachte Broschüre herausgegeben. Eines der typischen Bekenntnisse (wie sie bei den Anonymen Alkoholikern obligatorisch sind) beginnt mit den Worten: "Mein Name ist Diane. Ich bin vierzehn, und ich bin Alkoholikerin." Diane begann mit dem Trinken, um ihre Einsamkeit zu vergessen, nachdem sie mit ihren Eltern in eine vom bisherigen Wohnort weit entfernte Stadt hatte umziehen müssen. Zu diesem Zeitpunkt war sie in der vierten Klasse.

Die USA sind nicht das einzige Land, das beunruhigt ist angesichts der vielen jugendlichen Alkoholiker. Wie die Nachrichtenagentur AP berichtet, betrachtet man in vielen europäischen Ländern die zerstörerischen Auswirkungen des Alkoholismus auf junge Leute mit tiefer Sorge. In Großbritannien hat sich die Zahl der Verurteilungen Minderjähriger wegen Trunkenheitsdelikten binnen zwölf Jahren verdoppelt. In der Sowjetunion haben amtliche Stellen ihre Beunruhigung über das Ausmaß jugendlichen Alkoholkonsums geäußert. Ein langjähriger Beobachter Rußlands, George Feiffer, berichtet über regelmäßige "Besäufnisse" von Schulkindern unter zwölf Jahren.

Eltern ohne Kontrolle

Was "Kindesmißhandlung" ist, wird von den vielen, die dieses Delikt anprangern, unterschiedlich definiert. Manche rechnen nur die körperliche Züchtigung eines Kindes dazu, andere schließen "Vernachlässigung" und "psychische Mißhandlung" in die Definition mit ein. Sicher ist, daß sowohl das eine wie das andere verheerend oft vorkommt, ohne übrigens unbedingt gerade für unsere Zeit spezifisch zu sein – in Schweden zum Beispiel wurde erst unlängst die lange als Rechtens geltende Prügelstrafe gesetzlich verboten.

Doch die Fälle echter Kindesmißhandlung, in denen ein Elternteil in einem Anfall von Jähzorn die Kontrolle über sich verliert und hemmungslos auf das Kind eindrischt, nehmen offensichtlich zu. Dabei werden Kinder oft schwer verletzt, manchmal sogar getötet. Laut Bericht des National Center on Child Abuse and Neglect von 1982 hatte es im Jahr zuvor in den Vereinigten Staaten mindestens 625.000 Fälle gegeben, in denen Eltern ein Kind so schwer mißhandelt oder so sehr vernachlässigt hatten, daß es erkennbare Anzeichen einer physischen oder psychischen Schädigung davontrug.

Das Kind bietet sich als bequemer Sündenbock und Blitzableiter für die Frustrationen, den Ärger oder die Neurosen der Erwachsenen an. Eine internationale Untersuchung, bei der innerhalb von drei Jahren Personen in fünfundzwanzig meist europäischen Ländern befragt wurden, kam 1979 zu dem Ergebnis, daß der Trend zur Gewalttätigkeit gegen Kinder weltweit wächst.

Eine der besten Untersuchungen zur Kindesmißhandlung durch Eltern stammt von Richard J. Gelles, der darüber im American Journal of Orthopsychiatry berichtete. 2143 intakte Familien, ausgewählt im Zuge einer landesweiten Zufallsstichprobe, wurden für die Studie analysiert. Die Kinder waren zwischen drei und siebzehn Jahren alt. Säuglinge und Kleinkinder, die besonders oft Opfer von Gewalttätigkeit sind, wurden in die Untersuchung ebensowenig einbezogen wie Kinder mit nur einem erziehenden Elternteil, die nach allgemeiner Ansicht überdurchschnittlich häufig mißhandelt werden.

Gelles fand "eine erstaunlich große Zahl von Kindern, die getreten, gebissen, mit der Faust geschlagen, verprügelt, mit einer Pistole oder einem Messer bedroht oder sogar tatsächlich durch einen Schuß oder Messerstich verletzt wurden". Nahezu ein Viertel der Kinder war im Laufe des vorangegangenen Jahres Opfer solcher Gewalttätigkeiten geworden. Auf die Gesamtbevölkerung übertragen, würde dies bedeuten, daß fast zwei Millionen Kinder in der Gefahr schweben, von ihren Eltern in irgendeiner Form drangsaliert zu werden.

