Auszüge aus Erich Fromm's
"Die Zukunft des Menschen und die Frage der Destruktivität"

Robert Jungk im Gespräch mit Erich Fromm

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Erich Fromm hat im Laufe seines Lebens eine ganze Reihe von Beiträgen zur Wissenschaft vom Menschen geleistet, die eine nachhaltige Wirkung haben. Einer der wichtigsten und zugleich der, der am meisten in Vergessenheit geraten zu sein scheint, ist sein Beitrag zur Aggressionsfrage, näherhin zu den Erscheinungsweisen und zu den Quellen menschlicher Destruktivität. Destruktivität zeigt sich heute einerseits in der zunehmenden Tendenz zur Verdinglichung des Menschen in den Bereichen Information und Technik, Gesundheit und Arbeit, aber auch in der Perfektion und Brutalisierung der Kriegsführung oder auch in Gewaltexzessen einzelner oder einiger Gruppen.

Im Jahr 1974 führte im Auftrag von Bild der Wissenschaft der Zukunftsforscher Robert Jungk mit Erich Fromm ein Gespräch über die Zukunft des Menschen angesichts der allgegenwärtigen Destruktivität. Die Einsicht, daß dort, wo der Mensch seine Fähigkeiten und Möglichkeiten nicht produktiv entfaltet, Destruktivität und Nekrophilie als Reaktion auf ein ungelebtes Leben die Folge sind, ist eine Schlüsselerkenntnis Erich Fromms zum Verständnis heutiger Formen von Gewalt.

Das Gespräch zwischen Jungk und Fromm, die beide aus Deutschland emigrieren mußten, ihre Verwandtschaft in den Konzentrationslagern der Nazis verloren und dennoch den Glauben an das Gelingen des Menschen nie aufgegeben haben, wurde erstmals 1974 in Heft 10 von Bild der Wissenschaft veröffentlicht. Es hat nichts an Aktualität verloren und wird hier in leicht gekürzter Form neu veröffentlicht.

Jungk: In Ihrem Buch Anatomie der menschlichen Destruktivität kommen Sie zu einer überraschend hoffnungsvollen Vorstellung einer möglichen Welt von morgen. Ich zitiere daraus: »Es ist berechtigt [...] sich vorzustellen, daß der Mensch den Kreis schließt und eine Gesellschaft baut, in der niemand bedroht ist. Weder das Kind durch die Eltern, weder die Eltern durch die Vorgesetzten, keine Klasse durch eine andere, keine Nation durch eine Supermacht.« Welche glaubhaften Argumente lassen sich für ein solches helleres Bild der Zukunft anführen?

Fromm: Die Menschheit hat bisher eine Reihe von schweren Krisen überraschenderweise bestanden, und dieses eigenartige Experiment »Mensch« hat überlebt. Nun kann man natürlich sagen: Ja, die Bedrohungen, denen wir heute ausgesetzt sind, waren auch noch nie so groß. Das ist vielleicht richtig, aber die Tatsache, daß wir immer noch lebendig sind, daß die Menschheit – nach einer relativ kurzen Geschichte – immer noch existiert, ist selbst schon bemerkenswerter, als die meisten Menschen denken, die das für selbstverständlich nehmen. Um ein biologisches Argument anzuführen: Die Gehirnstruktur des Menschen ist so organisiert, daß der Wunsch zu überleben, sowohl als einzelner wie als Art, dominiert. Eine Reihe von zeitgenössischen Neurophysiologen hat betont, daß der Gehirnmechanismus diesen blinden Wunsch zu leben in Zielvorstellungen umgesetzt hat, die zum Überleben notwendig sind. Und diese Vorstellungen sind nach Meinung von Wissenschaftlern in den neurophysiologischen Apparat eingebaut.

Jungk: Meinen Sie die Fähigkeit, solche Vorstellungen zu entwickeln?

