Auszüge aus Erich Fromm's
"Die Pathologie der Normalität"

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Vorwort

Die Analyse der gegenwärtigen Produktionsmethoden und die Analyse der psychischen Anpassungsleistungen, mit denen der Mensch den Erfordernissen des gegenwärtigen Wirtschaftens gerecht zu werden versucht, ergeben, daß vom Menschen psychische Haltungen und Strebungen (Gesellschafts-Charakterzüge) gefordert werden, die ihn psychisch krank machen. Was für das Funktionieren des heutigen Wirtschaftssystems gut ist, erweist sich für den Erhalt der seelischen Gesundheit des Menschen als schädlich. Das, womit jemand in dieser Gesellschaft Erfolg hat, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als gegen seine seelische Gesundheit gerichtet. Das Normale muß sich deshalb den Verdacht gefallen lassen, Ausdruck einer krankhaften Entwicklung zu sein.
Fromm untersucht die Pathologie der Normalität, indem er die krankmachenden Auswirkungen der Marktwirtschaft auf den Menschen aufzeigt. Im Mittelpunkt dieses Leidens des Normalen steht die zunehmende Unfähigkeit des Menschen, von sich aus auf die Wirklichkeit bezogen zu sein. Fromm entwickelt einen klinischen Begriff von Entfremdung und zeigt deren vielfältige Erscheinungsweisen und Implikationen auf. Die wichtigste Implikation betrifft ein neues Verständnis des Menschen und seiner seelischen Gesundheit. Diese neuen Vorstellungen münden in die programmatische Forderung nach einer humanistischen Wissenschaft vom Menschen.

Der vorliegende Band vereint auf den ersten Blick sehr unterschiedliche Beiträge: Er enthält im ersten Teil vier Vorlesungen aus dem Jahre 1953 und einen Vortrag von 1962, die sich in Abschriften von Tonbändern (Transkripten) erhalten haben und das gesprochene Wort wiedergeben; in ihnen geht es um seelische Gesundheit und die jeweils vorherrschenden Pathologien der Normalität. Der zweite Teil handelt von der sich aus der Pathologie der Gegenwartskultur ergebenden neuen Wissenschaft vom Menschen, und zwar in einem kleinen programmatischen Beitrag aus dem Jahre 1957, mit dem Fromm ein – Institut für die Wissenschaft vom Menschen – gründen wollte, sowie in einem umfangreichen wissenschaftlichen Beitrag über das Axiom, daß der Mensch von Natur aus faul sei. Gerade dieser Beitrag aus den Jahren 1973 und 1974 kann illustrieren, wie Fromm der Pathologie der Normalität im Wissenschaftsbereich zu entkommen versucht: Er beantwortet die Frage zum einen interdisziplinär, indem er die Ergebnisse der verschiedensten Wissenschaftszweige zusammenschaut und ihre Relevanz ideologiekritisch von den vorausgesetzten Menschenbildern her beurteilt, zum anderen verbindet er die Ergebnisse der verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen mit seinen Vorstellungen von seelischer Gesundheit, die in einem humanistischen Menschenbild gründen. ...

Psychische Gesundheit und das Bedürfnis nach Religion

Auf das Problem der menschlichen Existenz gibt es vielfältige Antwortmöglichkeiten. Ein Blick in eine Sammlung von Texten zur Religionsgeschichte kann unter Umständen bereits mit allen im Verlauf der bisherigen Geschichte gegebenen Antworten auf die Frage der menschlichen Existenz bekannt machen. Die verschiedenen Religionen sind in Wirklichkeit nur verschiedene Antworten auf das gleiche Problem.

Die Lektüre eines Lehrbuchs der psychischen Erkrankungen und das Studium von Neurosen und Psychosen zeigen, daß diese Erkrankungen als individuelle Antworten auf das Problem der menschlichen Existenz angesehen werden können. Es läßt sich auch zeigen, daß eben jene Menschen an Neurosen und Psychosen erkranken, die für die Frage nach dem Sinn des Lebens sensibler sind als die Mehrheit der Menschen. Die Mehrheit hat gewöhnlich eine dickere Haut und antwortet auf die religiöse Frage, also auf die Frage nach einem bestimmten Rahmen der Orientierung und nach einem bestimmten Objekt der Hingabe, so, wie ihre Kultur es ihr vorschreibt. Diejenigen aber, die sensibler sind und das Verlangen des Bedürfnisses weniger leicht vernachlässigen können, entwickeln ihre eigene prophetische Religion, die der Psychiater eine Neurose oder eine Psychose nennt.

