Auszüge aus Erich Fromm's
"Von der Kunst des Zuhörens"

Therapeutische Aspekte der Psychoanalyse

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Welches Ziel hat die Psychoanalyse?

Die Frage, mit der ich beginnen möchte, ist zugleich auch die Grundfrage für alles weitere: Welches Ziel hat die Psychoanalyse? Dies ist eine einfache Frage, und es gibt auch eine einfache Antwort: Die Psychoanalyse zielt darauf, sich selbst zu erkennen. Selbsterkenntnis ist ein sehr altes menschliches Bedürfnis. Von den Griechen über das Mittelalter bis zur Gegenwart läßt sich die Vorstellung nachweisen, daß die Selbsterkenntnis die Grundlage der Erkenntnis der Welt ist – oder um es mit einer drastischen Formulierung von Meister Eckhart auszudrücken: „Es gibt nur einen einzigen Weg, Gott zu erkennen: sich selbst zu erkennen.“ Selbsterkenntnis ist eine der ältesten Sehnsüchte der Menschen. Sie ist eine Sehnsucht oder eine Zielsetzung, die ihre Wurzeln sehr wohl in objektiven Gegebenheiten hat.

Wie kann jemand die Welt erkennen, wie vermag jemand zu leben und richtig zu reagieren, wenn uns das Instrument zum Handeln und zur Entscheidung nicht bekannt ist? Wir sind der Führer dieses „Ichs“, das es irgendwie fertigbringt, daß wir in der Welt leben, Entscheidungen fällen, Prioritäten setzen und uns zu Werten bekennen. Wenn dieses Ich, dieses Subjekt, das entscheidet und handelt, uns nicht genügend bekannt ist, bedeutet dies, daß all unsere Handlungen und Entscheidungen halbblind oder nur in einem halbwachen Zustand erfolgen.

Es gilt, in Betracht zu ziehen, daß der Mensch im Unterschied zum Tier keine solchen Instinkte hat, die ihm sagen, wie er zu handeln hat, so daß das Tier auch gar nichts außer dem, was ihm die Instinkte sagen, wissen muß. Allerdings gilt diese Feststellung nur mit der Einschränkung, daß auch im Tierreich die Tiere etwas lernen müssen, und zwar selbst die auf niedrigem Evolutionsniveau. Instinkte funktionieren nicht ohne wenigstens ein Minimum an Lernen. Dieser Aspekt ändert aber nichts daran, daß die Tiere im großen und ganzen nicht viel „wissen“ müssen. Das Tier muß sehr wohl einige Erfahrungen gesammelt haben, die durch die Erinnerung vermittelt werden.

Der Mensch hingegen muß Erkenntnis haben, um entscheiden zu können. Seine Instinkte sagen ihm nicht, wie er sich entscheiden soll. Sie sagen ihm nur, daß er essen, trinken, sich verteidigen und schlafen muß und nach Möglichkeit auch, daß er Kinder hervorbringen soll, wobei der Trick der Natur darin besteht, daß sie den Menschen mit einem bestimmten Vergnügen oder einer Lust auf sexuelle Befriedigung ausgestattet hat. Doch das sexuelle Verlangen ist bei weitem kein so starkes instinktives Verlangen wie die anderen Triebe und Impulse. Das Verlangen, sich selbst zu kennen, ist deshalb nicht nur unter einer spirituellen, religiösen, moralischen oder menschlichen Perspektive eine Bedingung des Menschen, sondern auch bei biologischer Betrachtungsweise.

Das Optimum an Lebensfähigkeit hängt vom Grad der Kenntnis über uns selbst ab. Diese Kenntnis ist das Instrument, mit dem wir uns in der Welt orientieren und unsere Entscheidungen treffen. Offensichtlich ist es so: Je besser wir uns selbst bekannt sind, desto richtiger sind unsere Entscheidungen, die wir treffen. Und je weniger wir uns kennen, desto unklarer müssen unsere Entscheidungen ausfallen. ...

Die Fähigkeit zu psychischem Wachstum

Angesichts der heute so weit verbreiteten Charakterneurosen erhebt sich um so dringlicher die Frage: Warum entwickelt sich ein Mensch in eine Richtung, daß er neurotisch und unglücklich wird? Warum kann er nicht das sein, was er zu sein sich wünscht? Warum ist er so wenig glücklich mit seinem Leben?