Fromm: Ja. Zum Beispiel gibt es eine Reihe von Neurophysiologen – ich habe sie in meinem Buch Anatomie der menschlichen Destruktivität zitiert –, die sagen, daß die Fähigkeit zur Kooperation, und nicht nur die Fähigkeit, sondern die Tendenz zur Kooperation, in der Gehirnstruktur selbst verwurzelt ist. Sie erklärt sich genetisch aus der Tatsache, daß diese Tendenz eine notwendige Bedingung für das Überleben der Art ist. Andere sprechen davon, daß auch die Liebe, das heißt, die Tendenz zur Zusammenfassung, zur Integration, zur Vereinigung – in der Gehirnstruktur selbst verwurzelt ist, weil wiederum ohne diese Tendenz der Mensch nicht überleben kann. Nun muß man aber mitbedenken, daß das, was hier vom Menschen gesagt wird, für das Tier nicht notwendigerweise gilt, weil – wie ein bedeutender Biologe gesagt hat – der Mensch zwar in vieler Hinsicht ein Tier ist, in anderer Hinsicht jedoch kein Tier, weil er unter anderen Bedingungen lebt: nämlich des Selbstbewußtseins, des Sich-Gewahrseins seiner selbst. Diese Bedingungen stellen ihn vor ganz andere Fragen als das Tier.

Jungk: Wenn diese Fähigkeit zur Kooperation im Menschen genetisch angelegt ist, wie kann es dazu kommen, daß er so häufig gerade gegen diese Regel verstößt? Es ist ja mit Recht gesagt worden, daß der Mensch die einzige Art ist, die gegen die eigene Art vorgeht.

Fromm: Das ist die wesentliche Frage, die ich mit dem, was ich schon sagte, nicht beantwortet habe. Warum ist der Mensch – das hat Tinbergen einmal sehr klar dargestellt – das einzige Tier, das Mitglieder seiner Art mordet, ohne daß es einen biologischen Grund dafür hat?

Jungk: Kann das nicht unter Umständen in seiner Fähigkeit zur Reflexion liegen? Weil der Mensch nämlich Gedanken, die über das rein Biologische hinausgehen, entwickeln kann. Ideologien zum Beispiel, in deren Namen er dann tötet.

Fromm: Das ist einer der wesentlichen Gründe. Man muß ja – wenn ich mich einmal auf mein Buch beziehen darf – unterscheiden zwischen zwei Arten von Aggression. Die eine, die der Mensch mit dem Tier teilt, nämlich eine Reaktion der Feindseligkeit als Antwort auf die Bedrohung vitaler Interessen, ist biologisch gegeben. Die andere Art ist eine Zerstörungslust, eine Lust zum Morden und zum Quälen, die nicht biologisch angelegt ist, die man im großen und ganzen nicht beim Tier findet, sondern die ein spezifisch menschliches Problem ist. Von dieser Basis ausgehend muß man sagen: Die Grausamkeit ist etwas spezifisch Menschliches, etwas Neues, das genau mit dem zusammenhängt, was der Mensch nicht mit dem Tier teilt. Die allgemeine Vorstellung, daß der grausame und zerstörerische Mensch tierisch sei, ist eben falsch.

Das Tier zerstört nur dann, wenn es zerstören muß, um sich zu erhalten. Die Schwierigkeit liegt nur darin, daß das Wort »Aggression« viel mißbraucht wird, weil man alles undifferenziert Aggression nennt. Auch Freud tat das. Man nennt es Aggression, wenn ein Mensch etwas tut, um sein Leben zu verteidigen, jemanden angreift oder sogar tötet. Und man nennt es ebenfalls Aggression, wenn ein Mensch aus purer Lust jemanden umbringt.

Jungk: Könnte unter Umständen derjenige, der tötet, vor allem Angst vor der Zukunft haben? Angst vor dem Unvorhersehbaren und Unvorhergesehenen?

