Auszüge aus Erich Fromm's
"Die Kunst des Liebens"

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Die Liebe und ihr Verfall in der heutigen westlichen Gesellschaft

Wenn Liebe eine Fähigkeit des reifen, produktiven Charakters ist, so folgt daraus, daß die Liebesfähigkeit eines in einer bestimmten Kultur lebenden Menschen von dem Einfluß abhängt, den diese Kultur auf den Charakter des Durchschnittsbürgers ausübt. Wenn wir jetzt von der Liebe in der westlichen Kultur sprechen, wollen wir uns daher zunächst fragen, ob die Gesellschaftsstruktur der westlichen Zivilisation und der aus ihr resultierende Geist der Entwicklung von Liebe förderlich ist. Wir müssen diese Frage verneinen. Kein objektiver Beobachter unseres westlichen Lebens kann bezweifeln, daß die Liebe – die Nächstenliebe, die Mutterliebe und die erotische Liebe – bei uns eine relativ seltene Erscheinung ist und daß einige Formen der Pseudoliebe an ihre Stelle getreten sind, bei denen es sich in Wirklichkeit um ebenso viele Formen des Verfalls der Liebe handelt.

Die kapitalistische Gesellschaft gründet sich einerseits auf das Prinzip der politischen Freiheit und andererseits auf den Markt als den Regulator aller wirtschaftlichen und damit auch gesellschaftlichen Beziehungen. Der Markt der Gebrauchsgüter bestimmt die Bedingungen, unter denen diese Gebrauchsgüter ausgetauscht werden, der Arbeitsmarkt reguliert den An- und Verkauf von Arbeitskraft. Nutzbringende Dinge wie auch nutzbringende menschliche Energie werden in Gebrauchsgüter verwandelt, die man ohne Anwendung von Gewalt und ohne Betrug entsprechend den Marktbedingungen austauscht. Schuhe zum Beispiel, so nützlich und notwendig sie sein mögen, haben keinen wirtschaftlichen Wert (Tauschwert), wenn auf dem Markt keine Nachfrage danach herrscht. Die menschliche Energie und Geschicklichkeit hat keinen Tauschwert, wenn sie unter den derzeitigen Marktbedingungen nicht gefragt ist. Wer über Kapital verfügt, kann Arbeitskraft kaufen und so einsetzen, daß er sein Kapital gewinnbringend anlegt. Wer nur über Arbeitskraft verfügt, muß sie zu den jeweiligen Marktbedingungen an die Kapitalisten verkaufen, wenn er nicht verhungern will. Diese wirtschaftliche Struktur spiegelt sich in der Hierarchie der Werte wider. Das Kapital dirigiert die Arbeitskraft; angesammelte, tote Dinge besitzen einen höheren Wert als das Lebendige, die menschliche Arbeitskraft und Energie.

Dies war von Anfang an die Grundstruktur des Kapitalismus. Obgleich es noch immer auch für den modernen Kapitalismus kennzeichnend ist, haben sich doch inzwischen eine Reihe von Faktoren geändert, die dem heutigen Kapitalismus seine spezifischen Eigenschaften verleihen und einen tiefen Einfluß auf die Charakterstruktur des modernen Menschen ausüben. Die Entwicklung des Kapitalismus hat dahin geführt, daß wir heute Zeugen eines ständig zunehmenden Prozesses der Zentralisierung und Konzentration des Kapitals sind. Die großen Unternehmen dehnen sich ständig weiter aus, und die kleineren werden von ihnen erdrückt. Die Besitzer des in Großunternehmen investierten Kapitals sind immer seltener zugleich auch die Manager. Hunderttausende von Aktionären "besitzen“ das Unternehmen; eine Bürokratie von gutbezahlten Managern, denen das Unternehmen jedoch nicht gehört, verwaltet es. Diese Bürokratie ist weniger an einem maximalen Profit als an der Ausweitung des Unternehmens und der eigenen Macht interessiert. Parallel mit der zunehmenden Konzentration des Kapitals und dem Aufkommen einer mächtigen Managerbürokratie läuft die Entwicklung der Arbeiterbewegung. Durch die Organisierung der Arbeiter in den Gewerkschaften braucht der einzelne Arbeiter auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr seine Sache allein auszuhandeln. Er ist in großen Gewerkschaften organisiert, die von einer mächtigen Bürokratie geleitet werden und die ihn gegenüber den Industriekolossen vertreten. Auf dem Gebiet des Kapitals wie auch auf dem Arbeitsmarkt ist die Initiative, mag man das nun begrüßen oder bedauern, vom einzelnen auf die Bürokratie übergegangen. Immer mehr Menschen verlieren ihre Unabhängigkeit und werden von Managern der großen Wirtschaftsimperien abhängig.

