Auszüge aus Friedhelm Hengsbach's
"Das Reformspektakel"

Warum der menschliche Faktor mehr Respekt verdient

Ein Buch, das in die Zeit paßt: das die Resignation, die Ohnmacht und die Gleichgültigkeit der Menschen angesichts der aussichtslos scheinenden Wirtschaftslage ernst nimmt. Ökonomie ist wichtig, aber sie ist nicht alles. Hengsbach hinterfragt aus dem Wissen um größere Zusammenhänge die Mechanismen der Wirtschaft, die als unangreifbar gelten. Marktregeln sind von Menschen gemacht und nach gesellschaftlichen Maßstäben zu beurteilen. Die Agenda-Beschlüsse, die ausschließlich den Arbeitsmarkt und die solidarischen Sicherungssysteme treffen, nennt Hengsbach bedrohlich für den sozialen Zusammenhalt. Wenn das Geld knapp wird und nicht mehr großzügig ausgegeben werden kann, stellt sich die Frage nach den Kriterien der Verteilung. Hengsbach spricht für diejenigen, die spüren, daß Sparen, Kürzen und Streichen bei den Arbeitslosen und Kranken nicht automatisch die Staatskasse füllt und Arbeitsplätze schafft. Daß es auch um die Verantwortung derjenigen geht, die in der Wirtschaft das Sagen haben. Die Angewohnheit, Risiken zu sozialisieren und Gewinne zu individualisieren, führt eine Gesellschaft ins Abseits. Hengsbach erkundigt sich, welche Veränderungen in den Herzen und Köpfen der Menschen vorgehen – und wie der Mensch aussieht, der sich auf dem Markt behauptet und moralisch verantwortlich handelt. Die Spurensuche führt ins Dickicht der Finanzmärkte. Aber sie deckt auch ungeahnte Chancen auf den Gütermärkten auf, die eine höhere Lebensqualität und zusätzliche Arbeit versprechen.

zurück zur Seite über Marktwirtschaft

Die mißratene Agenda

Am 14. März 2003 hat Bundeskanzler Schröder im Deutschen Bundestag die mit Spannung erwartete "Aufbruch-Rede" zur Agenda 2010 gehalten. Die politische Öffentlichkeit im Lande war aufgerüttelt. "Deutschland bewegt sich, ist reformfähig und reformbereit. Es hat die rote Laterne im europäischen Geleitzug endlich abgegeben", so eine Medienstimme aus dem Ausland, wo man tief beeindruckt schien. Im März 2004 verbreitet der Bundeskanzler die gute Nachricht, daß die Agenda bereits Erfolge zeige. Die Deutschen seien fähig und willens, hart zu arbeiten und Opfer zu bringen. Die Stagnation der vergangenen Jahre sei überwunden, die Investitionstätigkeit ziehe an, die Auftragseingänge und die Produktion wiesen nach oben. Aber die Resonanz in der Bevölkerung bleibt zwiespältig. Sozialdemokratische Wähler sind empört, Vertreter der Wirtschaft äußern sich zufrieden, die meisten Bürger sind ernüchtert. Die allgemein depressive Stimmung ist nicht verflogen, sondern hat sich verfestigt.

Was ist schief gelaufen?

Das Verfahren

"Reform" bedeutet immer auch Veränderung. Aber sollten sich die Verhältnisse nur verändern und nicht auch verbessern? Soll die bloße Veränderung bereits das Etikett einer Reform erhalten, noch bevor diese sich als eine Verbesserung der Lebensverhältnisse herausgestellt hat? Falls sich die Lebenslage benachteiligter Bevölkerungsteile verschlechtert, werden diese die Behauptung von sich weisen, es handle sich um eine Reform. Hat sich aber ihre Lebenslage spürbar verbessert? War die Agenda 2010 für sie vorteilhaft? Hat sie ihnen genutzt? In ihren Augen war die Agenda keine Reform.

Die Agenda war ein Reformspektakel. Die dreistufige Steuerreform sollte das größte Reformvorhaben des Jahrhunderts werden. Die Eckpunkte der Konsensverhandlungen zur Modernisierung des Gesundheitswesens erklärte Horst Seehofer zum größten Reformwerk in der jüngeren Sozialgeschichte. Die so genannten Hartz-Gesetze, insbesondere die Reform der Bundesanstalt für Arbeit und die Zusammenlegung der Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe stilisierte der Bundeskanzler als die "wichtigste, fundamentalste und komplexeste Sozialreform in der Geschichte der Bundesrepublik". Nach kurzer Zeit jedoch landeten diese politischen Zauberwerke als hektische sozialpolitische Reparaturarbeit auf einem privat-öffentlichen Verschiebebahnhof, wo die Finanzierungslücken der Bundes-, Länder- und Gemeindehaushalte jeweils der nächsten, schwächeren Ebene zugeschoben wurden.

Auffallend war zunächst die Zerlegung der Krisendiagnose in getrennte Bestandteile der Alterssicherung, des Arbeitsmarkts und der Gesundheitsvorsorge. Diese wurden dann unterschiedlichen Kommissionen zugewiesen. Probleme, die verknüpft waren, wurden von den unterschiedlichen beratenden Kommissionen getrennt behandelt. Unter der Regierung Kohl war dieser Stil einer "Räterepublik" bereits eingeführt worden. Während der rot-grünen Koalition weitete er sich aus. So berief die Bundesregierung beispielsweise Kommissionen zur Reform des Arbeitsmarkts (Hartz), zur nachhaltigen Reform der sozialen Sicherungssysteme (Rürup) und zur Reform der Gemeindefinanzen. Sie richtete den nationalen Ethikrat zur Bio- und Gentechnik ein und ließ von Experten parteiübergreifende Eckpunkte zur Gesundheitsreform ausarbeiten. Solche Kommissionen gehören zur medienwirksamen Inszenierung eines vorweg entschiedenen politischen Willens, den die Exekutive am Parlament vorbei in Kraft setzt.

Die Agenda war in erster Linie eine Tat des Kanzlers. Sie war vom Hauptstrom der Medien vorbereitet. Diese hatten nämlich die Länderkompetenz, die Gewaltenteilung sowie die starke Position der Wirtschafts- und Sozialverbände dafür verantwortlich gemacht, daß Deutschland unregierbar sei. Nur eine starke Exekutive könne den schwerfälligen Zustand des Landes aufheben, hieß es.

Ein auffälliges Kennzeichen der Agenda 2010 waren das Tempo der gesetzgebenden Beratung sowie der Druck, den das Kanzleramt auf die Fraktionen der parlamentarischen Mehrheit und die Regierungsparteien ausübte. Die Opposition paßte sich dem Sog an und konkurrierte mit den Regierungsparteien um tiefere soziale Einschnitte, schärfere Zumutbarkeiten und abgesenkten Kündigungsschutz. Erschöpft vom Überbietungswettbewerb überformten schließlich Parteivorsitzende, Ministerpräsidenten und ein Fraktionsvorsitzender den Kompromiß zwischen Bundestag und Bundesrat. Das Ringen im Vermittlungsausschuß habe weder Gewinner noch Verlierer hinterlassen, erklärten die Beteiligten. Das Land habe gewonnen. Doch wer ist das Land? Die politischen Entscheidungsträger hatten sich zu einer informellen großen Koalition verbündet. Sie entriß Arbeitslosen, Armen, Kranken und Rentnern spürbar einen Teil des gesellschaftlichen Reichtums, ohne selbst jemals mit den erheblichen Risiken derer konfrontiert zu sein, in deren Lebenslage sie massiv eingegriffen haben.

Das Menschenbild

Der Mensch, den die Agenda 2010 im Blick hat, gleicht einem Zerrbild real existierender Menschen. Es sind nationale und europäische Athleten. Die Deutschen sollen sich als Teilnehmer eines globalen Wettkampfs empfinden, der sie antreibt, wieder an die Spitze der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in Europa zu kommen. Und Europa selbst soll eine Spitzenposition in der Welt erringen und behaupten.

Die Adressaten der Agenda sollen sich wie souveräne Wirtschaftssubjekte verhalten. Sie sind also in der Lage, sich den Spiel- und insbesondere Wettbewerbsregeln des Marktes zu unterwerfen, ihr Leistungsvermögen nüchtern zu beurteilen, die Marktrisiken realistisch abzuschätzen, Leistungen anzubieten und angemessene Gegenleistungen dafür zu erhalten. Sie können erwarten, daß sie durch die Überlassung ihrer Arbeitskraft ein Arbeitseinkommen erzielen, das zusammen mit dem zusätzlichen Einkommen einer Lebens- oder Ehepartnerin die gemeinsamen Ansprüche der Haushaltsmitglieder an Nahrung, Kleidung, Wohnung sowie die Erwartungen eines durchschnittlichen Lebensstandards befriedigt. Falls sie genötigt sind, Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen, sind sie bereit, dem aktivierenden Sozialstaat quasi auf gleicher Augenhöhe zu begegnen und mit ihm ein Bündel gleichwertiger Leistungen und Gegenleistungen – nach dem Grundsatz: Keine Hilfe ohne Gegenleistung – auszuhandeln. Daß sie ungleiche Verträge abschließen, stört sie nicht.

Die Agenda-Menschen sind ursprünglich leistungsfähig und leistungsbereit. Sie verfügen über Kompetenzen, die durch ökonomische Anreize und öffentlichen Druck mobilisiert werden können. Sollten diese verstärkt werden, stellen sich die meisten dem gesellschaftlich organisierten Arbeitsmarkt zur Verfügung, falls sich die Arbeit lohnt und das Arbeitsentgelt ihnen vorwiegend privat verfügbar bleibt. Die derzeit geltenden Steuern und Abgaben empfinden sie als unzulässige Eingriffe des Staates in die individuellen Eigentumsrechte.

Die Agenda rechnet mit gesellschaftlich entkoppelten Menschen. Deren Individualisierung wird als Chance gedeutet. Daß ihr eine Individualisierung gesellschaftlicher Risiken korrespondiert, wird verschwiegen. Die Individuen gelten als hochgradig flexibel und mobil. Sie verknüpfen ihre Biographien und Rollen zu einem variablen Identitätsbündel. Die Agenda nutzt die individuellen Bedürfnisse betrieblicher, beruflicher und zeitlicher Flexibilität sowie räumlicher Mobilität, um verkrustete Regeln des Arbeitsmarkts zugunsten der Freiheit des Individuums zu verändern. Sie unterscheidet nicht zwischen authentischen Flexibilitäts- und Mobilitätsbedürfnissen souveräner Individuen und der erzwungenen Flexibilität und Mobilität abhängig Beschäftigter. Den flexiblen und mobilen Agenda-Menschen, denen eine Erwerbsgelegenheit angeboten wird, ist zuzumuten, daß sie die Rücksichtnahme auf familiäre, partnerschaftliche oder regionale Bindungen sowie alle Emotionen abstreifen, die ihre Karriere behindern.

Die Agenda-Menschen sind selbstorganisiert. Sie reagieren schnell und treffsicher auf situative Veränderungen, erkennen ihren Vorteil und ergreifen ihn. Ihnen werden die Fähigkeit und die Neigung zur Risikoübernahme zugeschrieben. Sie sind bereit, die abgesenkten solidarischen Leistungen durch private Vorsorgeleistungen zu ergänzen und das Gewicht von solidarischer und privater Vorsorge zugunsten von Eigenleistungen zu verschieben. Der wohlhabende und vermögende Teil der Bevölkerung akzeptiert solche Zumutungen. Auch die Akzeptanz, mit der Patienten die erhöhten Zuzahlungen geleistet haben und mit der Versicherung ertragen haben, daß notwendige Therapien dem Leistungskatalog der gesetzlichen Versicherung ausgegrenzt wurden, bestätigt die Vermutung, daß Teile der Bevölkerung fähig und geneigt sind, gesellschaftliche Risiken zu individualisieren, die Risikoabsicherung zu privatisieren und auf die solidarische Absicherung individuell nicht zurechenbarer Risiken zu verzichten. Aber längst nicht alle, deren Neigung zur privaten Risikoübernahme unterstellt wird, sind dazu in der Lage.

Eine Gruppe der Bevölkerung weicht jedenfalls von diesen Unterstellungen ab: diejenigen, die von den Erfolgreichen schon mal als Trittbrettfahrer und Schmarotzer unter den Arbeitslosen und Empfängern von Sozialhilfe abgestempelt werden, die sich angeblich in der sozialen Hängematte ausruhen und sich weigern, eine zumutbare Arbeit anzunehmen. Über die Zahl derer, die vermeintlich die Solidargemeinschaft zum eigenen Vorteil erpressen, herrschen abenteuerliche Vorstellungen. Inzwischen ist die Bevölkerung mehrheitlich davon überzeugt, daß Arbeitslosigkeit und Sozialhilfebezug auf persönliches Versagen und nicht auf politische Fehlleistungen zurückgeht.