Meine Überlegungen zu diesen Fragen sind das Ergebnis meiner Beobachtungen des Lebens: Ich gehe von einem allen Menschen, allen Tieren, jedem Saatkorn innewohnenden allgemeinen Gesetz aus, leben zu wollen und ein Optimum an Lust und Befriedigung im Leben zu erhalten. Niemand wünscht sich, unglücklich zu sein, nicht einmal der Masochist, denn für ihn ist der Masochismus jener besondere Weg, auf dem er zu einem Optimum an Lust kommt. Der Grund, warum Menschen gesünder oder weniger gesund sind, warum sie mehr oder weniger leiden, ist in der Tatsache zu sehen, daß die Bedingungen für ihr Wachstum, richtiger gesagt: für ein dem Menschen mögliches Maximum an Wachstum nicht günstig sind. Zu den Bedingungen für ihr Wachstum gehören die konkreten Lebensumstände, die Fehler, die sie machen, die Irreführungen in ihrem Leben, die vom dritten Lebensjahr systematisch vorhanden sind; manchmal gehören auch konstitutionelle Faktoren dazu und eine besondere Kombination von Umständen. Dieses alles führt dazu, daß sie ihr eigenes Heil auf eine verkrüppelnde Art suchen.

Ich vergleiche die behinderten psychischen Wachstumsmöglichkeiten mit einem Baum in einem Garten. Er wächst zwischen zwei Mauern in einer Ecke und bekommt nur wenig Sonne. Er ist völlig krumm gewachsen, aber er wuchs so unansehlich, weil es für ihn die einzige Möglichkeit war, Sonnenlicht zu erreichen. Beim Menschen würde man sagen, dies ist ein fürchterlich verwachsener Mensch, weil er durch und durch krumm ist. Gemessen an seinen Möglichkeiten ist er nicht das, was er eigentlich sein sollte. Aber warum ist er so geworden? Nun, er ist so geworden, weil dies die einzige Möglichkeit war, Licht zu bekommen. Eben dies möchte ich damit sagen: Jeder Mensch versucht, Sonne zu bekommen, um im Leben wachsen zu können. Sind aber die Lebensumstände so, daß er dies nicht auf eine eher positive Weise tun kann, dann wird er es auf eine verbogene Weise tun, wobei „verbogen“ hier den kranken Weg symbolisiert. Er ist entstellt, und doch ist er immer ein menschliches Wesen, das alles tut, um eine Lösung für sein Leben zu finden. Dies sollte man nie vergessen.

Trifft man auf einen Menschen, der an dieser Malaise leidet, sollte man auch nie vergessen, daß sich dieser Mensch auf diese Weise entwickelt hat und daß er noch immer nach einer Lösung für sein Leben Ausschau hält. Er ist bemüht, sie zu finden. Man sollte nicht vergessen, daß es viele Umstände gibt, die es ihm extrem schwer machen, die ihn vielleicht sogar dazu bringen, Widerstand zu leisten, weil er sich derart vor jedem Versuch, ihm bei der Änderung seines Kurses zu helfen, fürchtet.

Es ist eine schwierige, ja außerordentlich schwierige Aufgabe, sich selbst zu ändern und eine wirkliche Veränderung des Charakters zu erreichen. Darum bemühten sich alle Religionen, es war und ist das Ziel von Philosophien, schon in der griechischen Philosophie, aber auch in einigen modernen Philosophien. Diesbezüglich macht es keinen Unterschied, ob man vom Buddhismus, vom Christentum, vom Judentum, von Spinoza oder von Aristoteles spricht. Sie alle haben Anweisungen herauszufinden versucht, wie der Mensch sich zum Besseren verändern kann und zu einer besseren, höheren, gesünderen, freudvolleren, stärkeren Art zu leben kommen kann.

Die meisten Menschen handeln aus einem Pflichtgefühl heraus, weil sie jemandem etwas schulden. Dies zeigt, daß sie abhängig sind. Sie haben jenen Punkt des Selbstbewußtseins noch nicht erreicht, an dem sie von sich sagen können: „Dies bin ich, dies ist mein Leben, davon bin ich überzeugt, dies fühle ich, ich handle nicht gemäß meiner Laune, denn dies wäre irrational, sondern gemäß dem, was man den rationalen Ausdruck meiner selbst nennen könnte.“ Man könnte auch sagen, ich handle gemäß den wesentlichen Erfordernissen oder den wesentlichen Kräften meiner Persönlichkeit, wobei hier mit „wesentlich“ das gemeint ist, was zum Wesen von mir als Mensch gehört. Und diese Kräfte sind genau das Gegenteil von jenen Trieben, die irrational sind.