Fromm: Vielleicht müßte man hier den Unterschied machen, den ich in meinem Buch gemacht habe, den zwischen Sadismus und Nekrophilie. Sadismus ist charakterisiert durch einen Wunsch, die komplette Kontrolle über jemanden zu erlangen. Das ist in der Regel das Resultat der eigenen Ohnmacht. Der Sadismus ist die Selbstbehauptung des Krüppels, des Ohnmächtigen, dem es an innerer Produktivität oder Entwicklung fehlt, sich durch Liebe, durch schöpferische Leistung, durch innere Aktivität zu bestätigen, und der nur das, was jeder tun kann, wenn er Macht hat – starke Arme oder eine Pistole – tut, um sich als Gott vorzukommen und den Genuß zu haben – auch nur für eine Minute –, ein Schöpfer zu sein. Und das, was man gewöhnlich Sadismus nennt – nämlich bewußt zu quälen –, ist vielleicht nur der extreme Ausdruck dieser weitergehenden Tendenz zur absoluten Kontrolle. Albert Camus hat das sehr schön in dem Drama Caligula dargestellt. Caligula ist der Mann, der absolute Macht will. Er will den Mond, wie es Camus symbolisch ausdrückt.

Letzten Endes ist also der Sadismus immer noch auf der Seite des Lebens. Es ist immer noch ein Versuch, das an Selbstbestätigung zu haben, was in einer positiven Weise nur der hat, der seine Individualität in irgendeiner Form konstruktiv ausdrücken kann. Vielleicht kann ich hier eine kleine Geschichte erzählen, die ich gerade in einem Buch über Arbeitspsychologie gelesen habe. Da wird ein Metallarbeiter in Amerika geschildert, der Röhren macht. Dieser sagt: In jede Röhre, die ich mache, versuche ich, eine ganz kleine »Einbuchtung« zu machen, die man allerdings nicht bemerken darf. Das gibt mir die Befriedigung, denn ich weiß: Etwas von meiner Individualität hat sich in der Welt ausgedrückt. Nun, das ist eine – man könnte fast sagen – rührende, bewegende menschliche Geschichte, aber sie ist ungeheuer wichtig, wenn man ihre Bedeutung ansieht – sie drückt nämlich den tiefen Wunsch des Menschen aus, in irgendeiner Weise etwas zu bewirken, die Ohnmacht seiner Existenz zu überkommen.

Jungk: Würden Sie sagen, daß zum Beispiel jetzt die Terroranschläge, die wir öfters erleben, auch von daher zu erklären sind?

Fromm: Ich glaube, die sind auch davon mitbestimmt. Das ist sehr kompliziert. Ich glaube, daß dabei häufig auch nekrophile Tendenzen mitspielen. Die Nekrophilie – die Liebe zum Toten, das Angezogensein vom Toten – ist insofern verschieden vom Sadismus, als der nekrophile Mensch, der zerstörerische Mensch, ja nicht das Leben nur – wie der Sadist – kontrollieren will. Der nekrophile Mensch ist dagegen dem Leben nicht mehr so verbunden. Ihm fehlt jede Beziehung zum Lebendigen. Er sieht nur einen Ausweg, nur einen Triumph, nur eine Rache, nämlich anstelle der Kreativität das Zerstören. Der Nekrophile empfindet ein Ressentiment gegen das Leben, und er rächt sich für das ungelebte Leben, indem er es zerstört. Er fühlt: Ich bin lebendig, biologisch gesehen, und doch bin ich innerlich tot. Ich kann nichts spüren, ich kann nichts erleben. Dazu ein Beispiel. Ich denke an einen 18jährigen Jungen, der eines Tages ohne jeden Grund – und das sind oft Jungen, die als Musterkinder gelten, was Himmler als Kind ja auch war – seine kranke Schwester überfällt. Er nimmt ein Messer und sticht sie zu Tode. Und sagt dann: »Als ich ihr schreckens- und schmerzerfülltes Gesicht gesehen habe, da habe ich zum ersten Male erlebt, daß ich ich bin.«

Jungk: Als ich Ihnen eben zuhörte, habe ich mich gefragt: Wieviel sadistische, vielleicht sogar nekrophile Tendenzen gibt es in der angewandten Naturwissenschaft? Will der Naturwissenschaftler von heute und in verstärktem Maße der Techniker nicht vielleicht auch vor allem die Kontrolle haben, um sich über die lebendige Welt zu setzen?