Ich frage mich manchmal, ob ein Mensch heute verrückt werden muß, wenn er bestimmte Dinge fühlen will. Lessing sagte einmal: – Wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verliert, der hat keinen zu verlieren – und spricht damit den gleichen Punkt an. Ich fürchte, wir alle oder zumindest die Psychiater sind allzu schnell dabei, von – neurotisch – oder – verrückt – zu sprechen, wenn unsere Art zu fühlen, unsere Erfahrungen oder Antworten auf die Probleme der menschlichen Existenz nicht ziemlich genau dem entsprechen, womit ein Mensch zufrieden sein sollte. Ist er es aber nicht und entwickelt er ein tiefergehendes oder anderes System der Orientierung und Hingabe, dann wird er einfach als verrückt oder neurotisch angesehen. Damit will ich nicht behaupten, daß alle verrückten Menschen in Wirklichkeit Heilige und von Gott inspirierte Menschen seien, wie dies in manchen primitiven Kulturen geglaubt wird.

Sicherlich hat die moderne Unterscheidung zwischen psychisch gesund und psychisch krank ihre Berechtigung, doch beeindruckt mich die Sicherheit gar nicht, mit der diese Unterscheidung getroffen wird. Bekannt ist das Scherzwort, daß sich in einer psychiatrischen Klinik die Ärzte von den Patienten nur dadurch unterscheiden, daß erstere einen Schlüssel haben. Das Scherzwort bringt meine Zweifel an all den Festschreibungen, was psychisch gesund, was krank, was neurotisch, was normal ist, gut zum Ausdruck. Alle diese Definitionen gründen sich auf die Annahme, daß der normale Bevölkerungsteil eine gänzlich zufriedenstellende Antwort auf das Problem der menschlichen Existenz gefunden habe und daß jene, die nicht in der Lage sind, diese Antwort geziemend und wohlwollend zu akzeptieren und statt dessen nach irgendwelchen besonderen Lösungen suchen, nichts anderes als eben krank sind.

Ich fasse Religion ganz weit als Bedürfnis nach einem System der Orientierung, das in der einen oder anderen Form für alle Menschen typisch ist. Wird Religion derart weit gefaßt, dann geht es nicht mehr um die Frage der Berechtigung oder Nichtberechtigung von Religion, sondern nur noch um die Frage nach einer guten oder schlechten Religion bzw. nach einer besseren oder schlechteren Religion. In gewissem Sinne sind wir alle – Idealisten: Wir werden von Motiven angetrieben, die jenseits unseres Selbstinteresses liegen. Dieser – Idealismus – ist der größte Segen, aber auch der größte Fluch des Menschen. Es gibt so gut wie nichts, was die Menschen der Welt an Schaden zugefügt haben, das nicht aus purem Idealismus heraus getan worden wäre. Ich gebrauche hier das Wort – Idealismus – nicht in einer bestimmten Bedeutung, sondern beziehe es auf jene Strebungen, die die Alltagsroutinen zur Fortsetzung unseres Lebens und zur Sicherung des biologischen Überlebens übersteigen und einen Rahmen der Bezogenheit und ein Objekt der Hingabe erzeugen.

Es ist töricht, wenn jemand zu seiner Entschuldigung vorbringt, daß er eben ein – Idealist – sei. Wir alle sind – Idealisten. Die einzig entscheidende Frage lautet, welche Ideale wir verfolgen. Werden wir von dem Wunsch angetrieben, das Leben zu zerstören, zu beherrschen, zu kontrollieren und zu knebeln, dann geschieht dies – bei meinem Verständnis von – Idealismus – psychologisch aus genausoviel – Idealismus, als wenn jemand von dem Wunsch zu lieben und zu kooperieren angetrieben wird. Die entscheidende Frage lautet: Sind wir der Welt gefährlich oder förderlich? Diese Frage läßt sich nur sinnvoll erörtern im Zusammenhang und unter der Zielsetzung einer bestimmten Religion oder eines Ideals, die wir vertreten, nicht aber von der Behauptung her, daß manche Menschen idealistisch seien und manche nicht.

