10. November 2005
Abwehrmaßnahmen
Wähle: Gegenmanipulation oder Gelassenheit?Oft zeigen wir instinktive Reaktionen, wenn wir uns in irgend einer Weise bedroht fühlen. Meist stellt sich der Verdacht auf Manipulation des Gesprächspartners ebenso instinktiv ein, wie die Abwehrmaßnahmen ausgelöst werden.
Der Verdacht auf Manipulation kann schon allein dadurch entstehen, daß in uns das vage Gefühl auftaucht, unsere Interessen nicht vertreten zu können bzw. wir uns vom Gesprächspartner irgendwie behindert fühlen: Wir fühlen uns unfair behandelt. Nun gehen die Meinungen darüber, was genau mit Fairneß gemeint ist, aber weit auseinander, so daß in der aktuellen Verdachtssituation meist keine Einigung darüber möglich ist und sich emotionale Befangenheit und Betroffenheit unter den Beteiligten ausbreiten. Das wiederum führt zu einer emotionalen Verwirrung, die geeignet ist, den kritischen Verstand zu benebeln.
Die Erklärung für den Vorrang des emotionalen Apparats vor dem kognitiven Teil unseres Gehirns liefern neueste Erkenntnisse der Hirnforschung und der Psycho-Soziologie, auf die ich in diesem Artikel aber nicht näher eingehen kann.
Wie gehe ich mit Manipulationsversuchen um?
In den vorangegangenen Artikeln dieser Serie habe ich auf verschiedene Manipulationstechniken hingewiesen und sie so gut ich konnte beschrieben. Heute möchte ich über die Abwehrmöglichkeiten diskutieren, um zu zeigen, wie man sich vor Manipulation schützen kann. Sicher wird das nicht jederzeit und auf Anhieb funktionieren. Da es sich aber um eine Kunstfertigkeit handelt, die Aufmerksamkeit und die Fähigkeit zur unbestechlichen Selbstbeobachtung erfordert, sollte sie jeder mit ein wenig, besser noch mit ein wenig mehr gutem Willen und Ausdauer erlernen können. Es ist wie beim Radfahren: einmal damit begonnen, läuft's mit zunehmender Übung besser und kann im Grunde nicht mehr verlernt werden.
Bevor ich jetzt gleich mit den einzelnen Abwehr-Techniken beginne, möchte ich noch ein paar Punkte vorausschicken:
- Perfektion in der Manipulationsabwehr ist kaum möglich, weil ungezählte Manipulationstechniken existieren und wohl kaum jemand in der Lage ist, sich alle zu merken und auch noch zu beherrschen. Dennoch sollten wir uns von gescheiterten Versuchen der Manipulationsabwehr nicht entmutigen lassen und lieber verstehen lernen, was wir falsch gemacht haben.
- Das größte Hindernis bei der Manipulationsabwehr stellt die Gefühls- und Denk-Verwirrung dar, die sich in emotional belastenden Situationen häufig ergibt. Nicht selten rührt die Verwirrung auch daher, nicht zu wissen, was der Manipulator genau bezweckt. Ahnungen oder Verdachtsmomente vermitteln da nur eine trügerische Sicherheit.
- Der erste Schritt in der Manipulationsabwehr ist das Erkennen: hat man erst einmal die konkrete Technik identifiziert, kann man sie benennen. Allein schon die Klassifizierung erleichtert um einen wesentlichen Teil des emotionalen Drucks, so daß die Denkhemmung wieder verschwindet. Meist genügt das schon, um ohne Bedauern auf eine Entgegnung verzichten zu können, wenn das – wie in einem Internet-Forum, wo keine Verträge und Abhängigkeiten zwischen den Kontrahenten existieren – ohne nennenswerte Folgen bleibt. Gegenüber Vorgesetzten oder Polizisten oder sonstigen Autoritäten sollte man gleichzeitig die Folgen bedenken, bevor man sich für eine Maßnahme entscheidet.
- Ist die Technik des Gesprächspartners identifiziert, empfiehlt es sich, die Strategie des Manipulatos herauszufinden, um mehr über seine verborgenen Absichten zu erfahren und sich die Situation zu verdeutlichen.
- Nun kann man in Ruhe die geeignete Gegenmaßnahme auswählen.
Ruhe und Gelassenheit erst ermöglichen es uns, sachlich und gerecht zu bleiben. Doch ist es bekanntlich leichter gesagt als getan, gegenüber aufsteigenden Emotionen Gelassenheit zu bewahren. Eine Möglichkeit, innerlich ausgeglichen zu bleiben oder zu werden, besteht in konzentrierter Aufmerksamkeit. Wenn du möglichst genau den vorgebrachen Argumenten folgst – den eigenen wie denen des Gesprächspartners –, wandert ein Großteil deiner Energie in jene Organe, welche die Funktion der wachen Aufmerksamkeit gewährleisten. Für den Bereich, in dem sich Emotionen abspielen – tiefer im Körper – ist dann weniger Energie für Angstbereitschaft und Flucht- bzw. Vermeidungsimpuls übrig. Übrigens: die weitverbreitete Vorliebe, die lieben Mitmenschen in verschiedene Typen zu unterteilen und je nach Bequemlichkeit oder aus Angst in den passenden Schubladen zu verstauen bzw. (um eine weitere Metapher zu verwenden) ihnen ein Etikett aufzukleben, schafft einen Wahrnehmungsfilter. Dieser läßt dann nur noch Wahrnehmungen durch, die zum gewählten Typ passen.