Die Zahl der wirklich schwer mißhandelten Kinder – deren Verletzungen so gravierend sind, daß sie im Krankenhaus behandelt werden müssen – wird in den Vereinigten Staaten auf rund 40.000 im Jahr geschätzt. Mindestens 700 amerikanische Kinder sterben jedes Jahr an den Folgen elterlicher Attacken. Gelles’ Bericht enthielt eine Prognose, der zufolge die Zahl der durch elterliche Gewaltanwendung getöteten Kinder im Laufe der achtziger Jahre auf 5000 pro Jahr ansteigen könnte.

Was Säuglinge betrifft, so berichtete Graham Blaine jr. über einen Fall, der an der Klinik der Harvard University bekanntwurde. Ein Student, der an seiner Doktorarbeit saß, hütete das Baby, während seine Frau als Kellnerin arbeitete, um die Familie zu ernähren. Die Nachbarn machten sich schon manchmal Gedanken darüber, warum das Kind so oft schrie, und fragten sich, ob es vielleicht allein in der Wohnung sei. Als das Kind schließlich mit einem gebrochenen Bein in die Klinik eingeliefert wurde, erklärte der junge Vater, es habe sich mit dem Fuß in den Speichen des Bettchens verfangen. Später gestand er seiner Frau, daß er das Geschrei nicht mehr aushalten konnte und in seiner Wut mit einem Hammer auf das Beinchen des Kleinen eingedroschen habe. Ein anderes Mal habe er das Kind unter Wasser gedrückt, bis es zu schreien aufhörte. Wie Blaine schrieb, erweist sich in fast allen derartigen Fällen, daß beide Elternteile aus einer zerrütteten Familie kommen. Der Vater der Mutter des "Harvard-Babys" hatte sich eines Tages klammheimlich davongemacht, und der Vater des Doktoranden war ein Offizier, den sein Sohn als "streng und unfähig, irgendwelche Gefühle außer Wut zu zeigen", charakterisierte.

Aus anderen Untersuchungen und Berichten geht hervor, unter welchen Bedingungen es besonders häufig zu Kindesmißhandlungen kommt:

  • Wenn junge Eheleute mit einem sehr knappen Budget auskommen müssen;
  • wenn die Eltern ein unbefriedigendes Sexualleben haben;
  • wenn die Eltern der Meinung sind, die Kinder seien da, um die Bedürfnisse ihrer Erzeuger zu erfüllen, und nicht umgekehrt;
  • wenn die Eltern ein gestörtes Verhältnis zu ihren eigenen Eltern haben;
  • wenn die Eltern ihr Kind als ein kleines Ungeheuer betrachten;
  • wenn die mütterlichen Regungen der Mutter wenig ausgeprägt sind.

Am Colorado General Hospital erarbeiteten Psychologen einen Katalog von Kriterien, nach denen potentiell gewalttätige Mütter schon im Krankenhaus durch Beobachtung der Art und Weise, wie sie mit ihrem Neugeborenen umgehen, erkannt werden können. Lächelt eine Mutter ihr Baby häufig an, streichelt sie es und schaut ihm in die Augen? Oder macht sie einen deprimierten Eindruck, ist sie vielleicht enttäuscht über das Geschlecht des Kindes, äußert sie sich irgendwie negativ, fühlt sie sich durch sein Schreien gestört und zeigt keine wirklich zärtliche Zuneigung? Solche Mütter wurden als "potentielle Kindesmißhandlerinnen" eingestuft. Die Psychologen identifizierten 100 Mütter dieser Kategorie.

25 von ihnen wurden nach zwei Jahren per Zufallswahl aus diesen 100 Kandidatinnen ausgewählt und überprüft. Es stellte sich heraus, daß fünf der Kinder von diesen Müttern mit schweren, vermutlich von den Eltern verursachten Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert worden waren. Aus einer Vergleichsgruppe von Müttern, denen die Psychologen keine Kindesmißhandlung zugetraut hatten, konnte bei der Überprüfung nach zwei Jahren bei keinem der Kinder eine Verletzung festgestellt werden.