Es läßt sich beobachten, daß selbst die übelsten Ideale der Welt auch heute noch von Menschen vertreten werden. Solche Menschen hinterlassen unter anderem gerade auf Grund der Tatsache, daß sie Idealisten sind, einen großen Eindruck und geben deshalb ihren teuflischsten Taten auf diese Weise eine Würde. Eigenartigerweise sind wir noch immer davon überzeugt, daß die Tatsache, Ideale zu haben, etwas Gutes sei, statt zu sehen, daß dies eine Gegebenheit ist. Wir können gar nicht anders, als unseren Idealen zu folgen, weil sie uns dazu treiben. Es kann deshalb nur darum gehen, die Bewunderung für den Idealismus, die Religion usw. zu überwinden und die einzig relevante Frage zu stellen: Welche Zielsetzungen verfolgt jemand? Welche Ideale hat er oder sie? Welche Wirkungen haben sie, und in welchem Bezugsrahmen stehen sie?

Die Rede von guter und schlechter Religion, von guten und schlechten Idealen führt uns zurück zu der eingangs aufgeworfenen Frage, ob man zu irgendwelchen objektiv gültigen Werturteilen kommen kann. Auf die Gefahr hin, als völlig unwissenschaftlich oder dogmatisch verschrien zu werden, möchte ich ganz einfach äußern, was ich als objektive und gültige Zielsetzungen für psychische Gesundheit ansehe. Dabei ist das, was ich sage, nichts Neues, sondern seit alters her bekannt. Natürlich könnte ich dieses Altbekannte in eine phantasievolle wissenschaftliche Sprache bringen, doch ich ziehe es vor, die alten Worte zu gebrauchen, vor deren Bedeutung wir alle – oder doch zumindest die Wissenschaftler unter uns – heute zurückschrecken.

Die Entfremdung als Krankheit des Menschen von heute

Ich komme jetzt zu dem heute zentralen Problem psychischer Gesundheit. Meiner Meinung nach ist dies das Problem der Selbstentfremdung, also der Entfremdung von unseren Gefühlen, von den anderen Menschen und von der Natur oder – um es noch anders zu sagen – das Problem der Entfremdung zwischen uns und der Welt innerhalb und außerhalb von uns.

Ich möchte zunächst erklären, was ich unter Entfremdung verstehe. Wörtlich bedeutet Entfremdung, daß wir uns selbst Fremde geworden sind oder daß die äußere Welt uns fremd geworden ist. Um nicht bei den Worten zu bleiben, muß ich noch ein wenig verdeutlichen, was ich meine. Dies kann ich nicht tun, ohne von einem Wesensmerkmal der modernen Gesellschaft und unserer gegenwärtigen Wirtschaft zu sprechen: von der Rolle des Marktes.

Man mag mit Recht fragen, was der Markt mit der Psychologie zu tun habe. Deshalb möchte ich von vornherein meiner Überzeugung Ausdruck geben, daß die Menschen in jeder Gesellschaft weitgehend durch die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sie leben, geformt werden. Diese Einsicht war eine der großen Entdeckungen von Karl Marx, die er allerdings dogmatisch überzogen und in seiner Theorie übertrieben dargestellt hat. Überdies hat er meiner Meinung nach viele menschliche Faktoren, die nicht in den Bereich der Wirtschaft fallen, unterschätzt. Trotz dieser Fehleinschätzungen bin ich noch immer davon überzeugt, daß seine Entdeckung eine der weitreichendsten und tiefgründigsten Ansätze war, Gesellschaft zu verstehen. ...

In unserem System ist ein Prozeß im Gange, für den ich gerne ein Wort prägen möchte, sofern es dieses noch nicht gibt: Ich möchte vom Prozeß der Abstraktion [wörtlich der Abstraktmachung – process of abstractification] sprechen und verstehe darunter, daß man etwas abstrakt zu machen versucht, statt es in seiner Gegenständlichkeit und Konkretheit zu belassen. Auf Grund unserer Produktionsweise und auf Grund der Art, wie unsere Wirtschaft funktioniert, sind wir es gewohnt, Gegenstände in erster Linie in ihren abstrakten statt in ihren konkret-gegenständlichen Formen wahrzunehmen. Wir beziehen uns auf ihren Tauschwert statt auf ihren Gebrauchswert. ...