Vor Jahren wurde in der Zeitschrift Psychologie heute das folgende Experiment beschrieben: Man "hetzte" zwei Psychologen oder Psychiater aufeinander, indem man jedem vor dem "Beratungsgespräch" versicherte, die andere Person sei ein schwerer Fall von ... Leider mußte man die Kontrahenten im Verlauf der sich schnell entwickelnden Eskalation bald wieder voneinander trennen, sonst hätten sie sich womöglich gegenseitig verletzt.
Kausale Reaktionen basieren auf sogenannten Reiz-Reaktions-Mustern, die uns so eingeprägt wurden bzw. die wir so verinnerlicht oder verdrängt haben, daß sie unterhalb der Bewußtseinsschwelle agieren. Zu diesen Mustern zählen auch die Instinkte und das intuitive Verhalten, weshalb wir im Falle eines Verdachts meist mit einer typischen Verteidigungsstrategie antworten. Unterbrich diesen Reiz-Reaktions-Mechanismus!
Mir hilft meist die Erkenntnis: Eine Provokation verfolgt einzig den Zweck, eine ganz bestimmte Reaktion auszulösen. ... weil eine erkannte Manipulation zur Provokation wird ("Frechheit, so was! Was glaubt denn der ..."). Das Ziel der Provokation besteht in einer Schwächung des Diskussions-Gegners, entweder durch Gefühlsverwirrung, Denkverwirrung oder eine Drohung (mit dem Unwillen des Publikums durch ein "für-alle-reden": "Wir sind uns doch alle einig, daß Herr Hilpetranz hier etwas durcheinander bringt, nicht wahr?").
Beharrlichkeit zahlt sich zwar nicht immer aus, aber doch öfter, als zu vermuten wäre. Um sie umzusetzen, scheint es ratsam, sich nicht die Initiative rauben zu lassen. Manchmal benötigt man etwas verstärkte Beharrlichkeit, auch Hartnäckigkeit genannt, um nicht abgewiesen zu werden. Hilfreich ist ein klares Ziel, eine konkrete Vorstellung von den eigenen Interessen.
Brückenbauer gibt es viel zu wenige, das darf man getrost einmal aussprechen. Diese wertvollen Menschen verstehen es in der Tat, auch einem schier hoffnungslos verunglückten Gespräch wieder eine sachliche Richtung zu geben, so daß die Auseinandersetzung zu beidseitiger Zufriedenheit fortgesetzt werden kann. Zugegeben: es ist nicht gerade einfach, sich dermaßen im Griff zu haben, sämtlichen Revanchismus einfach aufzugeben zu können und dem Gesprächspartner eine Brücke zu bauen, auf der er sein Gesicht wahren kann – auch und gerade dann, wenn er sich unfair verhalten hat.
Situations-Beispiele für Abwehrmaßnahmen
- Eine nur zwei Alternativen suggerierende Entweder-oder-Behauptung sollte man generell in Zweifel ziehen. Umgeht man den Zweifel, entsteht keine Gewißheit darüber, ob es nicht noch eine dritte Alternative gegeben hätte.
- Wenn deine Alternative den Argumenten des Gegners nicht gewachsen ist, bedeutet das noch lange nicht, daß du nun zwangsläufig die Alternative des anderen akzeptieren mußt. Auch hier lauert ein verstecktes "Entweder-Oder": es fände sich vielleicht noch eine dritte Möglichkeit, die beiden dient.
- Macht dein Gesprächspartner Druck auf dich, indem er in schneller Folge "alle möglichen" Konsequenzen der gegebenen Alternativen durchspielt, dann tut er das, um ein Ergebnis präsentieren zu können, das seine Argumentation stützt. Ausgangslage war aber ein Entweder-Oder-Argument, das durch eine dermaßen einseitig und eilig vorgetragene "Analyse" meist weder entschieden noch gelöst werden kann.
- Sollte es sich bei der Diskussion um einen inneren Dialog handeln, entwickelt sich schnell einmal in ein Dilemma: man kann sich nicht entscheiden. Auch hier kann die Suche nach einer dritten Alternative ein Ausweg sein.
- Benutzt der Gesprächspartner die im Artikel Fallensteller, Aufschneider und Wichtigtuer beschriebene Analogiefalle, so sollte man die behauptete Analogie erst einmal ablehnen und bestreiten, solange man sie nicht selbst auf ihre Gültigkeit hin untersucht hat. Häufig werden Vergleiche mit der Natur und den Naturgesetzen angestellt, um ein Argument damit zu rechtfertigen.