Das Ergebnis

Die dreistufige Steuerreform hat formal die Einkommen aller steuerfähigen Haushalte und Unternehmen erheblich entlastet. Wie stark die reale Nettoentlastung der Haushalte und Unternehmen ausfällt, wird sich erst nach der Gegenrechnung mit neuen Belastungen etwa der Kilometerpauschale, der Erhöhung von Verbrauchsteuern und kommunalen Gebühren, der Nötigung zur privaten Altersvorsorge, der Zuzahlungen zu den Medikamenten, der Praxisgebühren, der Kürzungen des Rentenniveaus und der Absenkung des Arbeitslosengelds herausstellen. Die Besteuerung der Einkommen nach der Leistungsfähigkeit im Bereich des gehobenen Wohlstands und des exklusiven Reichtums ist praktisch aufgegeben worden, während die Forderung nach einer angemessenen Besteuerung zumindest des Privatvermögens einem Tabu zu unterliegen scheint. Die steuerpolitische Umverteilung erfolgt auch nach der angeblichen Jahrhundertreform nicht von den Reichen zu denen, die im prekären Wohlstand leben, sondern weiterhin innerhalb der Klasse der abhängig Beschäftigten.

Die Rentenbeschlüsse der Agenda 2010 schließen nahtlos an die Eingriffe in das gesetzliche Rentensystem während der vorigen Legislaturperiode an. Was unter Bundeskanzler Kohl als sozialer Kahlschlag gebrandmarkt wurde, gilt inzwischen als Reformprojekt. Die modifizierte Nettolohnanpassung der Renten hatte bezweckt, daß die Rentenanpassungen niedriger ausfallen und das Rentenniveau 2030 unter Ausschaltung statistischer Tricks 63 bis 64 Prozent des durchschnittlichen Netto-Arbeitsentgelts eines Erwerbstätigen erreicht, der 45 Jahre ununterbrochen gearbeitet hat. Mit den Leistungskürzungen der gesetzlichen Rentenversicherung war die Aufforderung verbunden, die Versorgungslücken durch eine private Vorsorge auszugleichen. Den Erwerbstätigen in unbefristeten Arbeitsverhältnissen mit einem die Existenz sichernden Einkommen erwachsen wohl keine großen Probleme. Wohlhabende Haushalte werden sie leicht bewältigen. Aber diejenigen, deren Sparfähigkeit begrenzt ist, geraten unter Druck. Obwohl die freiwillige Altersvorsorge durch staatliche Zuschüsse gefördert wird, ist sie bisher gescheitert. Dies beweist weniger den mangelnden Willen der Haushalte mit niedrigem Einkommen als vielmehr deren mangelnde Möglichkeiten zu sparen. Daß geschlechtsbedingte Risiken der individuellen Absicherung zugewiesen werden, widerspricht dem Gleichstellungsgebot. Inzwischen sind die Versicherungen wohl bereit, für den privaten Anteil der Riester-Rente Unisex-Tarife anzubieten. Die hohe Erwartung, die sich auf die zweite Säule der Altersvorsorge, die Betriebsrenten bzw. die Tarifrenten richtet, gilt eher für privilegiert Erwerbstätige und ist auch von den Entwicklungen auf den internationalen Finanzmärkten abhängig. Zur Stabilisierung des Rentensystems wurde im Kontext der Agenda ein im Bundesrat nicht zustimmungspflichtiges Notprogramm beschlossen: Die Beitragsbemessungsgrenze wird angehoben, die Rentenanpassung um ein Jahr ausgesetzt. Neurentner erhalten die Rente am Monatsende ausgezahlt. Der Beitrag der Rentner zur Pflegeversicherung verdoppelt sich. Die Schwankungsreserve der Rentenversicherung schrumpft auf einen Monat. Ein Nachhaltigkeitsfaktor berücksichtigt das jeweils geänderte Verhältnis von Beitragszahlenden und Rentnern. Er reagiert bloß auf die verfestigte Massenarbeitslosigkeit und setzt keine Impulse, diese abzubauen.

Das Versprechen der Hartz-Kommission, die Zahl der Arbeitslosen in drei Jahren zu halbieren, nachdem zwei Bundeskanzler mit einer ähnlichen Zusage gescheitert sind, war Bestandteil des Bundestagswahlkampfs 2002. Inzwischen liegen die vier "Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" vor. Ob die Leiharbeitsagenturen erfolgreich waren, nachdem sie bisher bloß ein Zehntel der Arbeitslosen, mit denen sie gerechnet hatten, aufnehmen und bloß ein Hundertstel vermitteln konnten (Hartz I), darf bezweifelt werden.

Eine vergleichbare Skepsis ist gegenüber der errechneten Zahl von mehr als 7 Mio. Mini-Jobs angebracht. Wahrscheinlich schmilzt sie auf zusätzlich 100.000 echte, nicht umgewandelte geringfügige Beschäftigungsverhältnisse zusammen. Die Statistik der Ich-AGs belegt einzig die Höhe der mitgenommenen Fördergelder, für die lediglich eine fantasiereiche Geschäftsidee ohne einen überprüfbaren Geschäftsplan verlangt wurde (Hartz II). Daß die Bundesagentur für Arbeit nach dem rigorosen Umbau einen zusätzlichen Personalbedarf von bis zu 30.000 Fachkräften und zusätzliche Finanzmittel beanspruchen wird, um die ihr zugewiesene Aufgabe eines erfolgreichen Forderns und Förderns zu erfüllen, ist jetzt schon absehbar. Unter dem Vorwand, Bürokratie abzubauen, wird zusätzliche Bürokratie installiert (Hartz III). Die organisatorische Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe ist zu begrüßen. Aber sie ist ein sozialpolitisches Desaster geworden, seitdem sie verbunden wurde mit bisher beispiellosen Einschnitten in die Lebenslage von Arbeitssuchenden, nämlich einer heftigen Kürzung der Höhe und Bezugsdauer des Arbeitslosengelds sowie einer drastischen Verschärfung der Regeln für Langzeitarbeitslose, jede zumutbare Arbeit aufzunehmen. Die Regierung versichert zu Recht, daß ein abrupter Absturz für niemanden zu fürchten sei. Aber die Wahrscheinlichkeit, daß durch den angekündigten Druck und die diktierte Gängelung die Einkommensarmut, Wohnungsarmut, Familienarmut und vor allem Kinderarmut deutlich ansteigen, ist sehr hoch. Dazu kommt, daß die Bundesagentur weder technisch noch personell in der Lage ist, die Qualität der Vermittlung von Langzeitarbeitslosen kurzfristig zu verbessern und deren Einstieg in den regulären Arbeitsmarkt zu fördern. Sie produziert eine bisher unbekannte Fragebogen- und Datenschwemme mit vagen Drohungen, die für manche Betroffene teilweise verletzend und entwürdigend klingen. Der pünktliche Start einer funktionsfähigen Kooperation der regionalen Agenturen mit den Kommunen gleicht einem vergeblichen Wettrennen gegen die Zeit. Nicht ausgeräumte Rechtszweifel Betroffener werden die Sozialgerichte mit Klagen beschäftigen. Die unter dem Druck massiver Proteste zugestandenen finanz- und arbeitsmarktpolitischen Nachbesserungen haben zwei fragwürdige Effekte: Sie reißen zusätzliche Haushaltslöcher auf und öffnen mit den Ein-Euro-Jobs bloß eine Drehtür, die vom regulären in einen neuen öffentlich geförderten Arbeitsmarkt weist. Daß zu Beginn des Jahres 2005 die Zahl der Arbeitslosen real ansteigt, gilt als sicher (Hartz IV).

In der Absicht, das System zu modernisieren, wird in der Agenda ein ehrgeiziger Umbau der Steuerung und der Schaltstellen des Gesundheitswesens angekündigt. Die Wahlfreiheit der Patienten wird erweitert. Bonusprogramme sollen zu einem gesundheitsbewußten Verhalten anregen. Die Ärzte sollen nach festen Regelsätzen entgolten, die Verordnungspraxis überprüft und fein gesteuert werden. Medizinische Versorgungszentren können entstehen. Ein Bundesinstitut wird medizinische Standards aufarbeiten und strukturierte Behandlungsprogramme empfehlen. Um die Standortqualität der deutschen Wirtschaft zu verbessern und die Beitragsbelastung der Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu senken, werden Versicherte und Patienten zusätzlich belastet. Einzelne Gesundheitsleistungen, etwa das Krankengeld und der Zahnersatz, werden ziemlich willkürlich ausgegrenzt. Die Kranken selbst werden zur Kasse gebeten, um einen höheren Anteil an den Kosten ihres Krankseins zu zahlen. Sie zahlen die Praxisgebühren sowie Arzneimittel, die nicht verschreibungspflichtig sind. Sie beteiligen sich an den Kosten der verschreibungspflichtigen Arzneimittel sowie der Heil- und Hilfsmittel. Den Arbeitnehmern greift man in die Lohntüte – und zwar an den Tarifpartnern vorbei. Während Versicherte, Kranke und die unteren Einkommensgruppen einseitig belastet werden, bleiben die Leistungsanbieter, nämlich Ärzte, Apotheker und vor allem die Pharmakonzerne relativ unbehelligt.

Die Verlierer

Die Agenda hat eindeutige Verlierer hervorgebracht: zunächst diejenigen, denen der Kündigungsschutz geschmälert wird und die durch Arbeitsangebote, die bisher als unzumutbar galten, von gesicherten Arbeitsplätzen zu riskanten Arbeitsverhältnissen, etwa Mini-Jobs und Ich-AGs gedrängt werden, die arm machen. Noch schwerer wiegt die Entwertung des vorhandenen Arbeitsvermögens. Sie demotiviert, verunsichert und weitet sich zu einer depressiven Zukunftserwartung aus. Die Einschnitte in die Lebenslage der Arbeitslosen mit den negativen Auswirkungen auf das individuelle und kollektive Arbeitsrecht belasten die Opfer der Krise zusätzlich sozial und psychologisch, da sie als erwerbsfähige Arbeitsverweigerer gelten.

Die Rentnerinnen und Rentner sind zu einem Einkommensverzicht genötigt worden, ohne daß dies bei den Beitragszahlenden zu einer höheren Konsumneigung geführt hätte oder mehr Wirtschaftswachstum ausgelöst hätte. Künstlich ist ein Konflikt zwischen Alten und Jungen konstruiert worden.

Der Konflikt um die Verteilung eines wachsenden Volkseinkommens innerhalb derselben Generation – zwischen denen, die Beiträge entrichten, die Steuern zahlen, und die Rentenzahlungen empfangen – unabhängig davon, ob sie alt oder jung sind, wird darüber vergessen. Die politische Offensive gegen die Rentner unterstellte eine Umschichtung des gesellschaftlichen Reichtums zu Lasten der Alten und zu Gunsten der Jungen. Würden die politisch Verantwortlichen den Jungen Arbeitsgelegenheiten bieten um den gesellschaftlichen Reichtum zu erhöhen, könnten alle – Beitragszahlende, Steuerzahlende und Rentner – über ein höheres Einkommen verfügen.

Die Agenda 2010 bewirkt eine Deformation der Solidarität. Zuerst werden gesellschaftliche Risiken individualisiert. Strukturbrüche werden so dargestellt, als seien sie durch persönliches Fehlverhalten verursacht. Mangelnder Arbeitswille, geringe Qualifikation, Geschlechtszugehörigkeit, ein leichtsinniger Charakter oder ein riskanter Lebensstil sind angeblich für das Eintreten gesellschaftlicher Risiken wie Arbeitslosigkeit, Krankheit und Altersarmut verantwortlich. Ein solches Deutungsmuster liefert dann den Vorwand dafür, die Bewältigung der Risiken der eigenen Initiative zu überlassen. Zwar reichen für den wohlhabenden Teil der Bevölkerung die Einkommen und Vermögen aus, um sich gegen die Lebensrisiken privat und kapitalgedeckt abzusichern, nicht jedoch für diejenigen, die bisher auf die solidarische, umlagefinanzierte Sicherung angewiesen waren. Und schließlich werden Grundrechtsansprüche in marktförmige Tauschverhältnisse überführt, indem die Benachteiligten zu Partnern des Sozialstaats hochstilisiert werden, die miteinander Vereinbarungen auf gleicher Augenhöhe treffen. Mit dieser Individualisierung und Privatisierung gesellschaftlicher Risiken ist eine weitere Polarisierung der Gesellschaft verbunden. Sie verstärkt jenen Trend, den die Bundesregierung in ihrem Armuts- und Reichtumsbericht dokumentiert hat: eine wachsende gesellschaftliche Spaltung zwischen Arbeitslosen und Erwerbstätigen, Armen und Reichen, Ost- und Westdeutschen, Frauen und Männern sowie Haushalten ohne und mit Kindern.