Ein anderes Beispiel: Welcher Ort der Welt liegt am weitesten von New York entfernt? Sagen wir einmal, es sei Bombay in Indien. Ich weiß zwar nicht genau, wieviele Meilen Bombay von New York entfernt ist, aber ich weiß, daß es dreieinhalb Tage entfernt ist und daß – Entfernungswert – etwa 800 oder 1000 Dollar beträgt. Es ist tatsächlich eine ganz realistische Art und Weise, um eine Entfernung auszudrücken, daß man die Zeit und die Kosten benennt, die man für diese Reise aufwenden muß. Selbst die größte Entfernung ist im Maßstab der Zeit auf diese Weise enorm verkürzt, denn es gibt dann keine zwei Orte, die weiter voneinander entfernt sind als dreieinhalb Tage. Dann besteht das einzige Problem wirklich nur noch darin, wie teuer, in Geld ausgedrückt, die Entfernung ist: Tausend Dollar für die größte Entfernung. Und wenn jemand auch zurückkommen will, dann ist es eine 2000-Dollar-Entfernung. – Mit diesem Beispiel will ich andeuten, daß es noch eine andere Art, einen anderen Bereich gibt, in dem wir in abstrakten Begriffen denken. In ihm können wir sogar Raum und Zeit in Geld ausdrücken. Dies ist in Wirklichkeit gar nicht so unsinnig, sondern in gewisser Hinsicht sogar hilfreich. Und doch ist es ein anderes Beispiel für das Fehlen von Konkretheit in unserer Erfahrung und für unsere Neigung, Gegenstände unabhängig von ihren konkreten Eigenschaften wahrzunehmen.

Entfremdung in der Wahrnehmung von Menschen

Den gleichen Prozeß der Abstraktion können wir offensichtlich auch bei unserer Selbstwahrnehmung und bei der Wahrnehmung anderer beobachten. So kann man etwa in der New York Times über einen Gestorbenen die Notiz lesen: – Schuhfabrikant stirbt – oder – Eisenbahningenieur stirbt. Wer starb? Ein Mann oder eine Frau starben. Wird hier selbst der Tote mit Hilfe seiner Berufsbezeichnung beschrieben, dann tut man das gleiche, als wenn man von einem 50-Cent-Gegenstand spricht. Man vergißt und ignoriert die Konkretheit dieser Person, denn auch sie war eine ganz bestimmte konkrete Person und – wie jeder Mensch – jemand, den es nur einmal gibt. Man ignoriert beim Abstrahieren alle seine konkreten Eigenschaften. Man spricht von ihm als einem Schuhfabrikanten, wie wenn dies sein Sein gewesen wäre. Die Kennzeichnung – Schuhfabrikant – ist das Äquivalent für die Rede von einer Ware in Begriffen seines Tauschwerts, seines Preises.
Die Kennzeichnung eines Menschen als eines Schuhfabrikanten würde im Rahmen einer Zusammenkunft von Schuhfabrikanten in Atlantic City natürlich sinnvoller sein. Sie würde sich dann auf Mr. Jones als einen Schuhfabrikanten beziehen, weil diese Kennzeichnung zumindest eine konkrete Erklärung dafür abgeben würde, was er dort tut: Er ist dort, um Fragen im Zusammenhang mit der Herstellung von Schuhen zu besprechen. Es ist aber eigentlich unvorstellbar, vom Tod eines Menschen zu sprechen – wobei der Tod neben der Geburt das bedeutsamste Ereignis im Leben eines jeden Menschen ist – und dabei dann von dem, der von diesem Ereignis betroffen ist, als von einem Schuh-fabrikanten zu sprechen. Wo dies geschieht, hat man das Bild einer beinahe vollständigen Abstraktion von konkreten Wesen, nämlich von Menschen.

