Erich Fromm

Aggression und Charakter Auszüge
Das Hauptproblem liegt – ganz allgemein gesehen – darin, daß das Wort »Aggression« in einer wahllosen und indiskriminierenden Weise gebraucht wird. Man versteht unter Aggression Dinge, die miteinander überhaupt nichts zu tun haben. Aggression wird genannt das aktive offensive Vorgehen eines Menschen im Sinne der Urbedeutung von »Aggression«, abgeleitet vom lateinischen Wort »agredi«, also einen Schritt vorwärts machen. Aggression wird genannt, wenn sich jemand gegen die Drohung, getötet zu werden mit einem Akt der Gewalt verteidigt, z. B. den Bedroher erschießt, um sein Leben zu retten. Aggression wird genannt, wenn jemand Freude daran hat, einen anderen zu quälen und zu kontrollieren. Aggression wird genannt, wenn jemand Lust daran hat, Menschen und Dinge zu zerstören. Aggression wird von manchen Analytikern sogar genannt, wenn der Bauer die Erde pflügt, denn der Erde wird damit etwas »angetan«, sie wird im Akt des Pflügens sozusagen »angegriffen«. Nun ist aber ganz klar, daß, wenn man nicht nur isoliert auf die Handlungsweise des jeweils Handelnden abzielt, der Mensch, der sich dagegen wehrt, getötet zu werden oder daß ein anderer getötet wird, und der Mensch, der ein Lustmörder ist oder der aus Lust zerstört, überhaupt nichts miteinander zu tun haben, außer dem Wort »Aggression«. Es kommt also zunächst einmal darauf an, die Begriffe zu trennen. Das ist jedoch nur möglich, wenn man nicht auf die Handlung selbst als etwas Isoliertem ausgerichtet ist, sondern wenn man sie auf den handelnden Menschen bezieht.
Vielleicht kann ich das an einem kleinen Beispiel deutlich machen. Nehmen wir einmal an, zwei Väter schlagen ihre Söhne: der eine ist ein freundlicher, besorgter, liebender Vater, der andere ist ein Sadist. Der Sadist rationalisiert, wenn er ein »moralischer« Mensch ist, sein Verhalten damit, daß er vorgibt, die Schläge seien gut für das Kind. In Wirklichkeit wird er aber getrieben und motiviert von seinen sadistischen Impulsen. Die Handlung selbst ist verschieden, je nach der Motivierung, das können Sie am besten an der Reaktion des geschlagenen Kindes sehen. Für das Kind des liebenden, sich sorgenden, konstruktiven Vaters haben diese Schläge keinen großen Effekt. Sie sind nicht, was man manchmal in der Psychoanalyse ein »Trauma« nennt, das ihm nun durchs Leben nachfolgt, weil die Beziehung zum Vater durch die Schläge zerstört ist; nein, sie ist etabliert auf der Ebene des Vertrauens. Das Kind kennt den Vater und weiß, daß sich trotz der Schläge nichts an seiner liebenden Haltung zu ihm ändert. Aber bei dem anderen Vater, dem Sadisten, wenn man da genauer hinsieht, erkennt man das Glitzern in seinen Augen, den besonderen Gesichtsausdruck, die spezifische Art, wie er das Kind behandelt, selbst der Klang seiner Stimme verrät ihn. Das Kind fühlt sich durch ihn gedemütigt, geschändet, entwürdigt, und für dieses Kind ist das Schlagen tatsächlich – wenn auch nicht gerade ein Trauma – so doch ein wichtiges Symptom einer kontinuierlichen Beziehung, in der es der Vater entwürdigen und kontrollieren will.

Anatomie der menschlichen Destruktivität Auszüge
Diese Untersuchung ist der erste Band einer umfassenden Arbeit über die psychoanalytische Theorie. Ich habe mit der Untersuchung der Aggression und Destruktivität nicht nur deshalb angefangen, weil sie zu den grundlegenden theoretischen Problemen der Psychoanalyse gehört, sondern weil die Welle der Destruktivität, die die Welt überschwemmt, diese Untersuchung auch auf praktischem Gebiet höchst bedeutungsvoll erscheinen läßt. ...
Wenn ein Mensch geboren wird, kommt er keineswegs ohne »Gesicht« auf die Welt. Er wird nicht nur mit genetisch determinierten Anlagen hinsichtlich seines Temperaments und anderer ererbter Dispositionen geboren, welche die Ausbildung gewisser Charakterzüge vor anderen begünstigen, auch vorgeburtliche Ereignisse und die Geburt selbst bewirken zusätzliche Dispositionen. All dies formt sozusagen das »Gesicht« des Betreffenden bei seiner Geburt. Dann kommt er mit einer speziellen Umwelt – seinen Eltern und anderen signifikanten Personen seiner Umgebung – in Kontakt und reagiert darauf, was seine weitere Charakterentwicklung beeinflußt. Mit achtzehn Monaten ist der Charakter des Kindes weit definitiver geformt und determiniert, als er es bei seiner Geburt war. Trotzdem ist er noch nicht endgültig fertig, und seine Entwicklung kann je nach den auf ihn ausgeübten Einflüssen in verschiedenen Richtungen erfolgen. Im Alter von sechs Jahren etwa ist der Charakter noch stärker determiniert und festgelegt, doch verliert er damit nicht die Fähigkeit sich zu ändern, vorausgesetzt, daß neue signifikante Umstände eintreten, die eine solche Veränderung veranlassen. Allgemeiner gesagt ist die Charakterbildung und -fixierung als eine gleitende Skala anzusehen. Der Mensch bringt gewisse Eigenschaften mit auf die Welt, die ihn für eine bestimmte Entwicklung disponieren, doch ist seine Persönlichkeit noch so formbar, daß sich der Charakter innerhalb eines gegebenen Rahmens in vielen verschiedenen Richtungen entwickeln kann. Jeder Schritt im Leben schränkt die Zahl zukünftiger möglicher Entwicklungen weiter ein. Je mehr ein Charakter fixiert ist, um so stärker muß der Eindruck der neuen Faktoren sein, wenn sie fundamentale Richtungsänderungen in der weiteren Entwicklung des Systems bewirken sollen. Schließlich wird dann die noch verbleibende Möglichkeit zu einer Änderung so minimal, daß nur noch ein Wunder eine Wandlung herbeiführen könnte.

Authentisch leben Auszüge
Der gegenwärtige Mensch hat mehr als der Mensch irgendeiner früheren Geschichtsepoche den Versuch gemacht, das Leben der Gesellschaft nach rationalen Prinzipien zu ordnen, es in der Richtung des größten Glückes für die größte Zahl der Menschen zu verändern und den einzelnen aktiv an dieser Veränderung zu beteiligen. Er hat gleichzeitig die Natur in einem bisher nie gekannten Maß bezwungen. Seine technischen Leistungen und Erfindungen stehen einer Verwirklichung aller Träume nahe, die je von der Herrschaft des Menschen über die Natur und seiner Macht geträumt worden sind. Er hat einen bisher ungeahnten Reichtum geschaffen, der zum ersten Mal in der Geschichte die Möglichkeit eröffnet, die materiellen Bedürfnisse aller Menschen zu befriedigen. Nie zuvor ist der Mensch so Meister der materiellen Welt gewesen.
Andererseits aber weist der gegenwärtige Mensch gerade schroff entgegengesetzte Charakterzüge auf. Er produziert eine Welt der großartigsten und wunderbarsten Dinge; aber diese seine eigenen Geschöpfe stehen ihm fremd und drohend gegenüber; sind sie geschaffen, so fühlt er sich nicht mehr als ihr Herr, sondern als ihr Diener. Die ganze materielle Welt wird zum Monstrum einer Riesenmaschine, die ihm Richtung und Tempo seines Lebens vorschreibt. Aus dem Werk seiner Hände, bestimmt, ihm zu dienen und ihn zu beglücken, wird eine ihm entfremdete Welt, der er demütig und ohnmächtig gehorcht. ...
In den neurotischen Fällen wird der Inhalt des Ohnmachtsgefühls etwa folgendermaßen beschrieben: Ich kann nichts beeinflussen, nichts in Bewegung setzen, durch meinen Willen nicht erreichen, daß irgend etwas in der Außenwelt oder in mir selbst sich ändert, ich werde nicht ernstgenommen, bin für andere Menschen Luft.