Wenn sowohl Kinder und Jugendliche als auch die Eltern so große Probleme mit ihrer "Selbst-Kontrolle" haben, dann kann man wohl annehmen, daß es der Gesellschaft nicht leichtfallen dürfte, ihre herkömmliche Aufgabe – Aufrechterhaltung eines vernünftigen Maßes an sozialer Kontrolle – weiterhin zu erfüllen.

Neun Elternqualitäten für mehr Lebensqualität der Kinder

Vor ungefähr zwanzig Jahren hatte ich das interessante, wenn auch ein wenig verrückte Erlebnis, Jurymitglied eines Wettbewerbsgremiums zu sein, das die "ideale amerikanische Familie" ermitteln sollte. In jedem Bundesstaat war eine Familie ausgewählt und für die Endausscheidung nominiert worden.

Die Bewertungskriterien waren in erster Linie von Emily Mudd von der University of Pennsylvania festgelegt worden, die seinerzeit als größte wissenschaftliche Koryphäe auf dem Gebiet der Familienkunde galt. Die fünf Jurymitglieder, darunter ich, hielten eine Menge Beratungen ab und beobachteten, wie Eltern und Kinder miteinander umgingen. (Ich war übrigens der einzige, der diese Veranstaltung nicht gut fand – ich nehme an, man hatte mich eingeladen, weil ich mich eingehend mit Fragen des Familienlebens beschäftigt hatte.) Wenn ich mich recht erinnere, war ich mit zwölf Familien jeweils eine Stunde lang zusammen. Eines der Experimente, die ich dabei veranstaltete, bestand darin, die Familie mit einer Krisensituation zu konfrontieren und zu sehen, mit wieviel Kommunikations- und Kooperationsbereitschaft sie diese bewältigten.

In den zwei Jahrzehnten seit diesem merkwürdigen Wettbewerb haben die Entwicklungspsychologen und andere Fachleute unser Wissen darüber, wie die Entwicklung von Kindern gezielt unterstützt und gefördert werden kann, beträchtlich erweitert. Die gewonnenen Erkenntnisse kommen naturgemäß vor allem Eltern zugute, doch können sie auch allen anderen, die viel mit Kindern zu tun haben, von Nutzen sein. Während der Arbeit an diesem Buch befaßte ich mich notwendigerweise mit zahlreichen einschlägigen Forschungsergebnissen, und dabei haben sich für mich bestimmte elterliche Qualitäten herauskristallisiert, die mir von besonderer Bedeutung zu sein scheinen.
Ich muß betonen, daß ich kein Anhänger von Patentrezepten für Kindererziehung bin. Die Gefühle, mit denen Eltern an ihre Aufgabe herangehen – ihre Freude am Elternsein, ihre Geduld und ihre Achtung vor der Persönlichkeit des Kindes –, erscheinen mir wichtiger als die Befolgung bestimmter Verhaltensregeln (oder auch als die Frage, welchen Wert auf der Permissivitätsskala ein Elternpaar erreicht). Jerome Kagan von der Harvard University hat gesagt, es komme nicht darauf an, wie oft man sein Kind küßt oder wann man es füttert, sondern auf die "Melodie, die in diesen Handlungen erklingt" – und zur "Melodie" gehören für ihn Eigenschaften wie Beständigkeit, Abwechslungsreichtum und Regelmäßigkeit.

Zweifellos gibt es nicht das Idealkind, das von der Familie wie mit einem Schnitzmesser modelliert werden kann. Die Prozesse der Persönlichkeitsbildung sind höchst komplexer Natur. Viele große Persönlichkeiten kamen aus einem Elternhaus, das an sich keine besonders günstigen Bedingungen für ihre Entwicklung bot. Bedeutende Schauspieler stammen oft aus chaotischen Familien, und eine Menge berühmter Leute sind unter schlimmen und bedrückenden Verhältnissen aufgewachsen. Die These des Historikers Arnold Toynbee, daß Zivilisationen ihr Entstehen vor allem dem Druck, der Herausforderung ungünstiger Bedingungen verdanken, läßt sich durchaus auf Individuen, die Großes leisten, übertragen. Wahrscheinlich gibt es auch geborene Genies. Jeder weiß, daß Albert Einstein seinen Eltern ein Rätsel und manchmal vielleicht auch ein Ärgernis war. Er schien in seiner Entwicklung hinter den Altersgenossen herzuhinken, war ein schlechter Schüler, neurotisch und hatte in seiner Kindheit und Jugend so gut wie keine Freunde. Offensichtlich richtete er sich ganz nach seinem eigenen inneren Rhythmus.