Ein weiteres entscheidendes Merkmal, das auf diese Konzentration des Kapitals zurückzuführen und das für den modernen Kapitalismus charakteristisch ist, ist die spezifische Art der Arbeitsorganisation. Die weitgehend zentralisierten Unternehmen mit ihrer radikalen Arbeitsteilung führen zu einer Organisation der Arbeit, bei der der einzelne seine Individualität einbüßt und zu einem austauschbaren Rädchen in der Maschinerie wird. Man kann das menschliche Problem des Kapitalismus folgendermaßen formulieren: Der moderne Kapitalismus braucht Menschen, die in großer Zahl reibungslos funktionieren, die immer mehr konsumieren wollen, deren Geschmack standardisiert ist und leicht vorausgesehen und beeinflußt werden kann. Er braucht Menschen, die sich frei und unabhängig vorkommen und meinen, für sie gebe es keine Autorität, keine Prinzipien und kein Gewissen – und die trotzdem bereit sind, sich kommandieren zu lassen, zu tun, was man von ihnen erwartet, und sich reibungslos in die Gesellschaftsmaschinerie einzufügen; Menschen, die sich führen lassen, ohne daß man Gewalt anwenden müßte, die sich ohne Führer führen lassen und die kein eigentliches Ziel haben außer dem, den Erwartungen zu entsprechen, in Bewegung zu bleiben, zu funktionieren und voranzukommen.

Was kommt dabei heraus? Der moderne Mensch ist sich selbst, seinen Mitmenschen und der Natur entfremdet. (vgl. meine ausführliche Diskussion des Problems der Entfremdung und des Einflusses der modernen Gesellschaft auf den menschlichen Charakter in E. Fromm, 1955a.) Er hat sich in eine Gebrauchsware verwandelt und erlebt seine Lebenskräfte als Kapitalanlage, die ihm unter den jeweils gegebenen Marktbedingungen den größtmöglichen Profit einzubringen hat. Die menschlichen Beziehungen sind im wesentlichen die von entfremdeten Automaten. Jeder glaubt sich dann in Sicherheit, wenn er möglichst dicht bei der Herde bleibt und sich in seinem Denken, Fühlen und Handeln nicht von den anderen unterscheidet. Während aber jeder versucht, den übrigen so nahe wie möglich zu sein, bleibt er doch völlig allein und hat ein tiefes Gefühl der Unsicherheit, Angst und Schuld, wie es immer dann entsteht, wenn der Mensch sein Getrenntsein nicht zu überwinden vermag. Unsere Zivilisation verfügt über viele Betäubungsmittel, die den Leuten helfen, sich ihres Alleinseins nicht bewußt zu werden: Da ist vor allem die strenge Routine der bürokratischen, mechanischen Arbeit, die verhindern hilft, daß sich die Menschen ihres tiefsten Bedürfnisses, des Verlangens nach Transzendenz und Einheit, bewußt werden. Da die Arbeitsroutine hierzu nicht ausreicht, überwindet der Mensch seine unbewußte Verzweiflung durch die Routine des Vergnügens, durch den passiven Konsum von Tönen und Bildern, wie sie ihm die Vergnügungsindustrie bietet; außerdem durch die Befriedigung, ständig neue Dinge zu kaufen und diese bald wieder gegen andere auszuwechseln. Der moderne Mensch kommt tatsächlich dem Bild nahe, das Aldous Huxley in seinem Roman "Brave New World" (1946) beschreibt: Er ist gut genährt, gut gekleidet und sexuell befriedigt, aber ohne Selbst und steht nur in einem höchst oberflächlichen Kontakt mit seinen Mitmenschen. Dabei wird er von Devisen geleitet, die Huxley äußerst treffend formuliert hat: "Wenn der einzelne fühlt, wird die Gesellschaft von Schwindel erfaßt.“ Oder: "Verschiebe ein Vergnügen nie auf morgen, wenn du es heute haben kannst.“ Oder die Krone von allem: "Heutzutage ist jeder glücklich.“ Des Menschen Glück besteht heute darin, "seinen Spaß zu haben". Und man hat seinen Spaß, wenn man sich Gebrauchsgüter, Bilder, Essen, Trinken, Zigaretten, Menschen, Zeitschriften, Bücher und Filme "einverleibt“, indem man alles konsumiert, alles verschlingt. Die Welt ist nur noch da zur Befriedigung unseres Appetits, sie ist ein riesiger Apfel, eine riesige Flasche, eine riesige Brust, und wir sind die Säuglinge, die ewig auf etwas warten, ewig auf etwas hoffen und ewig enttäuscht werden. Unser Charakter ist darauf eingestellt, zu tauschen und Dinge in Empfang zu nehmen, zu handeln und zu konsumieren. Alles und jedes – geistige wie materielle Dinge – werden zu Objekten des Tausches und des Konsums.