Bachofens Entdeckung des Mutterrechts
Auf Grund seiner Erforschung der römischen, griechischen und ägyptischen Mythen und Symbole kam Bachofen zu der Erkenntnis, daß die patriarchale Struktur der Gesellschaft, wie sie für die gesamte Geschichte der zivilisierten Welt typisch ist, relativ neuen Datums ist. Ihr sei eine Kultur vorausgegangen, in der die Mutter das Haupt der Familie war, die Führung der Gesellschaft wahrnahm und die Große Göttin war. Bachofen nahm außerdem an, daß dieser matriarchalischen Phase am Beginn der Geschichte noch die rohere, weniger zivilisierte Gesellschaftsform des Hetärismus vorausgegangen sei. Diese habe sich völlig auf die natürliche Produktivität der Frau gegründet, hatte weder Heirat noch Gesetz, Prinzipien oder Ordnung gekannt und sei eine Lebensform gewesen, die sich mit dem wilden Wachstum von Sumpfpflanzen vergleichen läßt. Die matriarchalische Phase liegt also zwischen der niedrigsten und der bisher höchsten Phase menschlicher Entwicklung, dem Patriarchat. In diesem regiert der Vater als Repräsentant der Prinzipien von Recht, Vernunft, Gewissen und hierarchischer gesellschaftlicher Organisation.

Das Menschliche in uns Auszüge
Dieses Buch greift Gedankengänge auf, die in einigen meiner früheren Veröffentlichungen dargestellt worden sind, und versucht, sie weiterzuentwickeln. In Die Furcht vor der Freiheit behandelte ich das Problem der Freiheit sowie den Sadismus, Masochismus und den Zerstörungsdrang; in der Zwischenzeit haben mich sowohl klinische Erfahrungen als auch theoretische Spekulationen zu einem, wie ich meine, tieferen Verständnis der Freiheit sowie der verschiedenen Erscheinungsformen der Aggression und Destruktivität geführt. Ich habe zwischen verschiedenen Aggressionsarten, die direkt oder indirekt im Dienste des Lebens stehen, und jener bösartigen Form, der Nekrophilie, die eine echte Liebe zum Tode ist (im Gegensatz zur Biophilie) unterscheiden können. In Psychoanalyse und Ethik habe ich das Problem ethischer Normen erörtert, die auf unseren Kenntnissen von der menschlichen Natur und nicht auf Offenbarungen und vom Menschen gemachten Gesetzen und Konventionen beruhen. In diesem Buch dringe ich weiter in den Problemkreis ein und behandele das Wesen des Bösen und die Wahl zwischen Gut und Böse. Und schließlich stellt dieses Buch in gewisser Hinsicht das Gegenstück zu »Die Kunst des Liebens« dar. Während dort das Hauptthema die Liebesfähigkeit des Menschen war, so ist es hier seine Fähigkeit zu zerstören, sein Narzißmus und seine inzestuöse Fixierung. Während die Erörterung der Nicht-Liebe den größeren Teil des Buches einnimmt, wird auch das Problem der Liebe behandelt, und zwar in einem neuen, weitergefaßten Sinne: der Liebe zum Leben. Ich versuche nachzuweisen, daß Liebe zum Leben, Unabhängigkeit und Überwindung des Narzißmus ein »Wachstumssyndrom« bilden, im Gegensatz zum »Verfallssyndrom«, das aus der Liebe zum Tode, der inzestuösen Symbiose und dem bösartigen Narzißmus erwächst.

Das Unbewusste und die psychoanalytische Praxis
Gebraucht man den Begriff »Verdrängung«, wie er gewöhnlich bei Freud und in der psychoanalytischen Literatur benützt wird, dann denkt man in erster Linie an etwas, das bewußt war und dann verdrängt wurde. Nach meinem Verständnis bezeichnet das Unbewußte sowohl etwas, das einmal bewußt war, als auch etwas, dessen wir noch nie gewahr wurden. Deshalb wäre es wohl angebrachter, statt von Verdrängung von Dissoziation zu sprechen, weil man mit Dissoziation beiden Aspekten besser gerecht wird: dem, dessen wir einmal bewußt waren, und dem, dessen wir noch nie gewahr wurden. Allerdings bringt der Begriff »Dissoziation« – im Unterschied zum Begriff »Verdrängung« – nicht mehr so gut zum Ausdruck, daß etwas zurückgedrängt wird.

Der angebliche Radikalismus von Herbert Marcuse
Aus zwei Gründen fühle ich mich genötigt, mich eigens mit den Schriften von Herbert Marcuse auseinanderzusetzen: Erstens vertritt er mir völlig entgegengesetzte Auffassungen, obwohl er in gewissen Fragen eine ähnliche Linie des kritischen Denkens hat, wie ich sie nicht nur in meinen frühen Arbeiten seit Beginn der dreißiger Jahre, sondern auch in »Die Furcht vor der Freiheit« (1941a) und in den nachfolgenden Büchern ausgedrückt habe. Ich denke, daß ich meine eigene Position noch verdeutlichen kann, wenn ich, und sei es nur knapp, einige der wichtigsten Theorien erörtere, die Marcuse entwickelt hat. Der zweite Grund ist wichtiger: Marcuse neigt dazu, durch seine falschen Interpretationen von Freud (und Marx) und außerdem durch sein oft irreführendes und widersprüchliches Denken den Geist vieler Leser zu verwirren, und dies besonders bei einigen Anhängern der radikalen Linken. Ich glaube, daß diese Wirkung gefährlich ist. Hört radikales Denken auf, kritisch und rational zu sein, dann hört es auch auf, »radikal« zu sein, das heißt an die Wurzeln zu gehen; es wird abenteuerlich und führt zu irrationalen Handlungen.

Der Einfluß gesellschaftlicher Faktoren auf die Entwicklung des Kindes
Das Ziel der Erziehung von Kindern ist nicht nur, ihnen mehr oder weniger intellektuelles Wissen zu vermitteln oder Werte wie Ehre, Mut, etc. beizubringen. Die Funktionen jedes Individuums innerhalb der Gesellschaft gehen weit über das Erwähnte hinaus: Sie müssen es lernen, entsprechend den Normen zu arbeiten und zu konsumieren, die die Produktionsmittel und Konsummuster der Gruppe und Gesellschaft erfordern, in der sie leben. Nehmen wir als Beispiel eine primitive Gesellschaft, einen Stamm, der auf einer kleinen Insel in der Mitte des Ozeans lebt und der sein Überleben nur durch Fischen sichert. Nehmen wir des weiteren an, daß die Fischart in diesen Gewässern die Zusammenarbeit der Fischer erforderlich macht. Es liegt auf der Hand, daß die Bewohner solch einer Insel den Wunsch nach Kooperation entwickeln und zu einer friedlichen Koexistenz genötigt sind. Dasselbe gilt für bestimmte Arten von ausschließlich agrarischen Gesellschaften. Im Gegensatz dazu werden die erforderlichen Charakterzüge eines Jäger- und Kriegerstammes, dessen Leben von der Jagd oder der Eroberung anderer Stämme abhängt, eher Aggressivität, Kampfbereitschaft und Stolz auf persönliche Tapferkeit sein. Noch einmal anders lagen die Dinge in einer feudalen Gesellschaft: Die Mitglieder der oberen Klasse mußten die Fähigkeit zur Führerschaft und, wir könnten hinzufügen, das Bedürfnis zur Ausbeutung anderer entwickeln; der Einzelne hatte sich ein Gefühl von Stolz anzueignen, das an Arroganz grenzt, und er mußte es lernen, an der Überfülle von Zeit und ihrer Verschwendung Befriedigung zu finden. Zugleich hatten die Mitglieder der unteren Klassen die Qualitäten des Gehorsams und der Geduld zu erlernen, die zum Ertragen des Elends nötig sind.

»Dianetik« – die Heilslehre der Scientology-Church
Noch nie hatten die Menschen ein größeres Interesse an der Psychologie und der Kunst des Lebens als heute. Der Anklang, den Bücher finden, die diese Themen behandeln, ist ein Anzeichen für die ernsthafte Beschäftigung vorrangig mit den menschlichen, und weniger mit dem materiellen Aspekten des Lebens. Unter diesen Büchern finden sich einige, die das Bedürfnis nach einer rationalen Anleitung befriedigen, zugleich aber auch andere, die sich an Leser wenden, die nach einem vorfabrizierten Glück und wunderhaften Heilungen suchen. »Dianetik« ist das letzte in der Reihe dieser Bücher, und der Autor benutzt alle Mittel des Erfolgs mit einer erstaunlichen Leichtfertigkeit. »Die Schöpfung der Dianetik ist ein Meilenstein für den Menschen, der Entdeckung des Feuers vergleichbar und den Erfindungen von Rad und Bogen überlegen.« Der Autor beansprucht, nicht nur die »einzige Quelle für jede Art von Neurose, Psychose, Kriminalität und psychosomatischer Krankheit« entdeckt zu haben, sondern auch eine Therapie, die all diese Krankheiten heilt. »Dianetik heilt und sie heilt ohne zu versagen.«

Die Bedeutung der Psychoanalyse für die Zukunft
Ich möchte mit meinem Vortrag zum einen die Fragwürdigkeit mancher alter Erkenntnisse aufzeigen, dann aber von den Richtungen sprechen, in die in der Zukunft vielleicht der Weg von Freud weitergeführt wird. Ich werde mit einer allgemeinen Erörterung beginnen, in der ich – notwendigerweise ganz kurz nur – ein Problem behandle, das in Wirklichkeit ein ungeheuer kompliziertes und weitreichendes ist, das aber, um über Freud zu sprechen, eine notwendige Voraussetzung darstellt. Ich möchte zunächst über die sozial bedingte notwendige Fehlerhaftigkeit jeder Theorie sprechen.