Fromm: Ich würde diese Frage sogar noch erweitern: Das betrifft nicht nur den modernen Naturwissenschaftler, sondern den Menschen von heute allgemein. Die Nekrophilie ist charakterisierbar durch den leidenschaftlichen Wunsch, das Lebendige zu zerstückeln.

Jungk: Wenn ich sehe, wie die moderne Wissenschaft seziert, ob es um Pflanzen oder um Tiere geht, ob es ums Atom geht, das ja auch zertrümmert, zerstückelt wird ...

Fromm: Nur – glaube ich – sieht man in der ganzen modernen Gesellschaft eine immer steigende Tendenz der Anziehung durch das Nichtlebendige und das rein Mechanische. Ich glaube, es gibt nichts Charakteristischeres als das Futuristische Manifest von Marinetti von 1909, wo er die Technik, die Zerstörung und den Krieg preist und auch nicht zufällig sagt: Wir hassen die Frauen. Der Haß gegen die Frau, der Haß gegen das Leben, der Haß gegen alle natürlichen Bindungen und die Liebe zum Technischen, zum Unlebendigen, ist ein wesentliches Charakteristikum der Nekrophilie. Das ist eine Tendenz, die man wachsen sehen kann in der modernen Gesellschaft. Der große Gegner dieser Entwicklung war Goethe; da sehen wir noch die Wissenschaft, aufgefaßt als eine lebendige.

Goethe war eben einer der großen Repräsentanten der Biophilie, das heißt der Liebe zum Lebendigen. Es gibt sehr viele biophile Naturwissenschaftler, aber es gibt eben auch nekrophile Naturwissenschaftler, die sich eigentlich freuen, wenn sie das Lebendige zerteilen können. Ob das die besten sind, das weiß ich nicht. Vermutlich sind es nicht die besten, denn ich glaube, ein nekrophiler Mensch ist kein besonders schöpferischer Mensch.

Jungk: Ich glaube auch, daß ein solcher Naturwissenschaftler die Natur gar nicht wirklich erkennen kann, weil ja diese Natur lebt, weil sie nur als lebendige sie selbst ist.

Fromm: Genau, gerade die moderne Psychologie ist zum großen Teil nekrophil, weil sie den Menschen einfach zerstückelt und nicht den lebendigen Gesamtmenschen betrachtet. Da sieht man dann den Menschen als eine Summe von verschiedenen Eigenschaften, die von Maschinen festgestellt worden sind. Der lebendige Mensch geht bei dieser Betrachtungsweise ganz verloren.

Jungk: Unsere ganze Gesellschaft ist ja arbeitsteilig, da wird ja im Grunde auch ständig »seziert«.

Fromm: Man kann den Menschen eigentlich in der heutigen Gesellschaftsstruktur definieren als ein Werkzeug, für das es noch keine Maschine gibt. Aber der Gesamtmensch geht dabei verloren, und der Mensch erlebt sich auch nicht als Gesamtmensch, er erlebt sich als eine aktive Ware – selbsttätige Ware. Deshalb ist er einsam und unglücklich. Und deshalb macht er den tragischen Versuch, aus diesem Unglück herauszukommen: Er sucht die Freude an der Zerstörung.

Jungk: Aber nun ist mir immer aufgefallen bei Ihnen – eigentlich im Gegensatz zu vielen Psychologen, auch zu Soziologen und anderen Sozialwissenschaftlern –, daß Sie über die Analyse hinaus eben Konzepte entwickelt haben, daß Sie also nicht nur als Diagnostiker festgestellt haben, was nicht stimmt, wo es nicht geht, sondern mögliche Therapien empfohlen haben. Darum meine Frage: Wie könnte man viele Menschen dazu bringen, daß sie ihre Persönlichkeit positiv ausdrücken können?