Was heißt eigentlich „rational“? Whitehead sagt, daß es „die Funktion der Vernunft ist, der Lebenskunst zu dienen“ (A. N. Whitehead, 1967, S. 4). In meinen eigenen Worten bedeutet dies: Rational sind alle Handlungen und ist jedes Verhalten, womit das Wachstum und die Entwicklung einer Struktur gefördert werden. Irrational sind all jene Handlungen und Verhaltensweisen, die das Wachstum und die Struktur eines Wesens, sei es einer Pflanze oder des Menschen, verlangsamen oder zerstören. Die rationalen Handlungen und Verhaltensweisen sind nach der Darwinschen Theorie ein fester Bestandteil der Überlebenswunsches des Einzelwesens wie der Spezies. Da sie grundsätzlich die Interessen des einzelnen und der Spezies fördern, sind sie rational. Die Sexualität ist etwas völlig Rationales. Hunger und Durst sind ganz und gar rational.

Das Problem des Menschen besteht darin, daß er nur ganz wenig durch Instinkte bestimmt ist. Wäre der Mensch ein Tier, dann wäre er völlig rational – wie eben jedes Tier ganz rational ist. Wir müssen hier allerdings unsere Denkgewohnheit aufgeben und das Rationale nicht mit dem Intellektuellen verwechseln. Das Rationale hat nicht notwendig nur mit dem Denken zu tun, es bezieht sich in Wirklichkeit genauso auf ein Tun. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Wenn jemand eine Fabrik in eine Gegend baut, wo es kaum und nur teure Arbeitskräfte gibt, und wenn er mehr Arbeitskräfte als Maschinen benötigt, dann handelt er vom Ökonomischen her irrational. Sein Handeln muß ja sein ökonomisches System schwächen und schließlich zerstören, und er wird dies daran merken, daß er nach einem oder zwei Jahren bankrott sein wird.

Seit Frederick Winslow Taylor sprechen die Ökonomen von „Rationalisierung“, worunter sie etwas völlig anderes verstehen, als die Psychoanalyse meint. Bei der Rationalisierung im ökonomischen Sinne werden die Arbeitsmethoden so geändert, daß sie vom Standpunkt des optimalen Funktionierens dieser ökonomischen Einheit, nicht vom menschlichen Standpunkt aus, angemessener sind. Hier spricht man also von „rational“.

Was den Menschen betrifft, so sind nicht seine instinktiven Triebe irrational, sondern seine Leidenschaften. Beim Tier gibt es weder Neid, noch hat seine Destruktivität Selbstzweck, noch zeigt es Züge von Sadismus; es will weder ausbeuten noch hat es den Wunsch, Kontrolle ausüben. All dies sind Leidenschaften, die es zumindest bei den Säugetieren so gut wie nicht gibt. Beim Menschen entwickeln sie sich, aber nicht deswegen, weil sie in seinen instinktiven Trieben wurzeln; vielmehr haben sie ihren Ursprung in bestimmten pathologischen Umweltbedingungen, die diese pathologischen Züge des Menschen hervorbringen. Auch dies soll ein einfaches Beispiel verdeutlichen: Wer aus einem Setzling einer Rose einen voll in Blüte stehenden Rosenstock wachsen lassen will, der muß genau wissen, wieviel Feuchtigkeit, welche Temperatur, welche besondere Art von Erde er braucht und zu welcher Jahreszeit er gesetzt werden muß. Sofern diese Voraussetzungen gegeben sind und es zu keinem Insektenbefall kommt oder andere außerordentliche Umstände eintreten, wird sich dieser Setzling zu einem schönen Rosenstock entwickeln. Wird der Setzling jedoch in eine zu feuchte Erde gesetzt, wird er eingehen; wird er unter nicht optimalen Bedingungen wachsen, dann wird er zwar zu einem Rosenstock auswachsen, doch dieser wird beim Wachsen, an den Blüten, an den Blättern, ja überall Mängel zeigen. Der Setzling hatte nämlich nur die Möglichkeit, sich voll zu entwickeln, wenn die genannten Voraussetzungen gewährleistet sind, wobei die für diesen Setzling optimalen Wachstumsbedingungen nur durch Erfahrung gefunden werden können. ...

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