Die Determiniertheit der psychischen Struktur durch die Gesellschaft
Zur Methode und Aufgabe einer Analytischen Sozialpsychologie
Die Sozialpsychologie ist nach zwei Seiten hin ausgerichtet. Auf der einen Seite behandelt sie das Problem, inwiefern die psychische Struktur des Menschen durch gesellschaftliche Faktoren bestimmt ist, auf der anderen Seite, inwiefern die psychische Struktur selbst als beeinflussender und verändernder Faktor im gesellschaftlichen Prozess wirksam wird. Beide Seiten des Problems sind unlösbar miteinander verknüpft. Die psychische Struktur, die wir als wirksam im gesellschaftlichen Prozess erkennen können, ist selbst schon das Produkt dieses Prozesses, und ob wir die eine oder die andere Seite betrachten, die Frage ist nur, welcher Aspekt des Gesamtproblems jeweils im Mittelpunkt unseres Interesses steht.

Die dialektische Revision der Psychoanalyse
Eine kreative Erneuerung der Psychoanalyse ist nur möglich, wenn sie den positivistischen Konformismus überwindet und wieder zu einer kritischen, herausfordernden Theorie aus dem Geist des Humanismus wird. Eine derart revidierte Psychoanalyse wird fortfahren, noch tiefer in die »Unterwelt« des Unbewußten hinabzusteigen; sie wird allen gesellschaftlichen Arrangements gegenüber, die den Menschen entstellen und deformieren, kritisch sein; und sie wird sich auf jene Prozesse konzentrieren, die zur Anpassung der Gesellschaft an die Bedürfnisse des Menschen führen können, anstatt zur Anpassung des Menschen an die Gesellschaft.

Die Entdeckung des gesellschaftlichen Unbewußten Auszüge
Vor allen Dingen ist der Mensch ein gesellschaftliches Wesen. Ihr besonderes Augenmerk richtet die revidierte Psychoanalyse auf jene psychischen Phänomene, die die Pathologie der gegenwärtigen Gesellschaft begründen: auf Entfremdung, Angst, Einsamkeit, auf die Angst vor tiefreichenden Gefühlen, auf den Mangel an Tätigsein und auf das Fehlen von Freude. Diese Symptome haben die zentrale Rolle übernommen, die die Verdrängung der Sexualität zur Zeit Freuds innehatte. Die psychoanalytische Theorie muß deshalb so gefaßt werden, daß sie die unbewußten Aspekte dieser Symptome und ihre krank machenden Bedingungen in Gesellschaft und Familie verständlich macht. Darüber hinaus muß die Psychoanalyse die »Pathologie der Normalität« erforschen, jene chronische, leichte Schizophrenie, die von der kybernetisch organisierten, technologischen Gesellschaft von heute und morgen erzeugt wird. Die Triebe können regressiv, archaisch und selbst-destruktiv sein, oder sie können dem Menschen zu seiner vollen Entfaltung verhelfen und eine Einheit mit der Welt unter der Bedingung von Freiheit und Integrität herstellen. In diesem günstigen Fall sind seine das Überleben transzendierenden Bedürfnisse keine Ausgeburt von Unlust und »Mangel«, sondern das Ergebnis seines Reichtums an Möglichkeiten, die ihn leidenschaftlich danach streben lassen, sich in die Objekte, die ihnen entsprechen, zu ergießen: Ein solcher Mensch wünscht zu lieben, weil er ein Herz hat; er denkt gerne, weil er ein Gehirn hat; er möchte berühren, weil er eine Haut hat.

Die Furcht vor der Freiheit Auszüge
Dieses Buch ist Teil einer umfassenden Untersuchung, welche die Charakterstruktur des modernen Menschen und die Probleme der Wechselwirkung zwischen psychologischen und soziologischen Faktoren behandelt, mit der ich mich seit mehreren Jahren beschäftige und die noch lange nicht abgeschlossen ist. Die gegenwärtigen politischen Entwicklungen und die Gefahren, die sie für die größte Leistung der modernen Kultur – für die Individualität und Einmaligkeit des Menschen – mit sich bringen, haben mich jedoch bewogen, meine Arbeit an einer umfassenderen Untersuchung zu unterbrechen und mich auf einen bestimmten Aspekt zu konzentrieren, der mir für die kulturelle und gesellschaftliche Krise unserer Tage besonders wichtig ist: die Bedeutung der Freiheit für den modernen Menschen. Es würde mir die Arbeit erleichtern, könnte ich in diesem Buch den Leser auf eine abgeschlossene Untersuchung der menschlichen Charakterstruktur hinweisen, weil man die Bedeutung der Freiheit nur wirklich verstehen kann, wenn man die gesamte Charakterstruktur des modernen Menschen analysiert. So muß ich mich immer wieder auf bestimmte Begriffe und Schlußfolgerungen beziehen, ohne sie so ausführlich erläutern zu können, wie ich es getan hätte, wäre die ganze Weite des Problems bereits erfaßt. Was andere, ebenfalls höchst wichtige Probleme betrifft, so konnte ich oft nur im Vorübergehen und manchmal überhaupt nicht auf sie eingehen. Aber ich habe das Gefühl, daß der Psychologe unverzüglich zum Verständnis der gegenwärtigen Krise alles beisteuern sollte, was er zu bieten hat, selbst unter Aufgabe seines Wunsches nach Vollständigkeit.

Die Kunst des Liebens Auszüge
Man darf von diesem Buch keine simple Anleitung zur Kunst des Liebens erwarten; tut man es doch, wird man enttäuscht sein. Das Buch möchte ganz im Gegenteil zeigen, daß die Liebe kein Gefühl ist, dem sich jeder ohne Rücksicht auf den Grad der eigenen Reife nur einfach hinzugeben braucht. Ich möchte den Leser davon überzeugen, daß alle seine Versuche zu lieben fehlschlagen müssen, sofern er nicht aktiv versucht, seine ganze Persönlichkeit zu entwickeln, und es ihm so gelingt, produktiv zu werden; ich möchte zeigen, daß es in der Liebe zu einem anderen Menschen überhaupt keine Erfüllung ohne die Liebe zum Nächsten, ohne wahre Demut, ohne Mut, Glaube und Disziplin geben kann. In einer Kultur, in der diese Eigenschaften rar geworden sind, wird die Fähigkeit zu lieben nur selten voll entwickelt. Jeder mag sich selbst die Frage stellen, wie viele wahrhaft liebende Menschen er kennt. Daß die Aufgabe schwer ist, sollte uns jedoch nicht davon abhalten zu versuchen, uns die Schwierigkeiten klarzumachen und die Voraussetzungen, die man braucht, um diese Schwierigkeiten zu überwinden. Um die Sache nicht zu komplizieren, habe ich mich bemüht, in einer einfachen, klaren Sprache zu schreiben. Aus eben diesem Grunde habe ich auch möglichst wenig auf Fachliteratur verwiesen. Für ein weiteres Problem habe ich allerdings keine voll befriedigende Lösung gefunden. Ich konnte es nicht immer vermeiden, Gedanken aus meinen früheren Veröffentlichungen zu wiederholen. Leser, die mit meinen Büchern, insbesondere mit »Die Furcht vor der Freiheit« (194la), »Psychoanalyse und Ethik« (1947a) und »Wege aus einer kranken Gesellschaft« (1955a) vertraut sind, werden hier viele Gedanken wiederfinden. Trotzdem ist das vorliegende Buch keine Wiederholung. Es enthält viele neue Gedanken, und natürlich gewinnen Überlegungen, auch wenn sie bereits in anderen Zusammenhängen angestellt wurden, dadurch, daß sie isch alle auf ein einziges Thema – die Kunst des Liebens – konzentrieren, neue Perspektiven.