Der Mißerfolg

Als Ziel der Agenda wird genannt, die Wachstumsschwäche des Binnenmarkts zu überwinden und die verfestigte Massenarbeitslosigkeit abzubauen. Diesem Ziel werden am ehesten die zusätzlichen Staatsausgaben für Forschung, Entwicklung und Bildung sowie die für die kommenden Jahre zugesagten Investitionen in Ganztagsschulen dienen. Die in Kraft gesetzten zwei letzten Stufen der Steuerreform eröffnen zwar ein beachtliches Potenzial privater Kaufkraft. Aber solange die allgemein depressive Stimmung der Bevölkerung anhält, die von unten nach oben schleicht, wird sich die inländische Konsumnachfrage nicht beleben und keine tragfähige wirtschaftliche Dynamik auslösen.
Leider folgen die Diagnosen, auf denen die Agenda basiert, überwiegend dem angebotsorientierten, monetaristischen Deutungsmuster. Zwar flackern vereinzelt Argumente auf, die eine Verletzung der Maastricht-Kriterien sowie eine unvorhergesehene Netto-Neuverschuldung rechtfertigen und gestatten, den Kreditspielraum der Kommunen zu erweitern. Paradox wirken die mehrmals erzwungenen Nachbesserungen der Agenda: Sie erhöhen die öffentlichen Haushaltsdefizite und stabilisieren damit zum Glück, wenngleich auch ungewollt und unzulänglich die Binnennachfrage. Vereinzelt werden staatliche und private Investitionen als Impulse stetigen Wachstums genannt, um die konjunkturelle Krise zu überwinden. Auch die spekulative Blase auf den Finanzmärkten, die Ende der 90er Jahre platzte und einen Kursverfall sowie die Vernichtung von 700 Mrd. Euro innerhalb dreier Jahren auslöste, kommt zur Sprache. Bestimmend bleiben jedoch jene Megatrends, denen die politischen Akteure sich ohnmächtig ausgeliefert sehen – etwa die Stürme der Globalisierung, die demographische Schere, der öffentliche Sparzwang, der Generationenkonflikt und vor allem die verkrusteten Strukturen auf dem Arbeitsmarkt, die überhöhten Steuern, Löhne und Lohnnebenkosten sowie der aufgeblähte Sozialstaat, dem mit tiefen Einschnitten in die sozialen Leistungen beizukommen ist.

Die Agenda beruht auf der Fehldiagnose, den Sozialstaat ausschließlich als Kostenfaktor und Wachstumsbremse, nicht jedoch als wichtigen Produktivitätsfaktor zu erkennen, der die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen gewährleistet sowie zur wirtschaftlichen Stabilität und zum gesellschaftlichen Zusammenhalt beiträgt. Daher kann sie auch keine nennenswerte wachstums- und beschäftigungspolitische Wirkung erzielen. Ihre Autoren erklären den Arbeitsmarkt zum Schlüssel im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit, obwohl er ein abgeleiteter Markt ist und sich belebt, sobald eine anhaltende und dynamische Nachfrage die Gütermärkte erfaßt hat. Folglich bleiben die erwarteten Beschäftigungseffekte aus. Die Disziplinierung der Arbeitslosen schafft keine zusätzlichen Arbeitsplätze in Millionenhöhe, der gelockerte Kündigungsschutz erzeugt ebensowenig wie die geänderten Ladenöffnungszeiten ein Beschäftigungswunder. Die Selbstbeteiligung der Patienten hebt die Steuerungsdefizite des Gesundheitssystems nicht auf. Das riskante Angebot zusätzlicher kommunaler Verschuldung ist kein Ersatz für die dringend notwendige Gemeindefinanzreform.

Unwirksam bleibt die Agenda auch deshalb, weil zahlreiche Widersprüche, fortwährende Korrekturen und hektische Nachbesserungen der mit heißer Nadel formulierten Gesetze den Vertrauensvorschuß der Bevölkerung in das handwerkliche Können der Regierung aufgebraucht haben. Indem das Arbeitslosengeld gleitend abgesenkt wird, soll mehr Druck auf Arbeitslose ausgeübt und die Vermittlung beschleunigt werden.

Aber um vieles höher ist das Volumen der Finanzmittel, mit deren Hilfe die Unternehmern angeregt werden sollten, zusätzlich Arbeitslose einzustellen. Die Rentenreformer hatten vorgeschlagen, das gesetzliche Renteneintrittsalter zu erhöhen. Aber gegenwärtig sind nur 40 Prozent der Unternehmen bereit, Erwerbspersonen, die älter als 50 Jahre sind, zu beschäftigen. Gleichzeitig schließen Regierung und Arbeitgeberverbände einen Ausbildungspakt, der Jugendlichen zusätzliche Ausbildungsplätze verspricht, ohne zu gewährleisten, daß das Versprechen eingelöst werden kann.

Der Erfolg der Agenda wurde auch dadurch beeinträchtigt, daß die orientierende Perspektive der tief greifenden Veränderungen am äußersten Rand des Arbeitsmarkts nicht sichtbar gemacht werden konnte. Man verlangte vor allem ein beschleunigtes Tempo der Veränderungen. Die Frage nach dem Grund radikaler Veränderungen wurde mit veränderten ökonomischen Bedingungen und veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen beantwortet. Der Veränderungswille erschöpfte sich weithin in einer Anpassung an weniger komfortable Lebenslagen. Diese seien durch ökonomische, biologische und technologische Megatrends erzwungen, behaupten die Verteidiger der Agenda. Sie beschreiben damit einen Zirkel der Anpassung an Angepaßtes. Warum ein Anpassungszwang gemeinsamer Überzeugungen an ökonomische und gesellschaftliche Veränderungen besteht, die aus politischen Entscheidungen hervorgegangen und keine Naturereignisse sind, erklären sie jedoch nicht.

Der dreißigjährige Feldzug gegen den Sozialstaat

Die rot-grüne Koalition hat sich von den marktradikal wirtschaftliberalen Bekenntnissen faszinieren lassen, die seit Mitte der 1970er Jahre unter den wissenschaftlichen Eliten, den Wirtschaftsjournalisten und den unternehmerischen Führungskräften zunächst in den angelsächsisch orientierten Ländern Europas, dann in den süd- und westeuropäischen Ländern und schließlich in den osteuropäischen Transformationsländern verbreitet waren. Mit der Agenda 2010 hat sie diese übernommen.

Die marktradikal wirtschaftsliberalen Überzeugungen wurden in Deutschland 1982 mit dem Sturz der Regierung Schmidt und der Wahl Helmut Kohls zum Bundeskanzler politisch mehrheitsfähig. Zu den unmittelbaren Auslösern des Regierungswechsels, der als wirtschafts- und kulturpolitische Wende stilisiert worden ist, gehört das sogenannte Lambsdorff-Papier. Als dessen Mitverfasser gilt Hans Tietmeyer, der damalige Leiter der Grundsatzabteilung im Wirtschaftsministerium. Helmut Schmidt reagierte auf die Veröffentlichung des Papiers mit der Bemerkung, dies sei eine ökonomische und politische Kampfansage an die Wirtschaftspolitik der sozial-liberalen Koalition. Das Papier läßt drei Lesarten zu.

Eine erste Lesart entspricht dem Leitbild einer aufgeklärten sozialen Marktwirtschaft. Demgemäß werden kurzatmige und vordergründige wirtschaftspolitische Interventionen verurteilt. Statt dessen sollte ein Gesamtkonzept entwickelt werden, das die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zur erstrangigen politischen Aufgabe erklärt und so die Wachstumsschwäche überwindet.

Eine zweite, ordoliberale Lesart akzentuiert die öffentlichen und privaten Investitionen beim Umweltschutz, Schienenverkehr und Energiesparen (allerdings auch beim Zubau von Kernkraftwerken). Die Sozialleistungen sollen an die veränderten Wachstumsbedingungen angepaßt und die Lohnforderungen der abhängig Beschäftigten eingedämmt werden.

In einer dritten Lesart erschließt sich das Papier als ein marktradikal wirtschaftsliberaler Angriff gegen die aufgeklärte soziale Marktwirtschaft, die den Kern sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik unter Helmut Schmidt darstellte. Diese Lesart liegt nahe, weil die verlangten sozialen Einschnitte der Lohnsenkung, Kürzung des Arbeitslosengelds, der Ausbildungsförderung und der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ebensowenig ein bloßes Anhängsel sind wie die Selbstbeteiligung bei Arzneimitteln und beim Arztbesuch, die Lockerung des Kündigungsschutzes, der demographische Faktor in der Rentenformel und das Einfrieren der Regelsätze der Sozialhilfe. Sie rechtfertigt Horst Köhlers Vergleich zwischen dem Papier von Graf Lambsdorff 1982 und der Agenda von Bundeskanzler Schröder 2003. So schließt sich der Kreis: Die wirtschaftspolitische Orientierung der Agenda eines sozialdemokratischen Bundeskanzlers ist auf diese Weise dem Hauptstrom marktradikal wirtschaftliberaler Bekenntnisse im letzten Viertel des vergangenen Jahrhunderts zugeordnet.

Wie konnten marktradikal wirtschaftsliberale Bekenntnisse das Denken einer Generation von Ökonomen, Konzernchefs, bürgerlichen und sozialistischen Politikern besetzen, die sich an das Scheitern vergleichbar extremer Theorien und politischer Regime während der 1930er Jahre hätten erinnern können? Wie konnten überprüfbare ökonomische Theorien und wirtschaftspolitische Vorschläge zu einer Art Kulturrevolution ausarten? Und wie konnten sie nach einem Vierteljahrhundert noch den herrschenden Meinungsstrom der politischen und wirtschaftlichen Klasse bestimmen, als sie zu einer Falle der Wachstumsschwäche und Unterbeschäftigung in Europa wurden? Eine Antwort darauf soll mit fünf Vermutungen gegeben werden.

Von der plausiblen Theorie zur Weltanschauung

Anfang der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts wurde die Weltwirtschaft mit drei externen Schocks konfrontiert. 1971/1973 wurde das Bretton-Woods-System, das 30 Jahre lang den äußeren Geldwert stabil gehalten und diese Stabilität zu einem öffentlichen Gut gemacht hatte, aufgekündigt. Als daraufhin der US-Dollar drastisch abgewertet wurde, erhöhte die Organisation der ölexportierenden Staaten massiv den Rohölpreis und setzte ihre Preisforderungen durch. Die Folge waren erhebliche Umschichtungen von Kaufkraft, die zunächst aus den Industrieländern in die OPEC-Länder floß, eine explosive Zunahme internationaler Gläubiger-Schuldner-Beziehungen sowie ein weltweiter Einbruch der Produktion und des Handels. 1972 veröffentlichte der Club of Rom Die Grenzen des Wachstums.

In diesem Umfeld klangen Wirtschaftstheorien plausibel, die dem "Weiter so" umtriebiger aber zielloser Staatseingriffe den Kampf ansagten, weil die Versuche, die Wirtschaft durch staatliche Nachfrageimpulse zu beleben, nur geringe und kurzfristige Erfolge zeigten und meistens die Inflation anheizten. Anfang der 1980er Jahre wurde man der Dauerkonflikte zwischen Zentralbanken, die den inneren Geldwert stabilisieren wollten, und den Regierungen, die auf Wachstum und Beschäftigung setzten, überdrüssig. Die überspitzte Formulierung des deutschen Bundeskanzlers Helmut Schmidt, ihm seien 5 Prozent Inflation lieber als 5 Prozent Arbeitslosigkeit, klang am Ende seiner Regierungszeit grotesk, weil beides, Inflation und Stagnation eingetreten war. In der Folgezeit hielt man sowohl den praktischen Blickwinkel einer notwendigen Stabilisierung schwankender privater Wirtschaftstätigkeit durch den Staat als auch die grundsätzlich kreislauf- und nachfragetheoretische Perspektive für zu einseitig. Auch die früher von Karl Schiller verkündete "Versöhnung des Freiburger Imperativs mit der keynesianischen Botschaft", der Selbststeuerung der Mikroebene durch den Wettbewerb mit der Globalsteuerung der makroökonomischen Beziehungen durch den Staat wurde kritisch hinterfragt. Die erwähnten weltwirtschaftlichen Schocks hätten nämlich überwiegend die Angebotsseite betroffen, während die Nachfragesteuerung eine außerordentliche Disziplin der politischen Entscheidungsträger voraussetze. Die keynesianische Theorie, so lautete der Vorwurf, unterschätze die Abweichung zwischen erwarteten und tatsächlichen Ereignissen sowie den Konflikt zwischen Beschäftigung bzw. Lohnniveau und Inflation.

Eine angebotsorientierte Wirtschaftspolitik sollte im Kontrast dazu in erster Linie die Produktionsbedingungen einer Volkswirtschaft verbessern, um den Veränderungen besser gewachsen zu sein. Nicht die kurzfristige monetäre Nachfrage, sondern das langfristige reale Produktionspotential gilt als die Schlüsselgröße dieser Politik. Daraus wird gefolgert, daß der Staat administrative Regelungen von Preisen und Mengen, insbesondere die Schutzregelungen auf dem Arbeitsmarkt zurücknehmen soll, weil diese das wirtschaftliche Wachstum und die Produktivität einschnüren. Die abhängig Beschäftigten sollen keine überzogenen Lohnforderungen stellen, die Notenbank hat für einen stabilen Geldwert zu sorgen und die Wirtschaftspolitik des Staates soll berechenbar bleiben. Unter dem amerikanischen Präsidenten Reagan (1981–1989) wurde das angebotsorientierte Konzept großflächig erprobt. Die Steuern wurden massiv gesenkt, das Wachstum der Geldmenge stark gebremst und die Ausgaben der öffentlichen Haushalte massiv gekürzt. Als jedoch infolge der Rezession und der Steuersenkung die öffentlichen Einnahmen im Gegensatz zur ursprünglichen Erwartung einbrachen und ein erhebliches Haushaltsdefizit entstand, sahen die Experten ein, daß auch eine angebotsorientierte, monetaristische Wirtschaftspolitik nachfragewirksam ist und einer kreislaufmäßigen Absicherung bedarf. Diese Absicherung nahm Präsident Reagan vor, indem er den Rüstungsetat massiv aufstocken ließ.