Es gibt noch einen anderen, damit zusammenhängenden, großen Bereich, in dem vom konkreten Menschen abstrahiert wird. Ich habe über ihn unter der Überschrift – Die Marketing-Orientierung“ in meinem Buch "Psychoanalyse und Ethik – Bausteine zu einer humanistischen Charakterologie" (E. Fromm, 1947a, GA II, S. 47– 56) gesprochen und möchte deshalb hier nur zusammenfassend die Kerngedanken referieren. Menschen verkaufen nicht nur ihre körperliche Kraft, ihre Fähigkeiten, ihren Verstand, wenn sie sich für den einen oder anderen Zweck anstellen lassen. Vielmehr verkaufen sie in unserer Kultur auch ihre Persönlichkeit: Sie müssen freundlich sein, den richtigen Familienhintergrund und nach Möglichkeit Kinder haben, um geachtet zu werden. Selbst die Frau hat liebenswürdig zu sein und muß sich – allgemein gesprochen – in bestimmte Verhaltensmuster einpassen. Der Mann muß nett sein, und je netter er ist, desto weiter kommt er. Der einzelne erlebt sich dabei nicht mehr als das konkrete Individuum, das ißt, trinkt, schläft, liebt und haßt; er ist niemand Einmaliger und kein Konkreter mehr, sondern eine Ware und – ich sage dies absichtlich – jemand, der sich selbst auf dem Markt erfolgreich verkaufen muß. Darum muß er jene Eigenschaften, für die es auf dem Markt eine Nachfrage gibt, kultivieren. Fühlt er, daß er gefragt ist, dann ist er erfolgreich. Ist er nicht gefragt, dann erlebt er sich als Versager.

Das Individuum von heute, sofern man hier noch von Individuum sprechen kann, macht sein gesamtes Selbstwerterleben davon abhängig, ob es verkäuflich ist oder nicht, ob es eine Nachfrage nach dem gibt, was es anzubieten hat, oder nicht. Sein Selbsterleben, sein Vertrauen in sich selbst bestimmt sich nicht mehr von der Wertschätzung seiner realen konkreten Eigenschaften, seiner Intelligenz, seiner Ehrlichkeit, seiner Integrität, seinem Humor und all dem, was er ist, vielmehr hängen sein Selbtwertempfinden und seine Sicherheit davon ab, ob es ihm gelingt, sich selbst zu verkaufen. Aus diesem Grunde ist er immer unsicher, immer abhängig vom Erfolg und wird äußerst unsicher, wenn sich dieser Erfolg nicht einstellt.

Entfremdung in der Sprache

Das Fortschreiten des Prozesses der Abstraktion zeigt sich auch in der Sprache. Sprache hat den Zweck und die Funktion, Übermittlung und Kommunikation zu ermöglichen. Deshalb muß Sprache von Natur aus abstrahieren. Wenn ich zum Beispiel von dieser Uhr spreche und sie eine Uhr nenne, dann meine ich mit dieser Aussage nicht diese spezielle konkrete Uhr. Die Aussage ist nicht einzigartig, sondern bezieht sich auf eine von vielen tausend anderen Uhren, die die gleiche Firma hergestellt hat, und doch deckt sie nicht die anderen Uhren ab. Wenn ich sage, dies ist eine Uhr, dann sage ich, dies ist etwas, das mit allen anderen Uhren ausreichend viel gemeinsam hat, so daß wir über den Bezug zu einer Abstraktion – einer Uhr – einander verstehen können, und nicht, indem wir auf etwas ganz Konkretes wie diese spezielle Uhr Bezug nehmen. Es ist die Funktion der Sprache, vom konkreten einmaligen Phänomen zu abstrahieren, womit es uns möglich wird, mit einem Wort zahlreiche Gegenstände ähnlicher Art abzudecken, vorausgesetzt, es gibt ausreichend Raum für diese Abstraktion.