Die männliche Schöpfung
Es war Johann Jakob Bachofen, Professor des Römischen Rechts in Basel, der die erste große Bresche schlug in die naiven Vorstellungen von der Natürlichkeit der patriarchalischen Gesellschaft, von der Selbstverständlichkeit der Überlegenheit des Mannes über die Frau. Mit genialem Blick, großem Scharfsinn und außerordentlichen Kenntnissen stieg er hinab und zerriß den Schleier, den patriarchalischer Geist über große und wichtige Teile menschlicher Geschichte gelegt hatte und enthüllte das Bild gänzlich anderer Gesellschaftsformen und Kulturen, in denen die Frau die Herrschaft führte, in denen sie Königin, Priesterin, Führerin war, Gesellschaften, in denen nur die Abstammung von der Mutter zählte und der Vater seinem Kinde ein Blutsfremder war. Er glaubte, erkannt zu haben, daß das Matriarchat den Anfang aller menschlichen Entwicklung darstellt und daß erst in einem langen historischen Prozeß das Vaterrecht, die männliche Vorherrschaft, sich durchsetzt. Er zeigte, wie der Unterschied zwischen männlichem und weiblichem Prinzip sich als grundlegend durch alles seelische Leben zieht und wie ihm bestimmte Symbole zugeordnet sind: Tag – Nacht, Sonne – Mond, links – rechts.

Die Pathologie der Normalität Auszüge
Anfang der fünfziger Jahre wandte sich Erich Fromm verstärkt der Frage zu, ob der Mensch in der gegenwärtigen Industriegesellschaft noch seelisch gesund sei. Verschiedene Einladungen zu Vorträgen und Vorlesungen nahm er deshalb zum Anlaß, zu diesem Thema zu sprechen. Besonders sein neuer sozial-psychologischer Denkansatz ermöglichte ihm die Weiterentwicklung der psychoanalytischen Methode zu einer umfassenden Kritik der Pathologie des – normalen –, gesellschaftlich angepaßten Menschen. Verbreitete leidenschaftliche Strebungen, die das Verhalten in der Gesellschaft dominieren und darum das Bild von der Normalität bestimmen, konnte er somit einer radikalen Analyse unterwerfen. Die Frage, was der seelischen Gesundheit wirklich förderlich ist und was den Menschen krank macht, wurde nun von Fromm auf sehr fruchtbare Weise neu beantwortet. So ist es Fromms Bestreben, die das Verhalten disponierenden leidenschaftlichen Strebungen in Beziehung zu den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erfordernissen zu setzen, so daß die in einer Gesellschaft besonders verbreiteten Charakterzüge als Ergebnis eines Anpassungsprozesses an die jeweilige sozialökonomische Situation begriffen werden können. Diese Methode hat ihn in den dreißiger Jahren zur Entdeckung des autoritären GesellschaftsCharakters, Ende der vierziger Jahre zur Entdeckung des Marketing-Charakters und Anfang der sechziger Jahre zur Entdeckung des nekrophilen Gesellschafts-Charakters geführt.

Die Seele des Menschen Auszüge
Dieses Buch greift Gedankengänge auf, die ich bereits in einigen meiner früheren Bücher behandelt habe, und versucht sie weiterzuentwickeln. Escape from Freedom (Die Furcht vor der Freiheit 1941a) befaßt sich mit dem Problem der Freiheit im Zusammenhang mit dem Sadismus, dem Masochismus und der Destruktivität; inzwischen haben mich klinische Erfahrungen und theoretische Überlegungen zu einem – wie ich meine – tieferen Verständnis der Freiheit wie auch der verschiedenen Arten von Aggression und Destruktivität geführt. Ich vermag jetzt zwischen verschiedenen Formen der Aggression zu unterscheiden, die direkt oder indirekt im Dienst des Lebens stehen, und der bösartigen Form der Destruktivität, der Nekrophilie, bei welcher es sich um eine echte Liebe zu Totem handelt, die das Gegenteil der Biophilie ist, der Liebe zum Leben und zu Lebendigem. In Man for Himself (Psychoanalyse und Ethik 1947a) habe ich das Problem der ethischen Normen erörtert, die auf unserer Kenntnis der menschlichen Natur und nicht auf Offenbarung oder auf Gesetzen und Konventionen beruhen, die vom Menschen geschaffen wurden. Im vorliegenden Buch verfolge ich dieses Problem weiter und beschäftige mich speziell mit dem Wesen des Bösen und mit der Wahl zwischen Gut und Böse. Schließlich ist das Buch in gewissem Sinn auch ein Gegenstück zu The Art of Loving (Die Kunst des Liebens 1956a). Während dort die Liebesfähigkeit des Menschen das Hauptthema war, ist es hier seine Fähigkeit zu zerstören, sein Narzißmus und seine inzestuöse Fixierung. Obgleich die Erörterung der Nicht-Liebe den größten Teil dieses Buches einnimmt, habe ich doch auch das Problem der Liebe in einem neuen, umfassenderen Sinn – nämlich im Sinn der Liebe zum Leben – wieder aufgegriffen. Ich versuche zu zeigen, daß die Liebe zum Lebendigen mit der Unabhängigkeit und der Überwindung des Narzißmus ein »Wachstumssyndrom« bildet, im Gegensatz zu dem aus der Liebe zum Toten, der inzestuösen Symbiose und dem bösartigen Narzißmus gebildeten »Verfallssyndrom«.

Die Zukunft des Menschen und die Frage der Destruktivität
Robert Jungk im Gespräch mit Erich Fromm
Die Menschheit hat bisher eine Reihe von schweren Krisen überraschenderweise bestanden, und dieses eigenartige Experiment »Mensch« hat überlebt. Nun kann man natürlich sagen: Ja, die Bedrohungen, denen wir heute ausgesetzt sind, waren auch noch nie so groß. Das ist vielleicht richtig, aber die Tatsache, daß wir immer noch lebendig sind, daß die Menschheit – nach einer relativ kurzen Geschichte – immer noch existiert, ist selbst schon bemerkenswerter, als die meisten Menschen denken, die das für selbstverständlich nehmen. Um ein biologisches Argument anzuführen: Die Gehirnstruktur des Menschen ist so organisiert, daß der Wunsch zu überleben, sowohl als einzelner wie als Art, dominiert. Eine Reihe von zeitgenössischen Neurophysiologen hat betont, daß der Gehirnmechanismus diesen blinden Wunsch zu leben in Zielvorstellungen umgesetzt hat, die zum Überleben notwendig sind. Und diese Vorstellungen sind nach Meinung von Wissenschaftlern in den neurophysiologischen Apparat eingebaut.

Drei Filter: Sprache, Logik, Gesellschaft
Ob subtile affektive Empfindungen bewußt werden können oder nicht, hängt davon ab, wie weit solche Empfindungen in einem Kulturkreis gepflegt werden. Es gibt viele affektive Empfindungen, für die eine bestimmte Sprache keine Bezeichnung hat, während eine andere reich an Ausdrücken ist, die diese Gefühle benennen. Im Deutschen haben wir beispielsweise das Wort »Liebe«, das Empfindungen vom einfachen Gernhaben bis zur erotischen Leidenschaft und bis zur brüderlichen Liebe und Mutterliebe umfaßt. Wenn in einer Sprache verschiedene affektive Empfindungen nicht durch verschiedene Wörter ausgedrückt werden, ist es fast unmöglich, daß diese Empfindungen in das Bewußtsein dringen, und umgekehrt. Allgemein kann man sagen, daß eine Empfindung selten bewußt wird, für die die Sprache kein Wort hat.

Ethik und Politik (Schriften aus dem Nachlaß – Band 4) Auszüge
Wer den Menschen in seinem Denken, Fühlen und Handeln begreifen will, der muß lernen, ihn von seinen meist verborgenen leidenschaftlichen Strebungen her zu verstehen. Diese aber sind für Erich Fromm in erster Linie Ausdruck eines Identifikationsprozesses mit den Erfordernissen einer bestimmten Kultur, für die der Mensch im wesentlichen selbst die Verantwortung trägt.

Geschlecht und Charakter
Die These von den angeborenen Unterschieden zwischen den beiden Geschlechtern, die zwangsläufig zu grundsätzlichen Unterschieden in Charakter und Schicksal führen müssen, ist sehr alt. Das Alte Testament macht zur Eigenart und zum Fluch der Frau, daß es sie nach dem Mann verlangt und er über sie herrschen wird, während vom Mann gesagt wird, daß er unter Mühsal vom Ackerboden essen wird. Aber der biblische Bericht enthält auch die umgekehrte These: Der Mensch wurde als Ebenbild Gottes geschaffen, und nur zur Strafe für den Sündenfall von Mann und Frau – hinsichtlich ihrer moralischen Verantwortung waren sie gleichgestellt! – wurden sie mit dem Fluch des Konflikts und ewiger Verschiedenheit belegt. Beide Ansichten, die der grundlegenden Verschiedenheit und die ihrer grundlegenden Gleichartigkeit wurden durch die Jahrhunderte hindurch wiederholt – ein Zeitalter oder eine philosophische Schule betonte die eine, ein anderes die entgegengesetzte These. Das Problem gewann zunehmende Bedeutung in den philosophischen und politischen Diskussionen des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts.