Beim Transfer der angebotsorientierten, monetaristischen Wirtschaftspolitik nach Europa unter dem Etikett der "Reagonomics" geschah ein erster Umbau. Die gemäßigte, von der Nachfrage flankierte Angebotsorientierung wurde in Großbritannien weiter getrieben. Margaret Thatcher (1979–1990) verordnete dem Land eine extreme wirtschaftliche und politische Liberalisierung. Staatliche Ausgaben und die Einkommensteuern wurden gesenkt, öffentliche Unternehmen privatisiert, die Inflation rigoros bekämpft, die Macht der Gewerkschaften gebrochen, das Schul- und Gesundheitssystem umgebaut und Sozialleistungen gekürzt.

Als die angebotsorientierte, monetaristische Wirtschaftspolitik von Großbritannien auf den Kontinent übertragen wurde, kam es zu einem zweiten Umbau. Die abweichenden Konzepte, die als "Reagonomics" und "Thatcherismus" kursierten, wurden normativ aufgeladen und zu einem weltanschaulichen Konstrukt umgeschrieben. Das privatwirtschaftliche System, so glaubte man, sei in sich stabil, solange vernünftige Erwartungen nicht enttäuscht werden. Die wirtschaftliche Krise sei durch eine Störung der Angebotsbedingungen, durch überhöhte Steuern und Abgaben, ein zu hohes Lohnniveau, eine starre Lohnstruktur und staatlich-bürokratische Regulierungen, die erwünschte Arbeits- und Sparanreize von Leistungsträgern beeinträchtigen, verursacht. Eine natürliche Arbeitslosigkeit sei inflationsunabhängig und sozio-kulturell bedingt. Um sie zu senken, müßten die Arbeitslosen mobiler und mit geringeren Löhnen zufrieden sein. Komfortable Sozialleistungen dürften sie nicht davon abhalten, ein reguläres Arbeitsangebot anzunehmen. Der Hauptschlüssel stetigen und beschäftigungsfördernden Wachstums liege in der Kontrolle der Geldmenge; staatliche Wirtschaftspolitik sei erstrangig Geldpolitik.

Das bereits erwähnte Lambsdorff-Papier nimmt diese angebotsorientierte, monetaristische Wirtschaftspolitik auf. Während der konservativ-liberalen Koalition unter Bundeskanzler Helmut Kohl wurde sie zum wissenschaftlichen Hauptstrom, ergriff den Sachverständigenrat für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung, die staatlich finanzierten Forschungsinstitute sowie die Medien. Seitdem bestimmt sie den öffentlichen Diskurs. Der wirtschaftsliberale Flügel der CDU deutete das Leitbild der sozialen Marktwirtschaft streng ordoliberal und schnitt es auf das angebotsorientierte Konzept zu. Im Einigungsvertrag von 1990 wird die soziale Marktwirtschaft etwas verengt durch "Privateigentum, Leistungswettbewerb, freie Preisbildung und grundsätzlich volle Freizügigkeit von Arbeit, Kapital, Gütern und Dienstleistungen" charakterisiert. Und die Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft sind in der "freien Entscheidung der Unternehmen über Produkte, Mengen, Produktionsverfahren, Investitionen, Arbeitsverhältnisse , Preise und Gewinnverwendung" verwirklicht.

Die drei Bekenntnissätze des in Deutschland radikalisierten, normativ aufgeladenen weltanschaulichen Konstrukts lauten:

1.       Vertraue auf die Selbstheilungskräfte des Marktes!

2.       Der schlanke Staat ist der beste aller möglichen Staaten!

3.       Wirtschaftspolitik ist Sache der Notenbank; indem diese rigoros die Inflation bekämpft, sorgt sie automatisch für Wachstum und hohe Beschäftigung!

Diesen Bekenntnissätzen wurde solange nicht widersprochen, als sie an die gemeinsame Überzeugung anknüpfen konnten, daß das wirtschaftliche Denken ein "Faktum der Vernunft" sei. In allen menschlichen Entscheidungen wird nämlich über knappe Mittel, jedenfalls über das knappe Mittel der Zeit verfügt. Die Kritik an einem bürokratisch schwerfälligen und auf die Verteilung finanzieller Mittel fixierten Sozialstaat fand viel Applaus, weil er die Bürger und Bürgerinnen mit unlesbaren Formularen, langen Warteschlangen und bürokratischen Kontrollen nervte. Diese waren auch gegen kirchliche und andere gemeinnützige Wohlfahrtsverbände mißtrauisch geworden, die sich zu unbeweglichen Agenturen des Sozialstaats aufgebläht hatten. Mehr betriebswirtschaftliches Denken könne den Gesundheits- und Sozialeinrichtungen nicht schaden. Der ökonomische Druck, der von staatlichen Sparmaßnahmen ausging und die Rationalisierung und Rationierung medizinischer, sozia1er und pädagogischer Leistungen vorantrieb, könne deren Qualität verbessern. Der Ansicht, daß eine Geldentwertung der breiten Bevölkerungsschicht mehr schade als nutze und diejenigen härter treffe, die nicht in den Erwerb von Sachvermögen ausweichen können, wurde allgemein zugestimmt.

Das marktradikal wirtschaftsliberale Bekenntnis zeigte sich gegen Kritik resistent. Es ließ sich vom Widerspruch empirischer Konjunkturanalysen, Kreislaufdiagnosen, nachfrageorientierter Szenarien sowie vom Nachweis tatsächlicher Wechselwirkungen der monetären und realwirtschaftlichen Sphäre nicht beeindrucken.

Als Beispiel dieser Selbstimmunisierung kann das Gutachten des Sachverständigenrats für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung des Jahres 2002 gelten. Die "Weisen" beschreiben zutreffend die Lage der Weltwirtschaft, nämlich den Absturz des Welthandels und der Weltproduktion zum Jahresende 2000, dann die allmähliche konjunkturelle Belebung in den Vereinigten Staaten als dem Motor der globalen Wirtschaft, die außergewöhnliche Wachstumsdynamik Chinas, die Erholung in Japan sowie die beachtlichen Wachstumsraten einiger europäischer Randländer als Ursachen der hohen Nachfrage nach deutschen Exportgütern. Dann jedoch setzen sie die Konjunkturbrille ab und erklären die Wachstumsschwäche auf dem Binnenmarkt ausschließlich durch strukturelle Defizite. Dabei filtern sie jedoch einseitig jene Strukturschwächen aus, die den Produktionsfaktor Arbeit, den Arbeitsmarkt, die kollektive Interessenvertretung der abhängig Beschäftigten sowie die erwerbswirtschaftlichen Solidarsysteme betreffen, nämlich hohe Lohnsteuer- und Abgabensätze, fahrlässige Lohnabschlüsse, überzogene Arbeitslosen- und Sozialhilfe, starre Flächentarifverträge, übertriebene Schutzregeln und ein ineffizientes Gesundheitswesen. Andere Strukturdefizite bleiben unerwähnt – etwa eine polarisierte Einkommens- und Vermögensverteilung, eine fortwirkend geschwächte Verhandlungsposition der Arbeitnehmer sowie ein ungleicher Zugriff auf Arbeitsverhältnisse bzw. Kapitaleinkommen, um gesellschaftliche Risiken solidarisch abzusichern. Daß eine selbsttragende Dynamik der inländischen Investitions- und Konsumnachfrage möglicherweise mehr autonome private und öffentliche investive Schubkräfte braucht, kommt den Experten nicht in den Sinn.

Die wiederholten Verheißungen, daß die Zahl der Arbeitslosen in zwei, drei Jahren halbiert oder erheblich verringert werden könne, wenn nur die Löhne, Abgaben oder Steuern weiter sinken würden, haben sich nicht erfüllt. Als Begründung, weshalb die erwartete Wirkung ausgeblieben sei, wird erklärt, daß die Richtung der Maßnahmen zwar stimme, aber die Maßnahmen selbst nicht radikal genug ergriffen worden seien. Ein Durchbruch zu mehr Wachstum und Beschäftigung sei bei verschärften Maßnahmen derselben Art so gut wie sicher. Den Beweis dafür erbringen sie nicht.

Die Vormachtstellung der Vereinigten Staaten

Ohne den Kontext der politischen und militärischen Übermacht der Vereinigten Staaten wären die marktradikal wirtschaftsliberalen Positionen nicht so erfolgreich gewesen. Ihre Argumente und deren innere Konsistenz hätten ohne das Machtpotenzial des amerikanischen Wirtschafts- und Finanzstils weniger beeindruckt.

"Wallstreet-Treasury-IWF-Komplex" nennt man das Zusammenspiel von New-Yorker Börse, US-amerikanischem Finanzministerium und Internationalem Währungsfonds. Der IWF hat seine ursprüngliche Aufgabe, kurzfristige Zahlungsbilanzdefizite zu finanzieren, mittlerweile gegen die Rolle einer internationalen Agentur der Länder mit marktbeherrschenden Währungen und der institutionellen Kapitalanleger vor allem aus den Vereinigten Staaten eingetauscht. Im Krisenmanagement der Auslandsverschuldung von Schwellenländern bezieht er eine Schlüsselposition. Sie besteht darin, daß er die Auflagen der Strukturanpassung diktiert, die das überschuldete Land erfüllen muß, um seine Kreditwürdigkeit wieder herzustellen und frisches Geld zu erhalten. Diese setzen einseitig auf die Verbesserung der Angebotsbedingungen, auf strenge Haushaltsdisziplin, die Reduktion der öffentlichen Kreditaufnahme und der Beschäftigung im öffentlichen Sektor, auf die Liberalisierung des Außenhandels und des Kapitalverkehrs, auf Zinssätze, die marktgerecht sind, und Wechselkurse, die den Export begünstigen, auf die Privatisierung der Staatsbetriebe und verbindliche Eigentumsgarantien. Diese Auflagen, für die der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler John Williamson den Begriff des "Washington-Consensus" geprägt hat, sind in einigen Ländern Lateinamerikas strikt befolgt worden. Sie haben zwar die Inflationsraten und die Defizite der öffentlichen Haushalte drastisch gesenkt, den Wechselkurs durch die Bindung an eine Leitwährung stabilisiert sowie beachtliche bis mäßige Wachstumsraten ermöglicht. Allerdings haben sich auch die Kreditabhängigkeit vergrößert, ohne daß der Schuldendienst aus den Exporten aufgebracht werden konnte. Gleichzeitig jedoch ist die Arbeitslosigkeit gestiegen, die Reallöhne sind gefallen, die vorher schon großen Unterschiede in der Einkommens- und Vermögensverteilung haben sich noch vergrößert, die Sozialausgaben sind drastisch gekürzt worden und die Nahrungsmittelproduktion pro Kopf der Bevölkerung ist gesunken.

Nicht nur der Internationale Währungsfonds, sondern auch andere internationale Einrichtungen, die in den 1990er Jahren gefestigt und neu entstanden sind, haben sich die marktradikal wirtschaftsliberalen Parolen angeeignet und verbreitet. Die Konferenzen der Welthandelsorganisation (WTO) sind derzeit von heftigen Auseinandersetzungen um die volle Liberalisierung der Märkte für Dienstleistungen geprägt, die auch die bisher meist öffentlich bereitgestellten Gesundheits- und Bildungsgüter, die Güter der allgemeinen Infrastruktur wie Wasser, Strom und Kommunikation sowie soziale Dienste einschließen (GATS).