Das Abstrahieren birgt aber auch die Gefahr, daß bei der Bezeichnung eines Gegenstandes mit einem Wort die Gegenstände ihre Konkretheit verlieren, so daß ich nicht mehr das wahrnehme, worüber ich spreche, sondern nur das Wort wahrnehme. – Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose ... – dieser Satz protestiert gegen den Prozeß der Abstraktion, indem diese Zeile die Rose zu einer sehr konkreten Wahrnehmung macht. Fragen Sie sich selber, was in Ihnen vor sich geht, wenn Sie sagen: – eine Rose. Sehen Sie die Rose? Riechen Sie sie? Spüren Sie sie als etwas Konkretes? Oder kommt Ihnen zum Stichwort Rose in den Sinn: – Ein Dutzend für fünf Dollar! Oder haben Sie dabei eine vage Vorstellung von einer eleganten Blume, die man bei passender Gelegenheit verschickt? Wie konkret nehmen wir etwas noch wahr, das wir mit einem Wort kennzeichnen? Oder gebrauchen wir die Sprache im wesentlichen nur in abstrahierender Weise?

Um nicht mißverstanden zu werden: Wenn der Besitzer eines Blumenladens am Abend seine Abrechnung macht und sich notiert, daß er fünfzig Rosen verkauft hat, hierbei aber von seinem Enthusiasmus derart in Anspruch genommen wird, daß er vergißt, sein Geld ordnungsgemäß zu zählen, wenn er an die Rosen denkt, er dann nur noch dasäße und sich den wunderbaren Gefühlen, die Rosen zu riechen, hingeben würde, ferner sich in seiner Phantasie diese Rosen vor seine Augen holen und schließlich den Laden glücklich verlassen würde, ohne seine Abrechnung gemacht zu haben, dann könnte er nicht mehr sein Geschäft führen. Der Prozeß der Abstraktion ist durchaus ein sehr wichtiger Aspekt unseres modernen Lebens. Er gründet ganz wesentlich auf einem rationalen System von Buchführung, Abrechnungen und Quantifizierungen. Unser System ließe sich nicht aufrechterhalten ohne durchdachte Methoden, mit denen wir im Geschäftsleben fähig sind, die Dinge zu quantifizieren. Alles kann quantifiziert werden: Laborkosten, Unterhaltungskosten, ja selbst die Kosten, die wir für die human relations ausgeben. Ich bin weit davon entfernt, die Tatsache, daß man alles quantifizieren kann, als solche zu kritisieren, denn sie bildet einen wesentlichen Bestandteil unserer modernen Art zu produzieren. Ohne Quantifizierung gäbe es keine Großunternehmen und Produktionseinrichtungen, ja unser gesamtes wirtschaftliches System würde kollabieren, wenn wir nicht die Mittel und Bereitschaft hätten, die Arbeitsprozesse zu quantifizieren.

Dennoch ist zu fragen, ob diese Produktionsweise und diese Art, sich wirtschaftlich zu verhalten, nicht einen gewaltigen Einfluß auf die Persönlichkeitsstruktur von uns allen gehabt hat, und ob sie nicht längst über den Bereich der Läden und Unternehmen hinaus in unser gesamtes Leben Eingang gefunden hat, so daß der Blumenladenbesitzer während der abendlichen Abrechnung nur noch an die fünfzig-Cent-Sache statt an die konkrete Blume denkt und damit überhaupt nie mehr an die konkrete Blume denkt. [Weil er keine Beziehung zur Blume als Blume mehr hat,] kann es gut sein, daß er morgen Käse oder atomare Energie oder Schuhe verkauft. Alle Gegenstände haben für ihn als konkrete Gegenstände nur noch eine geringe Bedeutung; sie werden vielmehr nur noch als Dinge mit abstrakten Werten wahrgenommen.

Noch sehr viel einschneidender wirkt sich der Prozeß der Abstraktion in der Sprache aus, wenn es nicht um Worte geht, die sich auf Gegenstände beziehen, sondern auf innere Wahrnehmungen wie etwa die Liebe. Was meinen wir, wenn wir von Liebe sprechen? Es ist geradezu phantastisch, aber es gibt so gut wie nichts unter dieser Sonne, das nicht Liebe genannt wird: Grausamkeit, Abhängigkeit, Herrschaftsausübung, wirkliche Liebe, Angst, Konventionalität – beinahe alles wird Liebe genannt. Die Aussage »ich liebe ihn« kann alles mögliche heißen, von einer leichten Sympathie oder nur der höflichen Formulierung, daß man jemanden nicht haßt, bis zu jenen Gefühlen, über die die großen Dichter gesprochen oder Gedichte geschrieben haben. Das ganze Spektrum wird mit dem gleichen Wort belegt. ...

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