Gesellschaft und Seele (Schriften aus dem Nachlaß – Band 7) Auszüge
Die Gesellschaft ist nichts als die lebendigen, konkreten Individuen, und das Individuum kann nur als vergesellschaftetes Individuum leben. Die Analyse des Charakters des einzelnen führt mit allen seinen individuellen Zügen auf die Elemente des sozial typischen Charakters zurück, so daß erst das Verständnis des sozial typischen Charakters ein volles Verständnis des individuellen Charakters ermöglichen kann. So sehr es stimmt, daß der Mensch so zu leben hat, daß er den Forderungen der Gesellschaft, in der er lebt, gerecht wird, so sehr stimmt es auch, daß die Gesellschaft so konstruiert und strukturiert sein muß, daß sie den Bedürfnissen des Menschen gerecht wird. Das Recht, den anderen zu analysieren, erwirbt der Analytiker sich dadurch, daß er imstande ist, in sich das zu mobilisieren, was ihn verstehen läßt, was im anderen vor sich geht. Das wichtigste Instrument des Analytikers ist er selbst. Für mich besteht die Zukunft der Analyse darin, daß sie wieder eine kritische Theorie wird, indem sie hilft, die heute in den Individuen und in der Gesellschaft entscheidenden Verdrängungen aufzuklären, Widersprüche aufzuhellen und Ideologien zu entzaubern; indem sie zeigt, daß das, was Freud das »Unbehagen in der Kultur« genannt hat, in Wirklichkeit schon eine Pathologie der kybernetischen Gesellschaft ist.

Haben oder Sein (Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft) Auszüge
Dieses Buch setzt zwei Richtungen meiner früheren Schriften fort. Es ist eine Erweiterung meiner Arbeiten auf dem Gebiet der radikal-humanistischen Psychoanalyse und konzentriert sich auf die Analyse von Selbstsucht und Altruismus als zwei grundlegenden Charakterorientierungen. Im letzten Drittel des Buches, in Teil III, führe ich ein Thema weiter aus, mit dem ich mich schon in The Sane Society (Wege aus einer kranken Gesellschaft 1955a) und The Revolution of Hope (Die Revolution der Hoffnung 1968a) beschäftigt habe: der Krise der heutigen Gesellschaft und der Möglichkeiten, sie zu lösen. Wiederholungen schon früher geäußerter Überlegungen waren unvermeidlich, aber ich hoffe, daß der neue Gesichtspunkt, von dem aus diese kleinere Arbeit geschrieben ist, und der weitere Rahmen auch Lesern Gewinn bringen wird, die mit meinen früheren Schriften vertraut sind.

Humanismus als Utopie (Der Glaube an den Menschen) Auszüge
Ich glaube, daß niemand seinen Nächsten dadurch »retten« kann, daß er für ihn eine Entscheidung trifft. Die einzige Hilfe besteht darin, daß er ihn in aller Aufrichtigkeit und Liebe sowie ohne Sentimentalität und Illusionen auf mögliche Alternativen hinweisen kann. Die echte Alternative zu Realismus und Utopismus erwächst aus dem Syndrom von Denken, Erkenntnis, Vorstellungsvermögen und Hoffnung. Dieses befähigt den Menschen, die realen Möglichkeiten zu sehen, deren Keime bereits vorhanden sind. Voraussetzungen für seelische Gesundheit und das Überleben der Zivilisation sind eine Wiederbelebung des Geistes der Aufklärung, eines rücksichtslos kritischen und wirklichkeitsnahen, jedoch von seinen überschwenglich optimistischen und rationalistischen Vorurteilen befreiten Geistes, und zugleich die Wiederbelebung humanistischer Werte, die nicht gepredigt, sondern im persönlichen und gesellschaftlichen Leben realisiert werden. Ich glaube, daß der einzelne so lange nicht mit seiner Menschheit in sich in engen Kontakt kommen kann, solange er sich nicht anschickt, seine Gesellschaft zu transzendieren und zu erkennen, in welcher Weise diese die Entwicklung seiner menschlichen Potentiale fördert oder hemmt. Kommen ihm die Tabus, Restriktionen, entstellten Werte ganz »natürlich« vor, dann ist dies ein deutlicher Hinweis darauf, daß er keine wirkliche Kenntnis der menschlichen Natur hat. Ich glaube, daß die Verwirklichung einer Welt möglich ist, in der der Mensch viel »sein« kann, selbst wenn er wenig »hat«.

Humanistisches Credo
Ich glaube, daß es eine Anzahl begrenzter und ermittelbarer Antworten auf diese Existenzfrage gibt (die Geschichte der Religion und der Philosophie ist ein Katalog solcher Antworten); es gibt jedoch im wesentlichen nur zwei Kategorien von Antworten. Entweder versucht der Mensch dadurch zu einer neuen Harmonie mit der Natur zu gelangen, daß er zu einer vormenschlichen Existenzform regrediert und sich seiner spezifisch menschlichen Eigenschaften von Vernunft und Liebe entäußert. Oder sein Ziel ist die volle Entfaltung seiner menschlichen Kräfte, bis er zu einer neuen Harmonie mit seinen Mitmenschen und mit der Natur gelangt. Ich glaube, daß die erste Antwort zum Scheitern verurteilt ist. Sie führt zu Tod, Zerstörung und Leid und niemals zum vollen Wachstum des Menschen, niemals zu Harmonie und Kraft. Die zweite Antwort verlangt, daß wir unsere Gier und Egozentrik aufgeben, sie erfordert Disziplin, einen festen Willen und Achtung vor denen, die uns einen Weg zeigen können. Wenn diese Lösung auch die schwierigere ist, so ist sie doch die einzige, die nicht zum Scheitern verurteilt ist. Die Mühe und Anstrengung, die sie kostet, wirkt einigend und integrierend und stärkt die Lebensenergie bereits vor dem Erreichen des Endziels.

Jenseits der Illusionen (Die Bedeutung von Marx und Freud) Auszüge
Ich möchte mich in diesem Buch ausschließlich mit Marx und Freud beschäftigen. Wenn ich ihre beiden Namen so nebeneinanderstelle, könnte leicht der Eindruck entstehen, daß ich sie für zwei Menschen von gleicher Größe und gleicher geschichtlicher Bedeutung halte. Ich möchte aber von Anfang an klarstellen, daß dies nicht der Fall ist. Daß Marx eine Figur von weltgeschichtlicher Bedeutung ist, mit der Freud in dieser Hinsicht nicht zu vergleichen ist, braucht kaum besonders erwähnt zu werden. Selbst wenn man – so wie ich – tief bedauert, daß ein entstellter und unwürdiger Marxismus in fast einem Drittel der Welt gepredigt wird, so verringert das nicht die einzigartige historische Bedeutung von Marx. Aber von dieser geschichtlichen Tatsache ganz abgesehen, halte ich Marx als Denker für weit tiefgründiger und umfassender als Freud. Marx wußte das geistige Erbe des Aufklärungshumanismus und des Deutschen Idealismus mit der Realität wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Tatsachen in Zusammenhang zu bringen und so die Grundlagen für eine neue Wissenschaft vom Menschen und von der Gesellschaft zu legen, die gleichzeitig empirisch und vom Geist der humanistischen Tradition des Westens erfüllt ist. Wenn auch dieser Geist des Humanismus von den meisten Systemen, die im Namen von Marx zu sprechen behaupten, abgeleugnet und entstellt wird, so glaube ich doch, daß – wie ich in diesem Buch zeigen möchte – eine Renaissance des westlichen Humanismus Marx seinen hervorragenden Platz in der Geschichte des menschlichen Denkens zurückgeben wird. Aber auch wenn man all das einräumt, wäre es doch recht naiv, Freuds Bedeutung deshalb zu übersehen, weil er an Marx nicht heranreicht. Er ist der Begründer einer wahrhaft wissenschaftlichen Psychologie, und seine Entdeckung der unbewußten Prozesse und der dynamischen Eigenart der Charakterzüge ist ein einzigartiger Beitrag zur Wissenschaft vom Menschen, der das Bild vom Menschen für alle Zeiten verändert hat.