Das Wirtschafts- und Finanzsystem der Vereinigten Staaten droht die Wirtschaftsstile zu überformen, die in Europa und anderen Ländern gewachsen sind. Diese Behauptung läßt sich an drei Handlungsfeldern veranschaulichen: Auf dem europäischen Kontinent wird das Unternehmen als Personenverband bzw. als ein Vertragsnetz derer verstanden, die sich im Unternehmen persönlich und finanziell engagieren, nämlich der Manager, Belegschaften, Anteilseigner, Banken, Kunden, Zulieferer und Kommunen. Dagegen orientiert sich das "Shareholder Value Konzept" der Unternehmenssteuerung in erster Linie an riskanten zukünftigen Zahlungsströmen, macht den jeweiligen Gegenwartswert dieser Zahlungsströme zum Erfolgsausweis eines Unternehmens und verpflichtet die Manager auf den so genannten Unternehmenswert, der sich im Börsenkurs spiegelt, als strategisches Ziel ihrer Entscheidungen. Folglich wird für jede einzelne Betriebseinheit ein optimaler Zahlungsstrom festgelegt. Nur überdurchschnittlich profitable Betriebseinheiten erhalten die erforderlichen Finanzmittel, während die restlichen samt ihren Belegschaften abgestoßen werden. Dieses angelsächsische Konzept, das die Unternehmen als Vermögensgegenstände der Anteilseigner begreift, scheint das kontinentaleuropäische Konzept des Unternehmens als gesellschaftlichen Personenverbands zu verdrängen. Ein zweites Handlungsfeld ist die Absicherung gegen die Risiken des Alters. In den USA ist sie überwiegend der privaten, kapitalgedeckten Vorsorge überantwortet, während in den kontinentaleuropäischen Ländern die solidarische, umlagefinanzierte Sicherung verbreitet ist. Als man in der deutschen Öffentlichkeit über die Finanzierungsrisiken der gesetzlichen Rentenversicherung debattierte, wurde die amerikanische Form der Alterssicherung als außerordentlich rentabel, kostengünstig und demographiefest gelobt. Der besondere Vorzug der Kapitaldeckung liege darin, hieß es, daß die aktiv Erwerbstätigen in der Gegenwart einen Kapitalstock aufbauen, der von ihnen in der Zukunft, sobald sie das Rentenalter erreicht haben, wieder aufgelöst werde. Zusätzlich könne auch die ausländische Wertschöpfung in Anspruch genommen werden, um die privaten Rentenansprüche der Deutschen zu befriedigen. Nach dem Kurseinbruch der Wertpapiere im Jahr 2000 wurde deutlich, daß auch die private kapitalgedeckte Alterssicherung gegen die Systemrisiken der Finanzmärkte nicht geschützt ist. Sie kann eventuell in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit, niedriger Investitionsneigung und geringer Wachstumsraten, aber relativ hoher Kapitalmarktzinsen für Eigentümer von Geldvermögen eine vorteilhafte Alternative zu den umlagefinanzierten solidarischen Sicherungssystemen abhängig Beschäftigter sein. Ein drittes Handlungsfeld sind die Prioritäten der Wirtschaftspolitik. Wenn das erstrangige Interesse der Großbanken, Versicherungskonzerne und institutionellen Anleger auf den internationalen Finanzmärkten darin besteht, den Wert des Geldvermögens zu sichern, besteht die Gefahr, daß sich die europäischen Regierungen diesem Interesse unterordnen. Dem Kampf gegen die Inflation mit dem Ziel, daß die Anteilseigner sichere Möglichkeiten der Geldanlage finden, geben sie dann den Vorrang gegenüber dem Ziel eines hohen Beschäftigungsgrads, der durch mehr Wirtschaftswachstum erzielt wird. Nachdem sie der Notenbank zugleich mit dem Beschluß einer starken Unabhängigkeit das Mandat übertragen haben, die Inflation rigoros zu bekämpfen, und sich eng an die monetär und fiskalisch fixierten Maastricht-Kriterien halten, berauben sie sich der Möglichkeit, eine koordinierte europäische Fiskal-, Einkommens-, Beschäftigungs- und Wachstumspolitik zu betreiben. Die Folge ist eine seit Jahrzehnten beobachtete Verletzung der goldenen Regel des Wachstums, unter der alle realwirtschaftlich orientierten Unternehmen leiden. Die Regel besagt, daß die Kapitalrendite auf den Finanzmärkten niedriger sein sollte als die Profitrate, die innovative Unternehmen aus vorfinanzierten realen Investitionen, der Schaffung von Arbeitsplätzen, der Produktion und dem Absatz, d.h. aus dem realwirtschaftlichen Kreislauf gewinnen. Die Verletzung dieser Regel wiegt umso schwerer, weil sie belegt, wie sehr der Schlüssel zur Überwindung der wirtschaftlichen Stagnation und der Massenarbeitslosigkeit auf den Finanzmärkten liegt.

Ein beeindruckendes Beispiel, wie der US-amerikanische Finanzstil in das Gefüge der öffentlichen Haushalte und in die Beziehungen zwischen der Hoheitsverwaltung anderer Staaten und die Selbstverwaltung der Kommunen eingreift, ist das Finanzgeschäft einer Vermietung kommunalen Eigentums – Müllverbrennungsanlagen, U-Bahnnetze, Sportanlagen, Wasserwerke und Kläranlagen – an einen Investor aus den Vereinigten Staaten. Die Kommune überträgt ihr wirtschaftliches Eigentum auf 99 Jahre unter Vermittlung einer anonymen Treuhandgesellschaft an einen Investor, der diese Finanzinvestition steuermindernd gegenüber der US-amerikanischen Steuerbehörde geltend machen kann. Gleichzeitig schließt die Kommune einen Rückmietvertrag, der 30 Jahre läuft. Danach kann sie das Finanzgeschäft gegen die Zahlung eines Optionspreises beenden. Falls sie dazu nicht in der Lage oder bereit ist, gehen die Anlagen in die Verfügung des Investors über, der sie an private Dritte verkaufen kann. Der beiderseitige Vorteil des Finanzgeschäfts liegt darin, daß der amerikanische Investor Steuern spart und die deutsche Kommune ein Honorar dafür bezieht, daß sie sich an diesem Geschäft beteiligt.

Der Mikroblick

Der Mikroblick sieht die wirtschaftliche und gesellschaftliche Umwelt ausschließlich aus der Ich-Perspektive des einzelnen Wirtschaftssubjekts, des einzelnen Haushalts oder des einzelnen Unternehmens. Es wird so getan, als seien die einzelnen Personen souveräne Handlungssubjekte, die ihre Absichten voll verwirklichen und die Folgen ihres Handelns restlos im Griff haben. Diese Sichtweise ist jedoch blind für systemische Rückkopplungen, die das Gegenteil dessen hervorbringen können, was die Handelnden ursprünglich beabsichtigt haben.

Der Mikroblick verleitet dazu, daß die verfestigte Massenarbeitslosigkeit als Folge individuellen Versagens gedeutet wird. Sie stolpert in einen familiaristischen Fehlschluß. So ist die Neigung verbreitet, die Funktionsregeln der sozialen Sicherungssysteme mit dem Gefühl der Verbundenheit in der Großfamilie aus Urahne, Großmutter, Mutter und Kind zu vergleichen. Die Anekdote vom Bäcker, der drei Brote, eins für sich und seine Frau, eins für die Kinder und eins für die Eltern backt, wird auf die moderne Gesellschaft übertragen, obwohl diese nicht als partnerschaftliche Beziehung in der Geschlechterfolge konstruiert ist, sondern die Rechte und Pflichten regelt, die gesellschaftliche Gruppen beanspruchen und einander schulden. Dieser Fehlschluß ist ebenfalls wirksam, wenn die Rolle des Finanzministers bei der Gestaltung der laufenden Ausgaben und Investitionen in den öffentlichen Haushalten mit der eines sorgenden Hausvaters verglichen wird, der die laufenden Ausgaben und Einnahmen ausgleicht, weil er es nicht wagt, seinen Kindern einen Schuldenberg zu hinterlassen. Dem Mikroblick entgeht der Zusammenhang, daß anders als im Einzelhaushalt der öffentlichen Verschuldung eine private Vermögensbildung innerhalb derselben Generation entspricht. Ihm entgeht auch die Tatsache, daß die Mitglieder der nachwachsenden Generation nicht nur die öffentlichen Schulden, sondern auch die privaten Vermögen übernehmen.

Der Mikroblick zeigt sich in einer ausschließlich betriebswirtschaftlichen, einzelwirtschaftlichen Argumentationsweise. Sobald einem Unternehmer die Hausbank den Anschlußkredit verweigert oder ihm die Absatzmärkte wegbrechen, neigt er dazu, über die zu hohen Steuern, Löhne und Lohnnebenkosten zu klagen. Sobald die Mitarbeiter höhere Löhne fordern, befürchtet er schrumpfende Gewinne. In Tarifverträgen sieht er einen Hemmschuh unternehmerischer Innovationen. Von längeren Arbeitszeiten ohne Lohnausgleich erwartet er einen konjunkturellen Aufschwung und mehr wirtschaftliche Dynamik. Sollten jedoch alle Unternehmer darauf drängen, ihre Kosten, insbesondere die Lohnkosten zu senken, schrumpft mit einer zeitlichen Verzögerung auch die Nachfrage gerade nach jenen Gütern, deren Absatz die Gewinnquelle der Unternehmen ausmacht. Wenn die Konzernleitung von Siemens mit zwei Betrieben eine Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich aushandelt, mag dies für eine einzelne Betriebseinheit vernünftig sein. Für einen transnationalen Konzern im Kontext der internationalen Arbeitsteilung ist es eine rein defensive und kurzsichtige Reaktion. Denn ein Verdrängungswettbewerb zwischen deutschen und ausländischen Betrieben gefährdet auch den zukünftigen europäischen Absatzmarkt des Konzerns. Wenn ganze Branchen verlangen, die Arbeitszeit kollektiv zu verlängern und die Löhne allgemein zu kürzen, verspielen sie die Chance, die Binnennachfrage zu beleben und den eigenen Absatzmarkt zu stabilisieren.

Die Sammlung des bürgerlichen Lagers

Nachdem die Euphorie des Regierungswechsels und die Zufriedenheit der Bevölkerung über die Abwahl der konservativ-liberalen Koalition unter Bundeskanzler Kohl verflogen war, sammelte sich das bürgerliche Lager in zwei fast gleichlautenden Initiativen, um das Leitbild der sozialen Marktwirtschaft mit den marktradikal wirtschaftsliberalen Bekenntnissen zu überformen und mit Hilfe einer gezielten Öffentlichkeitsarbeit das reformunwillige Volk aufzuklären.

Eine branchen- und parteiübergreifende Plattform, die für alle offen ist, die sich dem Gedanken der sozialen Marktwirtschaft verbunden fühlen, wurde im Herbst 2000 mit dem Titel: "Chancen für alle – Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" gegründet. Sie bezieht sich auf drei Programmworte Ludwig Erhards: "Eigeninitiative, Leistungsbereitschaft, Wettbewerb". Träger der Initiative sind die 16 regionalen Arbeitgeberverbände der Metall- und Elektroindustrie und weitere führende Wirtschaftsverbände sowie Unternehmen, Bürger und prominente Politiker. Dem Kuratorium gehören u.a. an: Edmund Stoiber, Oswald Metzger, Lothar Späth, Arend Oetker, Roland Berger, Walter Kannegießer, Randolf Rodenstock, Arnulf Baring, Hans D. Barbier und Paul Kirchhof. Der Vorsitzende des Kuratoriums ist Hans Tietmeyer. Die Initiative will die soziale Marktwirtschaft an die Bedingungen des 21. Jahrhunderts anpassen, nämlich die Globalisierung, die Wissensgesellschaft, die Veränderungen der Arbeitswelt, die Informationstechnologie sowie den demographischen Wandel. Um dieses Ziel zu erreichen, müsse Ballast abgeworfen werden. Eine neue Wirtschaftspolitik solle den Staat auf seine Kernkompetenzen beschränken, Steuern und Abgaben senken und die Bürokratie abbauen. Eine neue Beschäftigungspolitik solle Arbeitslose qualifizieren sowie das Arbeits- und Sozialrecht überprüfen. Eine neue Sozialpolitik solle von der Rundum-Absicherung und von der Entartung des Sozialstaats zum Wohlfahrtsstaat Abschied nehmen, Solidarität nur den wirklich Bedürftigen gewähren und den privaten Versicherungsschutz ausweiten. Eine neue Tarifpolitik solle sich flexibler an den Interessen der Betriebsparteien orientieren und aus Arbeitszeit- und Lohnkomponenten bestehen. Eine neue Bildungspolitik solle den Rohstoff "Wissen" als Standortfaktor veredeln und für mehr Wettbewerb, Effizienz und Tempo im Bildungswesen sorgen. Diese neuen Einsichten werden regelmäßig in Anzeigen, Büchern, auf Kongressen und Plakaten sowie im Fernsehen verbreitet.

Wenige Monate später, im Sommer 2001, stellte Angela Merkel das Projekt der CDU: "neue Soziale Marktwirtschaft" vor. Die soziale Marktwirtschaft, die im 20. Jahrhundert so erfolgreich war, sei im Kern eine Wirtschaftsordnung der Freiheit und korrespondiere mit der Demokratie als politischer Ordnung der Freiheit. Das Projekt wirbt zu Beginn des 21. Jahrhunderts für "einen neuen Vertrag auf Gegenseitigkeit von Politik und mündigem Bürger". Das bedeute beispielsweise niedrige und einfache Steuersätze gegen Ehrlichkeit oder: Arbeitsangebote, die sich lohnen, gegen die Pflicht zur Arbeitsannahme oder: Respekt vor den Erfahrungen der älteren Arbeiter gegen die Bereitschaft zur Weiterbildung oder: finanzielle Entlastung der Familien gegen den Mut zur Erziehung. Als Leitmotiv eines solchen Vertrags wird ein Wort Ludwig Erhards von 1957 angeführt: "Ich will mich aus eigener Kraft bewähren. Ich will das Risiko des Lebens tragen, will für mein Schicksal selbst verantwortlich sein. Sorge du, Staat, dafür, das ich dazu in der Lage bin".