Wie nicht anders zu erwarten, ist auch die Liebe vom Gesellschafts-Charakter des modernen Menschen geprägt. Automaten können nicht lieben, sie tauschen ihre persönlichen Vorzüge aus und hoffen auf ein faires Geschäft. Einer der signifikantesten Ausdrücke im Zusammenhang mit Liebe und besonders im Zusammenhang mit einer solchermaßen entfremdeten Ehe ist die Idee des "Teams“. In zahllosen Artikeln über die glückliche Ehe wird deren Idealform als ein reibungslos funktionierendes Team beschrieben. Diese Beschreibung unterscheidet sich kaum von der eines reibungslos funktionierenden Angestellten, der "ziemlich unabhängig“, zur Zusammenarbeit bereit, tolerant und gleichzeitig ehrgeizig und aggressiv sein sollte. Dementsprechend soll der Ehemann, wie die Eheberater uns mitteilen, seine Frau "verstehen“ und ihr eine Hilfe sein. Er soll ihr neues Kleid und ein schmackhaftes Gericht, das sie ihm vorsetzt, loben. Sie ihrerseits soll Verständnis dafür haben, wenn er müde und schlecht gelaunt heimkommt, sie soll ihm aufmerksam zuhören, wenn er über seine beruflichen Schwierigkeiten redet, und sich nicht ärgern, sondern es verständnisvoll aufnehmen, wenn er ihren Geburtstag vergißt. Beziehungen dieser Art laufen alle auf die gut geölte Beziehung zwischen zwei Menschen hinaus, die sich ihr ganzes Leben lang fremd bleiben, die nie zu einer Beziehung von Personmitte zu Personmitte gelangen, sondern sich lediglich höflich behandeln und versuchen, es dem anderen etwas leichter zu machen.

Bei dieser Auffassung von Liebe und Ehe kommt es in erster Linie darauf an, eine Zuflucht vor dem sonst unerträglichen Gefühl des Alleinseins zu finden. In der "Liebe“ hat man endlich einen Hafen gefunden, der einen vor der Einsamkeit schützt. Man schließt zu zweit einen Bund gegen die Welt und hält dann diesen égoisme à deux [Egoismus zu zweit] irrtümlich für Liebe und Vertrautheit. ...

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