Leben zwischen Haben und Sein Auszüge
»Viele spüren, daß ein Leben, das dem Erfolg, der Konkurrenz, der Ausbeutung dient, in Wirklichkeit ein Leben ist, das die Menschen unglücklich macht« (Erich Fromm). Warum ist es so schwierig, sich von der Existenzweise des Habens zu verabschieden, dem Konsum zu entgehen und ein Leben zu führen, das wirklich zufrieden macht? Viel Unbewußtes ist im Spiel, wenn Menschen und eine ganze Gesellschaft in eine Fehlform des Lebens hineingeraten. Es kommt darauf an, bewußter zu leben, aufmerksam zu werden für das, was wirklich wesentlich und wichtig ist. Wurzeln zu schlagen und doch frei zu sein: das ist die Kunst, zu sein und die Weisheit eines glücklichen Lebens. Mit vielen bisher unveröffentlichten Texten, die die Alternativen zwischen Haben und Sein noch deutlicher herausstellen. Ein lebenspraktisches Buch, das die Kunst lehrt, tiefer zu leben.

Liebe, Sexualität und Matriarchat
Beiträge zur Geschlechterfrage
Man wird weder die Psychologie der Frau verstehen noch die des Mannes, solange man nicht in Betracht zieht, daß seit etwa sechstausend Jahren Kriegszustand zwischen den Geschlechtern herrscht. Dieser Krieg ist ein Guerilla-Krieg. Vor sechstausend Jahren besiegte das Patriarchat die Frauen, und es wurde die Gesellschaft auf die Vorherrschaft des Mannes gegründet. Die Frauen wurden zu seinem Besitz und hatten für jedes Zugeständnis, das ihnen gemacht wurde, dankbar zu sein. Es gibt aber keine Vorherrschaft des einen Teils der Menschheit über den anderen, es gibt keine Vorherrschaft einer sozialen Klasse, einer Nation oder eines Geschlechts über das andere, ohne daß es unterschwellig zu Rebellion, Wut, Haß und Rachewünschen bei denen kommt, die unterdrückt und ausgebeutet werden, und zu Angst und Unsicherheit bei denen, die ausbeuten und unterdrücken.

Märchen, Mythen, Träume (Eine Einführung in das Verständnis einer vergessenen Sprache) Auszüge
Wenn wir wach sind, sind wir aktive, vernünftige Wesen, eifrig darauf bedacht, das zu bekommen, was wir haben möchten, und bereit, uns gegen Angriffe zu wehren. Wir handeln und beobachten; wir sehen die Dinge um uns herum vielleicht nicht so, wie sie wirklich sind, aber doch wenigstens so, daß wir sie nutzen und handhaben können. Freilich besitzen wir nicht viel Vorstellungsvermögen – und sofern wir keine Kinder oder Dichter sind, beschränkt sich dieses meist darauf, die Geschichte und Pläne unserer alltäglichen Erlebnisse zu wiederholen. Wir sind tüchtig, doch dabei phantasiearm. Wir bezeichnen das, was wir tagsüber beobachten, als »die Wirklichkeit« und sind stolz auf unseren »Realismus«, der uns in die Lage versetzt, sie so geschickt zu handhaben. Wenn wir schlafen, erwachen wir zu einer anderen Daseinsform. Wir träumen. Wir erfinden Geschichten, die sich nie ereignet haben und für die es im wirklichen Leben manchmal keine Entsprechung gibt. Manchmal sind wir der Held, manchmal der Bösewicht; manchmal erleben wir die herrlichsten Dinge und sind glücklich; oft werden wir in höchsten Schrecken versetzt. Doch welche Rolle wir auch immer im Traum spielen, wir sind der Autor, es ist unser Traum, wir haben die Handlung erfunden.

Mann und Frau
Die Beziehung zwischen Mann und Frau ist offensichtlich ein äußerst schwieriges Problem, sonst würden nicht so viele Menschen mit ihr Schwierigkeiten haben. Ich will deshalb zunächst einige Fragen stellen, die diese Beziehung betreffen. Wenn ich meine Leser durch diese Fragen zu eigenem Nachdenken veranlassen kann, können sie vielleicht aus eigener Erfahrung einige Antworten beisteuern. Die erste Frage, die ich stellen möchte, lautet: Ist nicht im Thema selbst bereits ein Trugschluß enthalten? Es scheint zu implizieren, daß die Schwierigkeiten in den Beziehungen zwischen Mann und Frau ihrem Wesen nach durch den Geschlechtsunterschied bedingt sind. Das trifft aber nicht zu. Bei der Beziehung zwischen Mann und Frau – zwischen Männern und Frauen – handelt es sich im wesentlichen um eine Beziehung zwischen Menschen. Alles, was in der Beziehung zwischen einem menschlichen Wesen und einem anderen gut ist, ist auch gut in der Beziehung zwischen Mann und Frau, und alles, was in menschlichen Beziehungen schlecht ist, ist auch schlecht in der Beziehung zwischen Mann und Frau. Die besonderen Mängel in den Beziehungen zwischen Männern und Frauen sind zum größten Teil nicht ihren männlichen oder weiblichen Charaktermerkmalen zuzuschreiben, sondern ihren zwischenmenschlichen Beziehungen.

Psychoanalyse und Ethik
Bausteine zu einer humanistischen Charakterologie
Das vorliegende Buch ist in mancher Hinsicht eine Fortsetzung von »Die Furcht vor der Freiheit« (1941a). Wollte ich dort die Furcht des modernen Menschen vor sich selbst und vor der Freiheit analysieren, so erörtere ich hier das Problem der Ethik, der Normen und jener Werte, die dem Menschen zur Verwirklichung seines Selbst und seiner Möglichkeiten verhelfen sollen. Es ist unvermeidbar, daß einige Gedankengänge wiederkehren, die ich bereits in »Die Furcht vor der Freiheit« entwickelt habe. Wiederholungen suchte ich so weit wie möglich zu verkürzen, ganz umgehen ließen sie sich nicht. In dem Kapitel Die Natur des Menschen und sein Charakter behandle ich charakterologische Fragen allgemeiner Art, die in dem vorhergehenden Buch noch nicht berührt wurden, und ich beziehe mich nur kurz auf die dort erörterten Probleme. Der Leser, der von meiner Charakterologie einen umfassenden Eindruck gewinnen will, müßte zweckmäßigerweise beide Bücher kennen. Unbedingt notwendig ist dies zum Verständnis der vorliegenden Arbeit jedoch nicht.

Psychoanalyse und Religion Auszüge
Dieses Buch kann als Fortsetzung der in Man for Himself (Psychoanalyse und Ethik 1947a) niedergelegten Gedanken angesehen werden, die eine Untersuchung der Psychologie der Ethik sind. Ethik und Psychologie sind einander nahe verwandt, und darum überschneiden ihre Gebiete einander bisweilen. Doch habe ich in diesem Buch versucht, den Schwerpunkt auf die Religion zu legen, während er in Man for Himself ganz und gar auf der Ethik lag. Die Leute gehen in die Kirchen und hören Predigten, in denen die Grundsätze der Liebe und der Barmherzigkeit gepriesen werden; und dieselben Leute würden sich für Narren oder Schlimmeres halten, wenn sie Bedenken hätten, einem Kunden etwas aufzuschwatzen, wovon sie wissen, daß es über seine Verhältnisse geht. Kinder lernen in der Sonntagsschule, daß Ehrlichkeit, Lauterkeit und die Sorge um das Seelenheil die leitenden Prinzipien des Lebens sein sollten, während »das Leben« lehrt, daß die Befolgung dieser Grundsätze uns bestenfalls zu weltfremden Träumern macht. Wir haben die erstaunlichsten Möglichkeiten der Mitteilung durch Presse, Rundfunk und Fernsehen, und zugleich werden wir täglich mit einem Unsinn gefüttert, der für den Verstand von Kindern beleidigend wäre, würden diese nicht damit großgezogen. Viele Stimmen verkünen, unsere Lebensweise mache uns glücklich. Aber wie viele Menschen unserer Zeit sind glücklich?

Psychoanalyse und Zen-Buddhismus
Wenn man den Zen-Buddhismus zur Psychoanalyse in Beziehung setzt, diskutiert man zwei Systeme, die sich beide mit einer Theorie über die Natur des Menschen und mit praktischen Maßnahmen für sein Wohl beschäftigen. Jedes von ihnen ist charakteristisch, das eine für das östliche, das andere für das westliche Denken. Der Zen-Buddhismus ist eine Verschmelzung der indischen Rationalität und Abstraktion mit chinesischer Konkretheit und chinesischem Realismus. Wie die Psychoanalyse ein Spezifikum des Westens ist, so ist Zen für den Osten typisch. Die Psychoanalyse ist das Kind des westlichen Humanismus und Rationalismus sowie der romantischen Suche des neunzehnten Jahrhunderts nach den dunklen Kräften, die sich dem Rationalismus entziehen. Und viel weiter zurück standen die Weisheit der Griechen und die hebräische Ethik an der Wiege dieser wissenschaftlich-therapeutischen Sicht des Menschen.