Die Initiatoren des Projekts meinen, Deutschland sei auf vier epochale Veränderungen – digitale Revolution, Globalisierung, Alterung der Bevölkerung und Wertewandel (insbesondere Wandel der Lebensentwürfe von Frauen) – nicht hinreichend eingestellt. Folglich ergebe sich für das Land ein fünffacher Handlungsbedarf: In den Bildungs- und Forschungsbereichen herrscht nicht genug Wettbewerb: die Leistungen in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern sind zu schwach. Das Steuer- und Abgabensystem ist unfair, kompliziert, undurchsichtig. Das Arbeits- und Tarifrecht ist starr, die hohen Lohnstückkosten verhindern zusätzliche Beschäftigung. Die Solidarsysteme sind gefährdet, denn sie belasten den Faktor Arbeit übermäßig und verursachen Kosten, die nicht mehr gebändigt werden können. Die internationale Ordnung ist lückenhaft. Daraus folgt ein fünffacher Auftrag an die Politik zur Gestaltung der "Wir-Gesellschaft": Um tragfähige Fundamente einer Wissensgesellschaft herzustellen, sind die Schul- und Hochschulbildung leistungs- und wettbewerbsbestimmt zu gestalten; Begabte sind entschieden zu fördern. In einem transparenten Steuer- und Abgabensystem sind die Steuern zu senken und zu vereinfachen, die Ökosteuer abzuschaffen, Bürgerkonten einzurichten und die Steuern des Bundes, der Länder und der Gemeinden eindeutig zu trennen. Arbeit für alle ist möglich, sobald betriebliche Regelungen bevorzugt, die Betriebsverfassung modernisiert, der Kündigungsschutz gelockert und befristete Arbeitsverhältnisse vermehrt werden. Verläßliche Solidarsysteme verlangen mehr Wettbewerb im Gesundheitswesen, Dualität von Kern- und Ersatzleistungen, mehr private, kapitalgedeckte Vorsorge, breite Vermögensbildung und Familienförderung. Ein internationaler Ordnungsrahmen soll die Liberalisierung des Welthandels vorantreiben, einen freien und fairen Wettbewerb sichern und dem internationalen Finanzsystem verbindliche Regeln bieten.

Die zwei Varianten einer neuen sozialen Marktwirtschaft gehen davon aus, daß es eine einzige alte soziale Marktwirtschaft gebe. Das ist jedoch nicht der Fall. Die Namen Eucken, Müller-Armack, Schiller, Hayek und Nell-Breuning stehen für sehr unterschiedliche Deutungen der sozialen Marktwirtschaft. Initiative und Projekt wollen offenbar die Definitionsmacht über das, was soziale Marktwirtschaft ist, für eine bestimmende Gruppe der CDU zurückerobern. Dabei tauschen sie Erhards Formel vom "Wohlstand für alle" eigenwillig gegen die Formel: "Chancen für alle" ein. Beide Spielarten einer neuen sozialen Marktwirtschaft sind weder neu noch sozial. Denn sie wiederholen die marktradikal wirtschaftsliberalen Bekenntnisse, haben überzogene Erwartungen an die Selbststeuerungskraft des Marktes und entwerfen aus der Mikro-Perspektive ein realitätsfernes Marktkonstrukt. Sie überschätzen die Wirkungen der Privatisierung, gewichten unverhältnismäßig stark die Freiheitsrechte und folgen in der Begründung sozialstaatlicher Optionen diffusen Trenderklärungen.

Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft ist zum Prototyp einer Reihe von außerparlamentarischen Kampagnen bürgerlicher Führungseliten geworden, die sich als marktradikal wirtschaftsliberale Missionare zu einer unmündigen, nicht aufgeklärten Bevölkerung gesandt wissen. Ihre Auftritte in der Öffentlichkeit sind professionell eingekauft und werden von Industriekonzernen, der Deutschen Bank und vermögenden Einzelunternehmern komfortabel mit Finanzmitteln ausgestattet.
Beispielsweise ist die Aktion Deutschland packt’s an eine Gemeinschaftsaktion deutscher Fernsehsender, Verlage und Unternehmen der Werbewirtschaft. Sie wurde Ende 2001 nach der so genannten "Ruck"-Rede des damaligen Bundespräsidenten Herzog gegründet, um die Stimmung der Bevölkerung zu verbessern und eine Aufbruchstimmung zu erzeugen. Zum Initiativkreis gehören Lothar Späth und Renate Köcher. Schirmherr der Kampagne ist Roman Herzog.

Marke Deutschland trat 2002 hervor und ist eine Initiative von Werbeagenturen. Diese möchten die deutsche Bevölkerung über den Reformbedarf aufklären und zu einem Selbstbild verhelfen, das tatkräftig, zupackend und vorwärts gerichtet ist. Deutschland soll als Marke präsentiert und veränderungswillig gemacht werden.

Im Frühjahr 2003 ist der Bürgerkonvent an die Öffentlichkeit getreten. Er will den Reformwiderstand der Bevölkerung brechen. Er wirbt dafür, den Staat auf seine Kernkompetenzen zurückzuführen und die private Verantwortung zu stärken. Das Rentensystem soll auf eine niedrige steuerfinanzierte Grundsicherung abgesenkt werden. Die der CDU nahe stehenden Konventsmitglieder kritisieren auf der Welle der Parteienschelte und der Politikverdrossenheit die etablierten politischen Akteure und insbesondere die Parteien. Neben Meinhard Miegel werden dem Konvent Hans-Olaf Henkel, Roland Berger und Otto Graf Lambsdorff zugerechnet.

Der jüngste Protestkreis hat sich mit einer wirtschaftlichen und vor allem politischen Stoßrichtung unter dem Namen Konvent für Deutschland gebildet. Die Mitglieder Herzog, Berger, Henkel, von Dohnanyi, Glotz, Metzger und Graf Lambsdorff beabsichtigen, die Blockaden des föderalen Systems und die dringend notwendige Neuordnung des demokratischen Systems zu thematisieren.

Einseitige Schuldzuweisungen

Daß die geringe Lernfähigkeit jener Propheten, die im Widerspruch zu empirischen Beobachtungen ihre marktradikal wirtschaftsliberale Bekenntnisse aufrechterhalten, für die wirtschaftliche Krise mitverantwortlich ist, daß die politischen Entscheidungsträger, die ihnen gefolgt sind, nicht zur Beseitigung sondern zur Verschärfung der Arbeitslosigkeit beigetragen haben, daß die Konzernchefs sich in schwerwiegenden Entscheidungen der Fusion und Finanzierung von Unternehmen vergriffen haben, wird in der Öffentlichkeit nicht sonderlich registriert. Umso stärker werden sechs einseitige Schuldzuweisungen formuliert, die an Personen oder Institutionen gerichtet sind, denen die erstrangige Verantwortung für die Beschäftigungskrise zugeschoben wird.

Die erste Schuldzuweisung richtet sich an die Arbeitslosen selbst. Die Massenarbeitslosigkeit ist danach das Ergebnis eines millionenfachen individuellen Versagens. Sie seien nicht arbeitswillig. Sie folgten einem rationalen Kalkül, indem sie den Ertrag eines regulären Arbeitsverhältnisses mit den Alternativkosten des Verlustes an Sozialleistungen, Freizeit, möglicher Schattenarbeit und wahrscheinlichem Nebenerwerb verrechnen. Oder sie sind nicht arbeitsfähig. Das Risiko, arbeitslos zu werden und vor allem zu bleiben, ist nämlich umso höher, je geringer die Arbeitsuchenden qualifiziert sind. Daraus wird einfach gefolgert, daß jede Weiter- und Höherqualifizierung nicht nur das individuelle Arbeitsplatzrisiko, sondern auch die Zahl der Arbeitslosen verringert.

Die zweite Schuldzuweisung richtet sich auf den Arbeitsmarkt. Dieser sei überreguliert, verkrustet, zum "Kartell der Arbeitsplatzbesitzer" verkommen. Er bilde die Schlüsselgröße, um die strukturelle Wachstumsschwäche zu erklären. Daß der Arbeitsmarkt ein abgeleiteter Markt ist, der sich belebt, sobald die Nachfrage auf den Gütermärkten stark geworden ist, wird meist verschwiegen.

Die dritte Schuldzuweisung richtet sich an die Gewerkschaften. Sie widersetzten sich der vollständigen Deregulierung des Arbeitsmarktes, der Lockerung des Arbeits- und Kündigungsschutzes, der totalen Freigabe der Ladenöffnungszeiten sowie der Flexibilisierung der individuellen Arbeitszeit. Und sie weigerten sich, eine beschäftigungsorientierte Tarifpolitik gegenüber ihren Mitgliedern zu vertreten.

Inzwischen geht die vierte Schuldzuweisung an die frühere Bundesanstalt für Arbeit. Hohe Arbeitslosigkeit sei vorrangig ein Problem unzulänglicher Vermittlung. Die neu erstandene Agentur setzt daher auf die individuelle Vermittlung. Während der Druck auf die Arbeitslosen gesteigert wird, damit sich deren Motivation verbessert, erhalten die Vermittler finanzielle Anreize, um das Zahlenergebnis zu verbessern, das den Erfolg ihrer Vermittlung anzeigt. Die zusätzlich geschaffenen Stellen bieten eine Chance, die betriebswirtschaftlichen Steuerungsmodelle an qualifizierten Angestellten eines modernen Dienstleisters zu testen, selbst wenn die Wende auf dem Arbeitsmarkt und in der Binnenwirtschaft auf sich warten läßt. Derzeit überwiegen noch die Turbulenzen in den Regionalstellen, die Demotivation der Mitarbeiter sowie die Vorahnung des Scheiterns der Umstellung.

Die fünfte Schuldzuweisung geht an die Kommunen. Sie werden inzwischen verdächtigt, Brückenköpfe des zivilen Widerstands gegen eine effiziente Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik zu sein, indem sie arbeitsfähige Sozialhilfeempfänger zwischen der Kommunal- und Arbeitsverwaltung pendeln lassen, um Ausgaben zu vermeiden und Kosten auf den jeweils anderen Träger abzuwälzen. Die organisatorische Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe soll dies künftig verhindern.

Der Sozialstaat nimmt sechstens unter den Schuldzuweisungen eine prominenteste Rolle ein. Er gilt generell als Verursacher der Massenarbeitslosigkeit und der Wachstumsschwäche. "Der Sozialstaat heutiger Prägung hat sich übernommen" erklärte Bundespräsident Horst Köhler bei seiner Antrittsrede. Selbst prominente Katholiken machen sich zum Sprachrohr, das den Sozialstaat beschimpft, den sie aus der Perspektive Außenstehender, die ihn entbehren können, allerdings verzerrt wahrnehmen: Er sei auf Fragen der Verteilungsgerechtigkeit, nämlich auf die Umverteilung materieller Güter und finanzieller Ressourcen fixiert. Er habe die Kräfte der Solidarität und Eigenverantwortung geschwächt. Aus einer ursprünglichen Absicherung Benachteiligter gegen die Risiken der Armut und Not sei er zu einem undurchschaubaren Dickicht von Transferleistungen und zu einem überzogenen Anspruch geworden, eine immer komfortablere Normalität herzustellen. Er überfordere sich selbst, indem er vortäuscht, alle Bereiche menschlicher Lebensgestaltung regeln, ordnen und organisieren zu können. Er habe die Grundlagen gesellschaftlicher Solidarität ausgezehrt, die Bereitschaft zu anderen Solidaritäten untergraben, die Solidarität in der Familie und die Bereitschaft zum Kind eher geschwächt als gestärkt.

In der Verteidigung der Agenda steht die rot-grüne Koalition offenbar nicht auf verlorenem Posten oder auf einer einsamen Insel. Ein überwältigendes Heer öffentlicher Meinungsmacher eilt ihr im Feldzug gegen den Sozialstaat voraus, stärkt ihr den Rücken und feuert sie an, standfest zu bleiben.

...

Religion des Geldes

Globalisierung, so hat sich gezeigt, wird oft als politisches und ökonomisches Druckmittel benutzt, um politisches Versagen zu rechtfertigen oder um die Ohnmacht politischen Handelns zu bescheinigen. Bisher blieb noch eine ökonomische Sphäre ausgeklammert, die am ehesten den Zusatz "global" verdient, nämlich die der internationalen Finanzmärkte. Rolf-E. Breuer, der frühere Vorstandssprecher der Deutschen Bank, nannte sie einmal die "Fünfte Gewalt in der Demokratie".

Börsenfieber

Der Düsseldorfer Strafprozeß gegen Manager der ehemaligen Mannesmann AG hat am Ende wie zu Beginn für Schlagzeilen in den Medien gesorgt. Die Bevölkerung reagierte empört. Zum einen über die strahlenden Siegerposen der Manager, noch bevor der Prozeß überhaupt eröffnet war. Besonders skandalös wirkten die zum Victory-Zeichen gespreizten Finger des Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank, der damit vielleicht nur seine Unsicherheit auf dem Parkett des Gerichtssaals zu überspielen suchte. Zum andern waren die Leute über die Höhe der Zahlungen empört, mit denen Vorstände und Aufsichtsräte sich aus der Wertschöpfung eines Unternehmens selbst bedienen und bei der feindlichen Übernahme des Unternehmens komfortable Abfindungen zuweisen. Sie finden den riesigen Abstand zwischen den Bezügen der Manager, die der Prozeß offenlegt, und dem, was sie selbst als Lohn oder Gehalt verdienen, unfaßbar. Und sie verurteilen das Verhalten einer Wirtschaftselite als raffgierig und stillos, die gleichzeitig den Gesetzgeber und die Regierung dazu treibt, den Kranken Zuzahlungen abzuverlangen, das Arbeitslosengeld abzusenken und Sozialleistungen zu kürzen.
Der Mannesmann-Prozeß hat das Selbstverständnis der Spitzenmanager über ihre gesellschaftliche Funktion ins Rampenlicht gerückt. Sie neigen offenbar dazu, das Unternehmen als Eigentum der Aktionäre zu begreifen und in erster Linie deren Interessen zu bedienen. Sie orientieren ihre Entscheidungen am Unternehmenswert und sind davon überzeugt, daß der Aktienkurs ein objektiver Gradmesser erfolgreicher Entscheidungen ist. Folglich finden sie es korrekt, erhebliche Gehaltsbestandteile an den Höhenflug von Aktienkursen zu koppeln und dabei angelsächsische Standards anzulegen. Die Ansprüche der Belegschaft treten hinter der Börsenlogik zurück. Für das Management zählt der Aktienkurs als Gradmesser von Gehaltszulagen, für die Belegschaft der realwirtschaftliche Erfolg. Es beunruhigt sie nicht, wenn sich die monetäre Sphäre von den realen Produktionsprozessen abkoppelt.