Fromm: Das wäre nur möglich bei einer radikalen Änderung unserer gesellschaftlichen Struktur. In der heutigen Gesellschaft ist der Mensch eine Null geworden, ein Anhängsel der Maschine, und es kann auch nicht anders sein, wenn eine Gesellschaft den Profit und die Produktion und nicht den Menschen als oberstes Ziel und Objekt aller Anstrengungen ansieht. Ich glaube, daß die bestehende Gesellschaftsordnung den Keim der Zerstörung in sich trägt, weil sie die Zerstörungslust erzeugt, und zwar um so mehr, je weniger sie den Menschen glücklich macht, je gelangweilter die Menschen sind, je weniger die Menschen das Leben bejahen können.

Jungk: In Ihrem Buch Die Revolution der Hoffnung haben Sie von der Humanisierung der Technik gesprochen. Wie aber soll eine humanisierte Technik aussehen? Haben Sie dazu irgendwelche Vorstellungen?

Fromm: Ich glaube, es dreht sich hier nicht nur um die Frage der Maschine, sondern es dreht sich noch um eine ganz wesentliche und übergreifende Frage. Es geht um die Bedürfnisse und um die menschliche Gier. Viele Menschen glauben heute, der Fortschritt, das Heil und die Lebensfreude lägen darin, immer mehr zu konsumieren. Aus den Produktionsbedingungen des Kapitalismus ergibt sich, daß man mehr und mehr verkaufen muß, um diese ökonomische Struktur in Gang zu halten, das heißt, man muß die Menschen mit allen Mitteln der Überredung – und die gibt es reichlich – dazu bringen, mehr und mehr haben zu wollen. Und das muß notgedrungen mit Unbefriedigung enden, denn es gibt ja keine Grenzen. Beim Essen und Trinken hat die Natur Grenzen gesetzt.

Bei den artifiziellen Bedürfnissen jedoch, die der moderne Kapitalismus schafft, gibt es keine. Die Menschen sind konsumsüchtig, süchtig wie ein Mensch, der Drogen nimmt. Und warum? Weil diese Konsumtion der einzige Weg ist, sie aus ihren Ängsten und Depressionen zu befreien. In Wahrheit aber werden sie nicht befreit, nur die Symptome werden verdeckt. Wenn jemand ein wenig deprimiert ist, ist er häufig geneigt, mehr zu essen oder Sachen zu kaufen. Durch das In-sich-Hereinnehmen von Dingen holt er sich symbolisch und psychisch Stärkung.

Das heißt also: Für die Industrie gibt es ein unendliches Feld, da die Menschen nie zufrieden sind und immer mehr wollen. Sie sind deshalb gewillt, die Bedingungen anzunehmen, die ihnen die Wirtschaft vorschreibt, damit sie die Drogen – Güter, Befriedigungen – bekommen, die diese Wirtschaft erzeugt. Die sogenannten sozialistischen Länder haben nicht nur die Maschine übernommen, sondern auch ein Lebensideal der kapitalistischen Welt: Konsum. Mir scheint, daß dieser üble Kreis nur durchbrochen werden kann, wenn wir die Existenzform überwinden, die durch das »Haben« und das Konsumieren bestimmt ist.

Jungk: Wenn ich zum Beispiel mit Studenten diskutiere, dann sagen sie, man kann das Neue überhaupt nicht denken, solange das Alte noch besteht. Ich halte das aber für einen Irrtum. Wir säßen noch in den Höhlen, wenn das so wäre. Ich sage ihnen immer: Marx hat ja auch in der Bibliothek des Britischen Museums seine Bücher geschrieben und sich mitten in dieser kapitalistischen Welt eine ganz andere vorgestellt.

Fromm: Es gibt dazu eine schöne talmudische Geschichte: Wenn ein Kind geboren wird, kommt ein Engel und berührt seine Stirn, damit es vergißt, denn bei der Geburt weiß es schon alles, aber das Leben wäre zu grausam, wenn es dies nicht vergessen würde. Der Mensch weiß alles. Er weiß es nur auch wieder nicht. Wenn nämlich die Menschen nicht alles schon wüßten, würde man sie auch nicht erreichen. Wenn man Menschen die Wahrheit sagt, dann kann das nur wirken, weil die Grundlage schon in ihnen ist. Sonst gäbe es keine Heilung. Nur haben die Menschen eine ungeheure Angst davor.