Revolution der Hoffnung (Für eine humanisierte Technik) Auszüge
Das Unbehagen an den technischen Zwängen hochindustrialisierter Gesellschaften wächst. »Fortschritt« und »Wirtschaftswachstum« sind nicht länger unangefochtene Leitwerte. Zu offensichtlich hängen sie zusammen mit Umweltzerstörung, Unterdrückung und Ungerechtigkeit. In einer Welt der maximalen wirtschaftlich-technischen Effizienz ist eine Entwicklung absehbar, die den Menschen vollends zum Teil einer unkontrollierten »Megamaschine« macht. Fromm beschreibt die Grundzüge der mechanisierten Gesellschaft und ihre Wirkungen auf den Menschen. Seine Analyse ist kritisch, doch nie dogmatisch. Er verfällt weder dem Kulturpessimismus noch propagiert er die große Verweigerung oder den gewaltsamen Umsturz. Fromm sieht Ansätze zu einer Gesellschaft, die die Technik in den Dienst des Menschen stellt, und beschreibt Verhaltensweisen, mit denen der einzelne Einfluß auf eine humane Entwicklung nehmen kann.

Selbstsucht und Selbstliebe
Selbstsucht ist in der modernen Kultur tabu. Man lehrt, daß Selbstsucht eine Sünde sei und Nächstenliebe eine Tugend. Die Lehre steht allerdings in krassem Widerspruch zur Praxis der heutigen Gesellschaft, und sie steht auch zu einer Reihe von anderen Lehren in Widerspruch, die behaupten, der mächtigste und zu Recht bestehende Trieb des Menschen sei die »Selbstsucht«. Wer deshalb dem Verlangen dieses Triebes nachgebe, gebe sein Bestes für das Gemeinwohl. Diese Art Ideologie kommt freilich nicht gegen das Gewicht auf, mit dem andere Lehren behaupten, die Selbstsucht sei das Grundübel und die Nächstenliebe die höchste Tugend. Selbstsucht wird in diesen Ideologien fast als Synonym für Selbstliebe gebraucht. Die Alternative besteht darin, dass man entweder andere lieben könne, was eine Tugend sei, oder sich selbst, was Sünde sei.

Sexualität und Charakter
Psychoanalytische Bemerkungen zum Kinsey-Report
Angesichts der Tatsache, daß Freud und seine Schule die Sexualität in den Mittelpunkt ihrer psychologischen Theorie stellten, ist es umso erstaunlicher, daß vor dem Kinsey-Report von 1948 von Psychoanalytikern kein ausführlicher Überblick über das Sexualverhalten durchgeführt worden ist. Man sollte darum meinen, der Kinsey-Bericht wäre allen Psychoanalytikern hochwillkommen gewesen als ein Bericht über Tatsachen, die den allgemeinen Trend der psychoanalytischen Einstellung bestätigen, auch wenn sich der Report nur mit dem manifesten Verhalten und nicht mit dem Problem unbewußter Motivationen und des Charakters befaßt. Aber entgegen diesen Erwartungen hat eine ganze Reihe von Psychoanalytikern (eine Minderheit, wie ich hoffe) ihn mit einer recht unfreundlichen Kritik aufgenommen. Eine Kritik geht beispielsweise so weit zu behaupten, Kinsey habe unmöglich in so kurzer Zeit eine solche Fülle von Daten ans Licht bringen können, während es den Psychoanalytikern sehr schwerfalle, selbst in zahlreichen Interviews auch nur verhältnismäßig wenige Daten über einen einzelnen Patienten zusammenzutragen. Ein solches Argument kann man natürlich immer vorbringen, wenn ein Forscher mehr Erfolg hat als seine Vorgänger, aber eine ernstzunehmende Kritik ist sie nicht.

Überfluß und Überdruß in unserer Gesellschaft
Wenn ich über das Thema »Überfluß und Überdruß« sprechen soll, dann ist zunächst eine Bemerkung über den Sinn dieser beiden Worte angebracht. Das ist nicht nur in diesem Fall, sondern überhaupt so. Wenn man die Bedeutung, den eigentlichen Sinn eines Wortes versteht, dann versteht man häufig schon gewisse Probleme besser, die mit diesem Wort beim Namen genannt werden – eben aus dem Wortsinn und seiner Geschichte heraus. Sehen wir uns die beiden Worte an. Das eine hat eine doppelte Bedeutung. Eine positive – dann bezeichnet »Überfluß« das, was über das unbedingt Notwendige hinausgeht: das Über-Fließende. Sie denken vielleicht an die biblische Vorstellung von dem »Land, darin Milch und Honig fließt«. Oder Sie denken daran, wenn Sie ein schönes Zusammensein beschreiben wollen, ein Fest, bei dem es Wein und was Sie sonst mögen, im Überfluß gab. Sie meinen dann etwas sehr Erfreuliches, nämlich keine Kargheit, keinen Mangel, kein Vorsichtigsein, daß man ja nicht etwas zuviel nimmt. Das ist der angenehme Überfluß, also das Über-Fließende. Aber »Überfluß« kann auch eine negative Bedeutung haben, und die drückt sich aus in dem Wort »überflüssig«, im Sinn von zwecklos und verschwendet. Wenn Sie einem Menschen sagen: »Du bist hier ganz überflüssig«, dann meinen Sie: »Du verschwindest besser«, Sie meinen nicht: »Wie schön, daß du hier bist« – wie Sie es etwa meinen, wenn sie vom Wein im Überfluß reden. Also Überfluß kann überfließend und Überfluß kann überflüssig sein, und man muß sich fragen, in welchem Sinn hier von Überfluß die Rede ist.

Über den Ungehorsam Auszüge
Der Mensch hat sich durch Akte des Ungehorsams weiterentwickelt. Nicht nur, daß seine geistige Entwicklung nur möglich war, weil es einzelne gab, die es wagten, im Namen ihres Gewissens und Glaubens zu den jeweiligen Machthabern »nein« zu sagen – auch die intellektuelle Entwicklung hatte die Fähigkeit zum Ungehorsam zur Voraussetzung, zum Ungehorsam gegenüber Autoritäten, die neue Ideen mundtot zu machen suchten, und gegenüber der Autorität lang etablierter Meinungen, die jede Veränderung für Unsinn erklärten.

Über die Liebe zum Leben (Rundfunksendungen) Auszüge
Diese Radiotexte von Erich Fromm stammen aus dem letzten, dem achten Jahrzehnt seines Lebens. Er war niemals fertig. Er las, schrieb, plante, lernte, war offen, ja neugierig – bis zuletzt. Aber das Werk, das er in zehn Bänden hinterlassen hat, gelangte nun zum Höhepunkt und Abschluß, und aus ihm konnte er schöpfen, wenn er als wachsamer und kritischer Beobachter die Zeitläufte kommentierte. So sind die hier wiedergegebenen Protokolle eine interessante Ergänzung seines Oeuvres: ihr Wert liegt weniger in der Neuigkeit als in der Lebendigkeit der Aussage, weniger im Gehalt als in der Gestalt. Die Vorträge und Gespräche wurden in der Mehrzahl in Fromms Wohnung in Locarno, sonst im Studio in Zürich aufgenommen. Mit der Lektüre kann man von ferne die Besuche und Unterhaltungen nachvollziehen, zu denen der große alte Mann gern einlud. Abgesehen von frühen Schriften, die in dichtem Schreibtischdeutsch verfaßt worden sind, kennen wir Fromm hierzulande als einen nur in Übersetzungen zugänglichen angelsächsischen Autor. Mit den Radiotexten aber ist er noch einmal in seine Muttersprache heimgekehrt. Sie wirkt, weil ohne Papier entstanden, erstaunlich unmittelbar. Nach Matthias Claudius ist die Schriftsprache ein infamer Trichter, darin Wein zu Wasser wird. Auch Fromm bevorzugte das gesprochene Wort, die An-Rede, die An-Sprache. Hier haben wir sie. Und wer ihn gekannt hat, hört ihn, wenn er sie liest.