Der Mannesmann-Prozeß in Düsseldorf war eine Art Nachbeben jener Turbulenzen, von denen die Aktienmärkte der USA unmittelbar vor der Jahrtausendwende befallen wurden. Es stellte sich heraus, daß der vorherige Börsenboom spekulative Blasen enthielt, die durch Buchhaltungstricks von Finanzkonzernen ausgelöst worden waren. Namhafte US-amerikanische Unternehmen hatten Verluste als Gewinne ausgewiesen oder bei auswärtigen Briefkastenfirmen versteckt und sich dabei renommierter Wirtschaftsprüfungsunternehmen als Komplizen bedient. Ihnen wurden Bilanzfälschungen vorgeworfen. Damit war das Vertrauen der Kapitaleigner ernsthaft beschädigt. Der Einbruch der Aktienkurse von Enron und Worldcom hat nach dem Bekanntwerden kreativer Manipulationen und Falschbuchungen ein Börsenkapital im Wert von 30 Mrd. und ein Aktienkapital im Wert von 150 Mrd. US-Dollar vernichtet.

Die Signalwirkung des Mannesmann-Prozesses liegt wohl nicht im Aufdecken krimineller Energie bzw. strafrechtlicher Tatbestände etwa der Manipulation von Urkunden, die als Entscheidungsunterlage dienten. Der Vorwurf der Untreue gemäß §266 des Strafgesetzbuches wäre zu vage. Dessen Präzisierung im Sinn einer vorsätzlichen oder grob fahrlässigen Schädigung der Interessen der Aktionäre bzw. des Unternehmens, wie sie von der Rechtsprechung vorgenommen wurde, läßt sich schwer nachweisen. Der Vorwurf unangemessener Selbstbedienung setzt einen Maßstab voraus, der festlegt, was als angemessene Anerkennungsprämie zu gelten hat.

Der Mannesmann-Prozeß weist aber auf die monetären Risiken und die Instabilität der Finanzmärkte hin. Dem Verfall der Aktienkurse und der Abwertung des Dollar im Jahr 2000 ging nämlich eine Euphorie voran, die von dem ungebremsten wirtschaftlichen Wachstum in den Vereinigten Staaten ausging. Die Euphorie war von drei Antriebskräften gespeist: Übersteigerte Erwartungen in die Informations- und Kommunikationstechnik hatten die Investitionstätigkeit der Unternehmen angeregt. Anziehende Börsenkurse hatten den Wert der Geldvermögen gesteigert und einen Schub privater Konsumnachfrage ausgelöst. Die "Neue Wirtschaft", die junge dynamische Unternehmer, neue Technologien und offene Kapitalmärkte miteinander kombinierte, versprach eine überdurchschnittliche, inflationsfreie Produktivitätsentwicklung, und die steigenden Börsenkurse signalisierten ein ungewöhnliches Leistungspotential. Der hohe Beschäftigungsgrad, die niedrige Inflationsrate und eine wachstumsfreundliche Geldpolitik der Notenbank rundeten diese wirtschaftliche Erfolgsgeschichte ab.

Auch die Deutschen fühlten sich seit Mitte der 1990er Jahre im Börsenfieber. Der Anteil der Aktienvermögen am gesamten Geldvermögen in Deutschland war von 7 Prozent (1993) auf über 11 Prozent (2000) gestiegen. Die Börsen und Finanzmärkte wurden für junge Unternehmer, die sich in der Informations- und Kommunikationstechnik als besonders kompetent darstellen konnten, zu einer Bühne zündender Ideen und kreativer Fantasie. Während um das erste Sparpaket der rot-grünen Koalition, das ein Volumen von 15 Mrd. Euro hatte, jahrelang gerungen wurde, war es nicht schwierig, für die feindliche Übernahme von Mannesmann durch Vodafone 120 Mrd. Euro zu mobilisieren. War die gesellschaftliche Dynamik von den politischen Entscheidungsträgern zu den Börsen und Finanzmärkten gewechselt?

Rätsel Geld

Geld sei das letzte Rätsel der Nationalökonomie, erklärte vor einiger Zeit ein namhafter Vertreter des Fachs. Seitdem die Menschen mit Geld umgehen, unterlassen sie es nicht, es gleichzeitig anzuhimmeln und zu verteufeln. Die Sakralisierung und Dämonisierung des Geldes zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Religion, Literatur und Kunst. Die Dollarnote ist mit dem Bekenntnis versehen: "In God we trust". Im Evangelium nach Lukas werden die Menschen dagegen in die Entscheidung gerufen:

Kein Sklave kann zwei Herren dienen; er wird entweder den einen hassen und den andern lieben, oder er wird zu dem einen halten und den andern verachten. Ihr könnt nicht beiden dienen, Gott und dem Mammon.

Mammon wird in der Bibel zur Bezeichnung des unredlich erworbenen Vermögens, des Schmiergelds, einer Gesinnung von Ausbeutung, Gewalt und Unrecht gebraucht. In zahlreichen Gleichnissen warnt Jesus vor der Gefahr des Reichtums: Zwischen dem reichen Mann und dem armen Lazarus klafft ein unendlicher Abgrund. Wem wird all das gehören, was der reiche Mann in seinen Scheunen angehäuft hat, wenn Gott in dieser Nacht sein Leben zurückfordert? Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als daß ein Reicher in das Reich Gottes gelangt.

In einem Fragment Walter Benjamins findet sich die Deutung des Kapitalismus als Religion. Die Kennzeichen einer Religion treffen auf den Kapitalismus zu, weil dieser der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen und Unruhen dient, auf die ehemals die so genannten Religionen eine Antwort gaben. Für die religiöse Struktur des Kapitalismus sind nach Benjamin vier Züge erkennbar: Der Kapitalismus ist eine reine Kultreligion – ohne spezielle Dogmatik und Theologie. Er zelebriert einen Kult von permanenter Dauer; es gibt keinen Wochentag. Dieser Kult ist verschuldend; es gibt keine Umkehr, bloß ausweglose Steigerung von Armut, Angst und Verzweiflung. Der Gott dieser Religion, die gesteigerte Menschhaftigkeit muß verheimlicht werden. Der Kapitalismus hat sich parasitär auf dem Christentum entwickelt; die Ornamentik der Banknoten belegt, daß er, um den eigenen Mythos zu konstituieren, dem Christentum viele mythische Elemente entzogen hat. Umgekehrt hat das Christentum der Reformationszeit das Aufkommen des Kapitalismus begünstigt und sich in diesen umgewandelt.

Schon vor Walter Benjamin hatte der Sozialphilosoph Georg Simmel dem Geld eine (quasi)-religiöse Weihe verliehen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts analysierte er den Wert des Geldes in Abhängigkeit von der Wertschätzung der Menschen, die Geld nachfragen, um es gegen Güter zu tauschen. Der Wert entspricht dem Verhältnis zweier Verhältnisse, nämlich dem eines Geldbetrags zur gesamten Geldmenge und dem eines Gutes zum gesamten Gütervolumen. Geldkreislauf und Güterkreislauf sind in der Regel aufeinander bezogen, können aber auch voneinander getrennt sein. Über Geld zu reden, nötigt zur Reflexion über die Verteilung des Geldes, über Armut und Reichtum. Der Reiche ist dem Armen durch die Entscheidungsmacht überlegen, die ihm das Geld als Wertspeicher und Vermögensform zuspielt. Er kann wählen, wofür er sein Geld ausgibt. In den modernen Gesellschaften hat das Geld den Individuen innere Unabhängigkeit eröffnet, aber auch die lebensweltlichen Milieus zersetzt, die in moralischen und religiösen Überzeugungen verankert waren. Indem das Geld als "allgemeines Mittel" alle bedeutsamen Weltbezüge des Individuums herstellt, wird es zunehmend zum absoluten Mittel, zum Lebensmittelpunkt. Es gilt als absolutes Heilsmittel, als Selbstzweck. Unauffällig nimmt es religiöse Merkmale an, tritt an die Stelle der Religion und wird selbst Religion.

Niklas Luhmann hat Georg Simmels Diagnose aufgegriffen. Geld ist ein "symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium". Symbolisch, weil es die Einheit der Differenz von Zahlen und Nicht-Zahlen anzeigt. Generalisiert, weil es die soziale Kommunikation über den Kreis der Anwesenden hin ausweitet, in Geldbeziehungen transformiert und die anderen symbolischen Medien wie Pietät, Sympathie und Gerechtigkeit ersetzt. Das Geldmedium ist ambivalent, es kann verbinden und trennen. Bei ungleicher Verteilung unterbindet es die Anwendung von Gewalt ebenso wie die Rücksichtnahme auf Arme. In der bürgerlichen Gesellschaft ist die Allgegenwart Gottes durch die Allgegenwart des Geldes ersetzt.

Christliche Theologen bestehen zu Recht darauf, daß die Art und Weise, wie Menschen mit ihrem Geld umgehen, und die Art und Weise, wie sie ihre religiösen Erfahrungen deuten, methodisch radikal unterschieden werden sollten. Dennoch stehen sie vor der Wahl, stärker die Ähnlichkeit des jüdisch-christlichen Glaubens mit anderen religiösen Erfahrungen oder den Kontrast zu ihnen zu betonen. Falls sie in prophetischer Sprache die Geld- und Zivilisationskritik moderner Sozialphilosophen aufgreifen, riskieren sie, das Gespür für den Mittelcharakter des Geldes zu verlieren. Sie übersehen, daß Geld ein weltlich Ding, ein Kulturgut, Gottes gute Schöpfung ist, allerdings auch ein ambivalentes Machtmittel. Indem moderne Soziologen den Umgang der Menschen mit ihrem Geld und deren religiöse Überzeugungen miteinander vergleichen, unterstellen sie einen Religionsbegriff, der entweder so diffus ist, daß er sowohl auf persönliche Beziehungen als auch auf anonyme Geldgeschäfte paßt, oder so willkürlich ausgewählt ist, daß er nur fantasievolle Metaphern gestattet und vom geschichtlich-praktischen Selbstverständnis der jüdisch-christlichen Religion weit entfernt ist. Eine Unbekannte, das Geld, durch eine noch größere Unbekannte, die Religion, erklären zu wollen, bringt keinen Erkenntnisgewinn. Postmoderne Soziologen zögern nicht, die Frage, ob der Kapitalismus als eine Religion zu verstehen sei, vorbehaltlos zu bejahen. Sie sind davon überzeugt, daß eine streng sozio-ökonomische Analyse angesichts der weltanschaulichen Dimension des Kapitalismus und des Geldes zu kurz greift. Es sei erkenntnistheoretisch anmaßend, monetäre Strukturen oder Prozesse präzise erklären zu wollen. Denn die Dinge zerfließen, sobald man meint, sie erfaßt zu haben. Da es nicht mehr möglich sei, die Wahrheit zu finden, müsse es genügen, Kategorien zu nennen und zu sortieren, Geschichten zu erzählen und einfallsreiche Formulierungen zu zitieren. Recht und Unrecht unterscheiden zu wollen, sei überheblich. Denn die Sachverhalte werden nur in der Paradoxie mit wachsender Unentschiedenheit und mit fließenden Deutungen klar. Aber verdient das Geld als Schlüsselmedium der kapitalistischen Wirtschaft nicht zuerst eine sozio-ökonomische Funktionsanalyse, die an empirische Beobachtungen anschließt, und eine ethische Beurteilung, die durch politische Absichten vermittelt ist? Es liegt deshalb nahe, das Vakuum, das theologisch-dogmatische Reflexionen und sozialphilosophische Vergleiche hinterlassen, durch eine Funktionsanalyse der realen Finanzmärkte und durch eine politisch-ethische Reflexion zu füllen.

Ökonomische Ernüchterung

Die Definition des Geldes, die von Ökonomen stammt, wirkt auf den ersten Blick einfallslos: "Geld ist, was die Funktion des Geldes erfüllt". Immerhin soll damit verdeutlicht werden, daß der Wert des modernen Geldes nicht durch irgendeine Metallsubstanz bestimmt wird, sondern von seiner Funktion her. Die drei Funktionen der Recheneinheit, des allgemeinen (gesetzlichen) Tauschmittels und des Wertspeichers (Wertaufbewahrungsmittel) sind nicht unabhängig voneinander. So hängt die Funktion der Recheneinheit davon ab, daß die beiden anderen Funktionen erfüllt werden. Die Tauschmittelfunktion ginge verloren, wenn das Geld seine Funktion als Wertspeicher nicht mehr erfüllt, weil es wertinstabil geworden ist.