Jungk: Ich frage mich, bei wie vielen Menschen und wieweit die Entwicklung der Phantasiefähigkeit in sehr frühem Alter behindert wird, so daß es den meisten gar nicht mehr möglich ist, etwas radikal anders zu denken.

Fromm: Unbedingt – die Phantasie wird systematisch zerstört im frühen Alter, das heißt mit Beginn des Schulalters – heute in Amerika schon früher. Und sie wird systematisch weiter zerstört durchs ganze Leben, weil sie gefährlich ist. Der Mensch, der Phantasie hat, ist gefährlich; schließlich gilt er als verrückt.

Jungk: Welche Rolle würde die Phantasie in der Gesellschaft spielen, die Sie sich vorstellen?

Fromm: Eine sehr große. Man muß aber unterscheiden zwischen dem, was ich »rationale Phantasie«, das heißt vernünftige Phantasie, nennen würde und einer irrationalen Phantasie, die nichts ist als eine Flucht aus der Realität.

Jungk: Wie würden Sie diese Parameter der »rationalen Phantasie« ziehen?

Fromm: Ich denke dabei an Zustände, die – Hegel würde sagen – real möglich sind. Man könnte hier eingehen auf einen Unterschied, der recht wichtig ist, zwischen Traum und Tagtraum.

Jungk: Welchem würden Sie die rationale Phantasie zuschreiben?

Fromm: Der Traum ist die rationale Phantasie, weil er echt ist. Ist Phantasie ein Ausdruck einer lebendigen Gestaltung, ein lebendiger Ausdruck der Kräfte des Menschen, seiner Vernunft, seines Sehens, seines Hörens, seiner künstlerischen Kräfte, oder ist die Phantasie eine Kompensation für seine Ohnmacht, eine Flucht? Und das kann man am Traum sehen. Der Traum ist ein Kunstwerk, der Tagtraum ist Kitsch.

Jungk: Eine Frage, die nun heute häufig gestellt wird, ist: Wie kann man die Menschen motivieren, von ihren bisherigen Verhaltensweisen und bisherigen Zielen auf andere Ziele umzusteigen? Die meisten, die sich zu diesem Problem äußern, bleiben bei dem Wegnehmen stehen. Man sagt: So geht es nicht weiter. Man spricht von Nullwachstum. Ich meine, es ist unsinnig, von Nullwachstum zu sprechen, man sollte von »anderem« Wachstum sprechen. Man kann auf der einen Seite stoppen, aber man muß dafür etwas anderes geben. Ich sollte einem Menschen nichts wegnehmen, wenn ich ihm nicht etwas anderes dafür gebe.

Fromm: Gewiß, eine Motivierung kann nur durch eine andere, die mindestens ebenso stark ist, ersetzt werden. Hoffnungsvoll ist, daß wir heute wissen, daß die Änderung des Menschen nur verbunden sein kann mit der Veränderung der Verhältnisse, die die bisherige Haltung bewirkt haben. Aber es ist, glaube ich, nicht so, wie es gewisse Vertreter eines scheinbar radikalen Sozialismus – zum Beispiel Herbert Marcuse – behauptet haben, daß man erst Revolution machen müsse und dann käme die Änderung. Vor der Revolution sei jede Änderung von Schaden, denn sie befriedige und stabilisiere die Verhältnisse. Ich glaube, das ist falsch.

Es scheint mir einer der Irrtümer von Lenin zu sein, daß er nicht genügend gesehen hat, daß, wenn man das menschliche Element vergißt, dieses selbst die politische Haltung verändert und korrumpiert.

Welche Möglichkeiten gibt es, daß die Menschen eine neue Vision bekommen von einem Leben, das interessant ist, das freudig ist, das biophil ist, das nicht bürokratisch ist, das ihnen erlaubt, sich auszudrücken?