Über die Ursprünge der Aggression
Daß man sich heute mit dem Problem der Aggression immer mehr beschäftigt, braucht einen kaum zu wundern: Wir haben Kriege hinter uns, wir erleben Kriege in der Gegenwart, und wir fürchten uns vor einem Atomkrieg, für den sich alle Großmächte rüsten. Gleichzeitig fühlen sich die Menschen ohnmächtig, daran etwas zu ändern. Sie sehen, daß die Regierungen scheinbar bei aller Weisheit und allem guten Willen es noch
nicht einmal zustande bringen, das atomare Wettrüsten zu verringern oder zu stabilisieren. Und so ist es verständlich, daß die Menschen auf der einen Seite gerne wissen möchten, woher denn die Aggression kommt, und daß sie auf der anderen Seite aber auch sehr empfänglich sind für Theorien, die besagen, daß die Aggression gar nicht von den Menschen selbst geschaffen wird, daß sie auch nicht in den sozialen Bedingungen begründet liegt, sondern in der Natur des Menschen. ... Von außen gesehen sieht das vielleicht so aus. Aber wenn man etwas mehr vom Menschen versteht als Lorenz – er versteht sehr viel von Tieren –, dann weiß man, daß das keine sehr gute Erklärung ist.

Vom Haben zum Sein (Wege und Irrwege der Selbsterfahrung) Auszüge
Daß wir leben wollen, daß wir gerne leben, ist eine Tatsache, welche keine Erklärung braucht. Wenn wir hingegen fragen, wie wir leben wollen, was wir vom Leben erwarten, was uns das Leben sinnvoll macht, dann beschäftigen wir uns in der Tat mit – mehr oder weniger identischen – Fragen, auf welche Menschen viele verschiedene Antworten gegeben haben. Manche werden sagen, sie suchen Liebe, andere Macht, andere Sicherheit, andere sinnliche Freuden und Bequemlichkeit, wieder andere Ruhm; aber die meisten werden wahrscheinlich der Aussage zustimmen, daß sie Glück suchen. Auch die meisten Philosophen und Theologen haben das Glück als Ziel des menschlichen Strebens angesehen. Wenn aber unter Glück, wie wir eben gesehen haben, derart Verschiedenes und meist Unvereinbares verstanden wird, wird der Begriff eine Abstraktion und daher nutzlos. Wir sollten untersuchen, was gewöhnliche Menschen und was Philosophen mit dem Begriff Glück meinen.

Von der Kunst des Zuhörens (Therapeutische Aspekte der Psychoanalyse) Auszüge
Erich Fromm ist vielen Menschen als Therapeut bekannt geworden. Über 50 Jahre lang hat er Psychoanalysen durchgeführt, über 40 Jahre lang war er als Lehranalytiker, Kontrollanalytiker und Dozent an psychoanalytischen Lehr- und Ausbildungsinstituten in New York und Mexiko-Stadt tätig. Wer bei ihm in Psychoanalyse war, spürte seine Unerbittlichkeit als Wahrheitssucher und kritischer Weggenosse ebenso wie sein außerordentliches Einfühlungsvermögen, seine Nähe und die Unmittelbarkeit seiner Bezogenheit auf den anderen. Obwohl Fromm immer wieder Pläne hatte, seine besondere Art der therapeutischen Beziehung schriftlich zu fassen und zu veröffentlichen, kam es doch nie zu deren Realisierung. So sind die Berichte über Fromms Weise, mit dem ihm gegenübersitzenden Patienten, in Ausbildung stehenden Analytikern oder Kollegen umzugehen, von bleibendem Wert. ... Die Texte des Bandes geben Auskunft über den Therapeuten Fromm und seine Art des Umgangs mit dem seelisch leidenden Menschen unserer Zeit. Nicht wortgewaltige Theorien und Abstraktionen, und auch keine differential-diagnostischen »Vergewaltigungen« des »Patientenmaterials« kennzeichnen seine therapeutische Beziehung, sondern seine Fähigkeit zu eigenständiger und unabhängiger Wahrnehmung der Grundprobleme des Menschen.

Wege aus einer kranken Gesellschaft
Dieses Buch ist eine Fortsetzung von »Die Furcht vor der Freiheit« (1941a), das ich vor nunmehr fünfzehn Jahren geschrieben habe. Dort versuchte ich zu zeigen, daß die totalitären Bewegungen an eine tiefsitzende Sehnsucht im Menschen appelliert haben, vor der Freiheit zu fliehen, die er sich in der modernen Welt errungen hat. Dieser moderne Mensch, der frei ist von Bindungen an das Mittelalter, war noch nicht frei genug zum Aufbau eines sinnvollen Lebens, das sich auf Vernunft und Liebe gründet, und suchte daher eine neue Sicherheit in der Unterwerfung unter einen Führer, unter die Rasse oder den Staat. Im vorliegenden Buch versuche ich zu zeigen, daß das Leben in der Demokratie des 20. Jahrhunderts in vieler Hinsicht ebenfalls eine Flucht vor der Freiheit ist. Die Analyse dieser speziellen Flucht, in deren Mittelpunkt der Begriff der Entfremdung steht, macht einen großen Teil dieses Buches aus.

Wege zur Befreiung (Über die Kunst des Lebens) Auszüge
Das Leben selbst ist eine Kunst – in Wirklichkeit die wichtigste und zugleich schwierigste und vielfältigste Kunst, die der Mensch ausüben kann. Ihr Gegenstand ist nicht diese oder jene spezielle Verrichtung, sondern die »Verrichtung« des Lebens selbst, der Entwicklungsprozeß auf das hin, was der Mensch potentiell ist. Bei der Kunst des Lebens ist der Mensch sowohl Künstler als auch der Gegenstand seiner Kunst. Er ist der Bildhauer und der Stein, der Arzt und der Patient.

Wirkfaktoren der psychoanalytischen Behandlung
Zur Frage, welche Faktoren bei der psychoanalytischen Behandlung ausschlaggebend sind, hat Freud mit seiner Schrift »Die endliche und die unendliche Analyse« (S. Freud, 1937c) meines Erachtens den wichtigsten Beitrag geleistet. Die Schrift ist nicht nur brillant, sondern auch äußerst couragiert geschrieben, wobei es Freud in keinem seiner Werke an Courage fehlte. Sie entstand kurz vor seinem Tode; in gewisser Weise faßt er in ihr seine eigenen Ansichten über die Wirkung der analytischen Behandlung zusammen. Ich möchte im Folgenden zunächst die wichtigsten Gedanken dieser Schrift kurz darstellen, um dann ausführlich auf sie einzugehen und weiterführende Vorschläge zu machen.

Internationale Erich-Fromm-Gesellschaft e.V.

Bei Wikipedia
Peter Möller: Einführung in die Philosophie Erich Fromms

Video- und Hörclips mit und über Erich Fromm:

Erich Fromm über den angepaßten Menschen (1977, 2:10): »Die Normalsten sind die Kränkesten und die Kranken sind die Gesündesten. ... Der Mensch, der krank ist, der zeigt, daß bei ihm gewisse menschliche Dinge noch nicht so unterdrückt sind, daß sie in Konflikt kommen mit den Muskeln der Kultur und daß sie durch diese Friktion Symptome erzeugen.«

Erich Fromm über Glück und Freude (1977, 2:58): Die meisten Menschen behaupten, sie wären glücklich. Wenn man unglücklich ist, ist man ein Mißerefolg. So muß man die Maske des Glücklichseins tragen, sonst verliert man den Kredit auf dem Markt. Wenn man unglücklich wirkt, ist man ja kein normaler Mensch ...

Leben durch Geschichte (43:53): erster Teil – Autobiographische Bekenntnisse
Mut zum Menscchen (44:12): zweiter Teil

Erich Fromm - Dokumentation zweiter Teil: Mut zum Menschen 1v5
Erich Fromm - Dokumentation zweiter Teil: Mut zum Menschen 2v5
Erich Fromm - Dokumentation zweiter Teil: Mut zum Menschen 3v5
Erich Fromm - Dokumentation zweiter Teil: Mut zum Menschen 4v5
Erich Fromm - Dokumentation zweiter Teil: Mut zum Menschen 5v5

Psychoanalyse des Faschismus – ein Gespräch mit Erich Fromm (23:53): Wie muß ein Mensch beschaffen sein, um das zu werden, was man einen Faschisten nennt?

Der Mensch: Des Menschen Feind? Teil 01 von 10
Der Mensch: Des Menschen Feind? Teil 02 von 10
Der Mensch: Des Menschen Feind? Teil 03 von 10
Der Mensch: Des Menschen Feind? Teil 04 von 10
Der Mensch: Des Menschen Feind? Teil 05 von 10
Der Mensch: Des Menschen Feind? Teil 06 von 10
Der Mensch: Des Menschen Feind? Teil 07 von 10
Der Mensch: Des Menschen Feind? Teil 08 von 10
Der Mensch: Des Menschen Feind? Teil 09 von 10
Der Mensch: Des Menschen Feind? Teil 10 von 10