In der ökonomischen Analyse stand lange Zeit die Funktion des Geldes als Tauschmittel im Vordergrund. Die Vereinfachung des Tausches, die durch das Geld verursacht wird, indem niemand mehr mit Kühen oder Schafen, Ritterrüstungen oder Kornsäcken übers Land fahren muß, um den Partner zu finden, der genau die Waren sucht, die man selber anbietet, und der genau das hat, was man selber sucht, hat zu der Einsicht geführt, daß Geld eine geniale Erfindung und ein Kulturgut ist. Die Tauschmittelfunktion des Geldes wurde noch bekräftigt, indem man sich darüber verständigte, welches Gut als verbindliches Zahlungsmittel anerkannt und gegen Wertverfall gesichert werden sollte. Die Vermögensfunktion des Geldes wurde in Krisenzeiten und in der so genannten Portfolioanalyse "entdeckt". Mit deren Hilfe kann ermittelt werden, wovon die Höhe und die Zusammensetzung eines Depots von Vermögenswerten abhängt. Das Geld konkurriert nämlich mit anderen Vermögensgegenständen, etwa Schmuckstücken, Edelmetallen, Häusern und Wertpapieren. Gegenüber den geldnahen verbrieften Forderungen vermittelt es Zahlungsfähigkeit. Geld als "Vermögen höchster Liquidität" wird gegen andere Vermögensformen auf den Geld-, Kapital-, Wertpapier-, Kredit- und Devisenmärkten getauscht. Der Preis, der das Angebot und die Nachfrage nach Geld ausgleicht, ist der Zins.

Ein charakteristisches Merkmal kapitalistischer Marktwirtschaften und ihres dynamischen Wachstums ist die elastische Geldversorgung. Diese wird ermöglicht durch eine nahezu unbegrenzte Geldschöpfungsmacht des Bankensystems. Die privaten Geschäftsbanken können ihren Kunden Kredite gewähren in einem Geld, das sie selbst schaffen, so lange sie darauf vertrauen können, daß die Kunden die Banküberweisungen (und nicht nur das Zentralbankgeld) als Zahlungsmittel akzeptieren. Um die Funktionsfähigkeit des Geldes insbesondere als Wertspeicher zu gewährleisten, muß es wertstabil bleiben und relativ zu den realen Produktionsmöglichkeiten knapp gehalten werden. Diese Aufgabe wird nicht allein dem Markt überlassen, sondern bedarf einer öffentlichen Steuerung. Sie wird von den Zentralbanken übernommen, die sich darum bemühen, das Geld nach innen (gegenüber dem inländischen realen Produktionspotential) und nach außen (gegenüber anderen Währungen) wertstabil zu halten. Eine rigorose Politik der Zentralbank, den Geldwert nach innen stabil zu halten und die Inflation zu bekämpfen, indem die Geldmenge begrenzt oder der Preis des Geldes, der Zinssatz, erhöht werden, steht oft im Konflikt mit den Zielen eines dynamischen Wirtschaftswachstums und der Vollbeschäftigung. Soll der Außenwert der Währung stabil gehalten werden, ist die inländische Wirtschaft inflationären oder deflationären Entwicklungen in anderen Ländern ausgeliefert. Eine gleichzeitige Stabilisierung des Binnen- und Außenwertes ist nur möglich, wenn die wirtschaftlichen Entwicklungsprozesse im In- und Ausland aufeinander abgestimmt verlaufen.

Die Art der Wechselwirkung von monetärer und realwirtschaftlicher Sphäre wird in den Wirtschaftswissenschaften kontrovers diskutiert. Die neoklassische Theorie vertritt eine Art "Neutralität" des Geldes: Die Vermehrung der Geldmenge wirkt sich, indem alle Güter von der Teuerung betroffen sind, allenfalls auf das Preisniveau aus. Die Keynesianische Theorie erklärt die Schwankungen der Realwirtschaft unter anderem durch Umschichtungen von Vermögensbeständen (Portfolios), die private Unternehmen oder Haushalte vornehmen, wenn sie beim Erwerb von Geld, geldnahen Forderungen oder Sachanlagen alternative Renditeerwartungen hegen. In diese Kontroverse spielt die unterschiedliche Gewichtung des Geldes als Tauschmittel und Wertspeicher hinein.

Das außerordentliche Vertrauen des Publikums in die Funktionsfähigkeit des Geldes, das als Kredit von den privaten Geschäftsbanken bereitgestellt wird und für dessen Wertstabilität die Zentralbank einsteht, mag jene quasi-religiöse Weihe erklären, die dem Geld, den Banken, den Börsen und Finanzmärkten verliehen wird. Es gibt jedoch keinen ernsthaften Grund, einem Geldmythos anzuhängen. Vielmehr sollten der Umgang mit dem Geld nüchtern betrachtet und die Funktionen des Geldes, der Banken, Börsen und Finanzmärkte differenziert analysiert werden. Folglich kann das "monetäre Erwachen" der Fachökonomen nur begrüßt werden: Unter dem Druck der globalen Finanzmärkte hat die ökonomische Geldkritik den "Nebel" des Halbwissens (Nitsch) um das "Rätsel Geld" (Riese) gelichtet. Sie hat eine monetäre Alphabetisierung über die Rolle, die das Geld und die Institutionen der Geldsteuerung in einer kapitalistischen Marktwirtschaft spielen, angestoßen. Sie hat die angebliche Neutralität des Geldes widerlegt, das Gewicht des Geldes als Vermögensgegenstand im Rahmen einer Portfolioanalyse betont und die politische, machtbestimmte Dimension des Geldes aufgedeckt.

Börsen und Finanzmärkte

Da Geld ein Gut ist, das in Konkurrenz zu verbrieften Forderungen (Aktien, Staatsanleihen, Schuldverschreibungen) tritt, gibt es nicht nur Güter- und Arbeitsmärkte, sondern auch Geldmärkte. Geldmärkte sind der logische Ort der Nachfrage nach Geld und des Angebotes an Geld. Auch das Geld hat seinen Preis, nämlich den Zinssatz. Bei einem hohen Zinssatz steigt die Nachfrage nach Wertpapieren, während die Nachfrage nach Geld zurückgeht. Dementsprechend steigt unter sonst gleichen Umständen bei einem niedrigen Zinssatz die Nachfrage nach Geld, während die nach Wertpapieren sinkt.

Die Funktion der Börsen in einer Marktwirtschaft wird idealtypisch meist so erläutert: Als Wertpapierbörsen oder Devisenbörsen bilden sie neben den Kreditmärkten, Geldmärkten und Rentenmärkten ein Segment der monetären Sphäre. Der Börsenhandel ist allerdings nur ein Ausschnitt des Handels mit Forderungen überhaupt. Unter den Wertpapierbörsen haben die Aktienbörsen als "Perlen des Kapitalmarkts" eine herausragende Stellung. Aktienbörsen sind ein unverzichtbarer Bestandteil kapitalistischer Marktwirtschaften. Ihnen wird die Funktion zugeschrieben, Unternehmen – insbesondere kleinen und mittleren Unternehmen – an der Grenze der Selbstfinanzierung Kapital für rentable Investitionen optimal bereitzustellen und mit Liquidität auszustatten. Sie spielen eine bedeutende Rolle an den Nahtstellen kleiner und mittlerer Unternehmen, lokaler, regionaler und überregionaler Märkte, inländischer und ausländischer Engagements sowie von Einzelunternehmen und Gesellschaften. Zwischen der Fremdfinanzierung auf der Grundlage von Kreditbeziehungen, die insbesondere von Banken vermittelt werden, und der Eigenkapitalfinanzierung, die vor allem durch die Aktienbörse vermittelt wird, lassen sich zwar markante Gegensätze konstruieren. Tatsächlich aber verhalten sich beide Finanzierungsformen weithin komplementär.

Die Funktionen, die den Finanzmärkten idealtypisch zugesprochen werden, lassen sich so formulieren: Sie vermitteln Kapital zwischen Sparern und Investoren. Sie lenken das Kapital in diejenige Verwendung, aus der eine optimale Verzinsung zu erwarten ist. Sie bewerten verschiedene Vermögensformen und ermöglichen damit den Anlegern, Finanztitel nach den eigenen Präferenzen zusammenzustellen; eine höhere Rendite können diese in der Regel dann erwarten, wenn sie bereit sind, ein höheres Risiko einzugehen. Den Unternehmen wird das Kapital bereitgestellt, das diese für Investitionen benötigen. Finanzielle Risiken, die mit bestimmten wirtschaftlichen Aktivitäten verbunden sind, werden auf diejenigen verteilt, die sie am besten tragen können und wollen. Globale Geld- und Kapitalmärkte finanzieren und sichern den weltweiten Handel. Sie gestatten den Zugriff auf das Kapital jenseits nationaler Grenzen und überwinden die Barriere, die den Investoren durch das heimische Sparvolumen gesetzt ist. Sie liefern authentische Signale über das Leistungsvermögen von Unternehmen und spiegeln die öffentlich zugänglichen Informationen über alternative Investitions- und Anlagemöglichkeiten. Sie erzwingen einen dynamischen Wettbewerb zwischen weltweit operierenden Anlegern, Investoren und Banken sowie global einheitliche Realzinssätze. Sie sind selbststeuernd und verkörpern eine ökonomische Effizienz. Den Finanzmärkten wird auch die politische Funktion zugesprochen, nationale Regierungen zu kontrollieren. Es heißt, daß Anleihemärkte kritisch auf ein staatliches Handeln reagieren, das Inflationsgefahren heraufbeschwört. Devisenmärkte bestrafen geld- und währungspolitisches Versagen mit Abwertungen. Aktienmärkte spiegeln in der Bewertung von Unternehmen auch die Qualität der an deren Standort vertretenen Wirtschaftspolitik. Die international mobilen Anleger prüfen die Kosten und Nutzen staatlicher Leistungen, das Verhältnis von Abgabenlast und öffentlicher Infrastruktur sowie die Verteilung fiskalischer Lasten. Die autonomen Entscheidungen, die Hunderttausende von Anlegern täglich auf den Finanzmärkten treffen, wirken nach der Meinung von Finanzexperten wie ein Signal, das sensibler als vierjährige Parlamentswahlen auf vernünftige politische Entscheidungen reagiert.

Real existierende Finanzmärkte

Im Gegensatz zu solchen idealtypischen Konstrukten zeigen die real existierenden Finanzmärkte erhebliche Funktionsdefizite. In den 1970er Jahren waren es die Währungsturbulenzen begehrter und einflußreicher Währungen, die realwirtschaftlich nicht erklärt werden konnten, in den 1980er Jahren die Auslandsverschuldung der Schwellenländer und in den 1990er Jahren ein Kursverfall auf den Wertpapiermärkten sowie Banken- und Währungskrisen.

Nach der Aufkündigung der Systemregeln des Bretton-Woods-Währungssystems war die Bildung der Wechselkurse vollständig an private Akteure auf deregulierten und liberalisierten Märkten übergegangen. In der Folge haben sich die Finanzgeschäfte, noch mehr die abgeleiteten Finanzgeschäfte (Swaps, Futures, Optionen) explosionsartig entwickelt. Gleichzeitig mit dem Wachstum der Finanzmärkte wuchs die Zahl der ausländischen Bankfilialen in den USA, Japan und Europa. Außerdem wurden markante qualitative Veränderungen registriert. Die Verbriefung von Forderungen trat an die Stelle von Bankkrediten. Die Aktienmärkte übernahmen verstärkt die Funktion der Unternehmenskontrolle. Mit der privaten Absicherung des Wechselkursrisikos nahm die Futurisierung der Finanzgeschäfte zu. Die Informationen über zukünftige Risiken, die global getauscht werden, enthalten subjektive Erwartungen. In der Flatterhaftigkeit der Kurse und in den spekulativen Blasen, in technischen Rückkopplungen, irrationalen Stimmungsreflexen und kollektiven Ansteckungseffekten, in schwer erklärbaren Wechselkursschwankungen und spekulativen Währungsattacken erblickte man Anzeichen dafür, daß sich die internationalen Finanzmärkte von den fundamentalen Wirtschaftsdaten abgelöst haben. Dadurch wurde die Planungssicherheit von Unternehmen, die langfristige Investitionsentscheidungen treffen, beeinträchtigt. Spekulations- und Monopolgewinne wurden zur Orientierungsmarke von Renditeerwartungen auf den Finanzmärkten. Diese wiederum dienten den Unternehmen als Vergleichsmaßstab für die Rentabilität realer Investitionen.

Die real existierenden Finanzmärkte sind weder anonym noch atomistisch, sondern von Machtverhältnissen bestimmt. Marktbeherrschende Großbanken, Versicherungskonzerne und Investmentfonds aus den OECD-Staaten haben gegenüber breit gestreuten Kleinaktionären einen Informationsvorsprung und bessere Chancen, bedeutsame Informationen zu gewinnen, weiterzuleiten und zu beeinflussen. Risikoeinstufungen, die vom Urteil und den Entscheidungen weniger Meinungsführer dominiert werden, sind anfällig für Nachahmungsverhalten, kollektiv blinde Flecken und Stimmungsumschwünge. Schwerer wiegt die Macht der Leit- oder Ankerwährungen gegenüber den nicht konvertierbaren Währungen. Länder mit schwachen Währungen, die vermeiden wollen, daß ausländische Direktinvestoren abgeschreckt werden, flüchten in eine "Dollarisierung" oder "Euroisierung" ihrer Währung.

...

zurück zur Seite über Marktwirtschaft