Victor & Mildred Goertzel fanden bei der Analyse der Bedingungen für die Entwicklung großer Persönlichkeiten einige gemeinsame Nenner:
In fast allen Familien zeichneten sich ein Elternteil oder beide Eltern durch große Gelehrsamkeit aus, die sich oft mit physischer Stärke und Ausstrahlung sowie mit Hartnäckigkeit im Verfolgen von Zielen verband.

Ich selbst hatte im Rahmen einer – schon vor Erscheinen des Goertzel-Buches entstandenen – Studie über die charakteristischen Eigenschaften von Leuten, die hohe Führungspositionen in der Wirtschaft einnahmen, herausgefunden, daß die "Fähigkeit zur unablässigen und energischen Verfolgung von Zielen" ihr hervorstechendster Zug war. Diese Eigenschaft wurzelt keineswegs immer in einem außergewöhnlichen Energiepotential; man findet sie oft auch bei körperlich eher schwachen Menschen.

Die Persönlichkeitsentwicklung vollzieht sich häufig in Schüben und nicht als linearer Prozeß. Die Dynamik lebendiger Wachstumsprozesse ist stets für Überraschungen gut, und auch äußere Einflüsse und Ereignisse können den individuellen Lebensverlauf beeinflussen. Aus erfolgreichen Jugendlichen werden nicht unbedingt erfolgreiche Erwachsene. Daß es in dieser Beziehung sehr viele und ausgeprägte Verschiebungen geben kann, zeigten die Ergebnisse einer an der University of California in Berkeley durchgeführten Langzeitstudie, in deren Rahmen die Entwicklung von Kindern bis ins Erwachsenenalter verfolgt wurde.

Einige Jungen, die als rebellisch gegolten hatten, wurden später zu sozial integrierten, leistungsfähigen und/oder kreativen Persönlichkeiten, die feste Wertvorstellungen besaßen und mit sich selbst im reinen waren. Hübsche Kinder, die in einer offensichtlich spannungsfreien Atmosphäre aufgewachsen und in der Schule als Schönheitsköniginnen oder Sportskanonen umschwärmt und bewundert worden waren, boten als Dreißigjährige nicht selten das Bild "wenig belastbarer, unzufriedener und unsicherer" Persönlichkeiten.

Die meisten von uns versuchen nicht, zukünftige Wirtschaftsbosse oder Filmstars heranzuziehen. Als Eltern erhoffen wir uns Sprößlinge, die eine erfreuliche Mischung aus den positiven Zügen beider Eltern, möglichst ergänzt durch einige zusätzliche Qualitäten, darstellen. Wir wünschen uns Kinder, auf die wir stolz sein können, wir wünschen, daß sie ihr Leben meistern werden, wir wünschen, daß sie von liebenswertem Naturell sind und lachen und weinen können.

Was den Wunsch nach bestimmten Eigenschaften bei den eigenen Kindern betrifft, so berichtete die Zeitschrift Parents 1980, daß im Zuge einer von ihr veranstalteten Umfrage die Leser übereinstimmend "Intelligenz" als die erstrebenswerteste Eigenschaft, bei Jungen wie bei Mädchen, bezeichneten. An zweiter Stelle stand die Hoffnung auf "Persönlichkeit", vor allem bei Mädchen. An dritter Stelle wurde "Kreativität und Phantasie" genannt. "Schönheit" nahm bei Mädchen den vierten Rang ein, bei Jungen den sechsten (bei ihnen wurden technisches Geschick und sportliche Fähigkeiten höher bewertet). Die Eltern wünschten sich ehrgeizige Kinder, aber keine sturen Streber, und legten großen Wert auf Kooperationsfähigkeit.

Dies alles sind vernünftige und sinnvolle Wünsche, und Eltern, die sich darauf verstehen, die Entwicklung ihrer Kinder zu fördern, können viel zu ihrer Verwirklichung beitragen.

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