Das, was an einer Vision anzieht, was Menschen erfüllt, ist das Utopische, das Radikale, das große Bild, das einen Menschen fortreißt, das ihm einen neuen Sinn vom Leben gibt und das ihm selbst eine Aufgabe gibt. Die erste Aufgabe wäre es, darzustellen, worin eigentlich dieser neue Mensch und diese neue Gesellschaft bestehen würden. Zunächst gar nicht einmal in einem detaillierten Entwurf, sondern etwas, das dem Menschen ein neues Bild von den Möglichkeiten zu leben gibt. Denn alles das ist ja im Menschen als Möglichkeit schon vorhanden.

Die Frage ist, ob man es ihm bewußtmachen kann. Solange man aber nur von Dingen wie Vergesellschaftung der Produktionsmittel spricht, wird der Mensch im Grunde genommen gar nicht motiviert. Es hat sich in Rußland gezeigt, daß das alles gar nichts bedeutet. Das ist keine Vision, die die menschlichen Leidenschaften bewegt.

Jungk: Was geschieht aber, wenn diese Vision nicht geschaffen wird? Das Bedürfnis dafür ist ja zweifellos da. Ist hier nicht ein Vakuum, das sich unter Umständen wieder eine Figur wie Hitler zunutze macht oder irgend jemand, der mit falschen Versprechungen sich auf den leeren Thron der Hoffnungen setzt?

Fromm: Ich glaube, es ist nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich. Denn wir haben tatsächlich nur die Alternative, daß entweder die Menschen aus ihrem gegenwärtigen Jammer herauskommen, indem sie etwas ganz Neues schaffen wollen, oder daß sie nichts ändern, sondern den Illusionen unterliegen, die irgendein Demagoge mit der verlogenen Behauptung ihnen vorgaukelt, das Neue sei nun eingetroffen. Ich glaube, daß die Menschen sich bewußt werden sollen, daß sie sich eigentlich unglücklich fühlen, warum sie sich unglücklich fühlen und wie sie sich glücklicher fühlen könnten. Das ist der erste Schritt. Und dann müssen die Menschen sich bewußt werden – das wäre der zweite Schritt – , daß im Zusammenhang mit der entsprechenden Praxis eine Chance bestehen mag, daß sich noch genügend menschliche Substanz vorfindet, um die Menschen zu immunisieren gegen die Möglichkeit eines neuen Faschismus.

Wie groß die Chancen sind, ist eine andere Frage, aber ich glaube, wenn es ums Leben geht, kann man nicht in Statistiken reden.

Jungk: Sie haben einmal gesagt: »Der Mensch ist tot.«

Fromm: Ja, ich sagte, daß das Problem heute nicht mehr darin besteht, ob Gott tot ist, sondern ob der Mensch tot ist. Der Mensch ist aber eben doch nicht tot, solange er noch lebt. Und der Mensch lebt noch. Es sind doch sehr positive Dinge geschehen: Das patriarchalische System ist langsam zerschlagen worden, die Rolle der Frau, die seit 5000 Jahren bestanden hat, ist im Begriff, vollkommen geändert zu werden. Die Rolle der Autorität wird klarer durchschaut. Ein neuer radikaler Humanismus wird in allen Teilen der Welt sichtbar. Die Trennung nach Rasse und Hautfarbe beginnt abzubröckeln. Die menschliche lntelligenz hat in den Naturwissenschaften echte Triumphe gefeiert.

Mir scheint, der Mensch ist noch sehr lebendig. Die einzige Frage ist, ob er sich gegen die seine physische Existenz bedrohenden Kernwaffen und eine Politik, die den Gebrauch dieser Waffen wahrscheinlich macht, rechtzeitig wehren kann. Ich glaube allerdings, daß er der entscheidenden Alternative nicht ausweichen kann: entweder eine neue Gesellschaftsform zu finden, die der Entfaltung des Lebens dient und nukleare Abrüstung einschließt, oder sich der Barbarei zu überlassen, wenn nicht der Vernichtung allen Lebens.

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