- Gegen "Teufel-an-die-Wand-malen" hilft zuerst einmal die Kennzeichnung der angewandten Taktik: Angstmache durch Schwarzmalerei. Wie bei der "Entweder-Oder-Falle" empfiehlt sich auch hier eine Untersuchung und Relativierung der vorgehaltenen Konsequenzen: Bestimmt fallen dir bei ruhiger Überlegung Argumente für weniger drastische Folgen deiner Verteidigungs-Position ein. "Wenn das so weiter geht, dann geht die Welt unter!" – "Ich dagegen glaube, sie wird sich noch eine Weile weiterdrehen. Es ist schon Schlimmeres passiert." Die Gefahr besteht allerdings, daß der andere nun nach noch drastischeren Konsequenzen Ausschau hält, wenn er nicht gleich zu Anfang den Weltuntergang wählt.
- Die Schwarzmalerei wird gerne auch mit der Rutschbahntaktik kombiniert. Um dieser drohenden Schilderung einer unaufhaltsamen Lawine erfolgreich Paroli zu bieten, untersuche man die einzelnen Glieder der behaupteten Kausalkette. Häufig sind die Ableitungen von einem Glied zum nächsten nicht so wasserdicht, wie es auf den ersten Blick scheint.
- Zahlenangaben, Hinweise auf Statistiken, Prozentangaben : dahinter versteckt sich oft die Präzisionsfalle. Die beste Gegenmaßnahme liegt im angemeldeten Zweifel an den Zahlenwerten. So – um mal ein etwas gewagtes, aber nicht ganz von der Hand zu weisendes Beispiel zu verwenden – kann von uns hier keiner die von der Regierung, den Parteien, hohen Staatsbeamten, Richtern, Statistikern, Moderatoren, Reportern und Journalisten ständig im Mund geführten Zahlen faktisch überprüfen. Deshalb wäre es durchaus vorstellbar, daß gewisse Richtungsänderungen der öffentlichen Meinung durch Manipulation eingeleitet werden sollen. Zum Beispiel könnte keine demokratische Regierung ohne die derzeit hohe Arbeitslosigkeit und die behauptete Mittelknappheit drastische "Sparmaßnahmen" durchsetzen.
- Beruft sich der Gegner auf Autoritäten und Experten, auf Prominente oder beispielsweise ein Meinungsforschungsinstitut, ist Vorsicht (erhöhte Aufmerksamkeit) geboten. Der Gesprächspartner wählte womöglich gerade eine Autorität, die größtes Ansehen genießt, aus, um seine Argumente damit zu stützen: "Wenn sogar Professor X der Ansicht ist, daß ... können Sie als Laie doch nicht behaupten, es besser zu wissen!"
Grundsätzlich gibt es gegen einen Verweis auf einen Fachmann aber nichts einzuwenden: Niemand kann alles wissen. Intelligenz bedeutet schließlich nicht nur, sich erfolgreich orientieren zu können und über eine nützliche Allgemeinbildung zu verfügen, sondern auch zu wissen, wo man bei Bedarf nachschlagen muß.
Am besten scheint mir, man fragt noch einmal konkret nach, ob die zitierte Autorität auch wirklich ein Experte auf dem betreffenden Gebiet ist und fragt nach dem Namen des Fachmanns. Oft zitiert man eine Autorität, ohne dessen Fachgebiet und die Verfahrensweise zu kennen oder zu verstehen, indem man lediglich die veröffentlichten Ergebnisse nennt. Stellt sich das heraus, sollte man vom Gesprächspartner weitere Begründungen für seine Position fordern.
- Besonders absurd klingt der Rat, im Fall einer offensichtlichen und primitiven Brunnenvergiftung in aller Seelenruhe dennoch daraus zu trinken. Keine Sorge, es wird nichts geschehen, die Vergiftung beruht auf Einbildung, ist nur eine Illusion. Man kann sich der scheinbar zwingenden Logik einer Brunnenvergiftung – ("Kein vernunftbegabter Mensch würde auch nur im Traum daran denken, daß ...") – im Grunde nur dadurch entziehen, daß man sie entlarvt, indem man sie benennt: "Zwar setze ich mich nun der Gefahr aus, für dumm gehalten zu werden, doch möchte ich auf Folgendes hinweisen: ...", worauf kritische Fragen und Einwände folgen.
- Gegen eine unbegründete Behauptung von Sachverhalten (Evidenztaktik) – "Ich denke mal, jeder hier hat jetzt mitbekommen, wie überempfindlich und gereizt Herr YX reagiert ..." hilft – wenn man sich das leisten kann – konsequente Ignoranz. Ansonsten gerät man in Gefahr, sich in einer Minderheiten-Position zu verfangen, und wir wissen doch alle: die Mehrheit hat immer recht!
Ist man allerdings auf den oder die Gesprächspartner angewiesen (Familienmitglied, Freundeskreis) oder von ihnen abhängig (Arbeitgeber, Vorgesetzter), wird man sich sinnvollerweise etwas gemäßigtere Reaktionen einfallen lassen: Man läßt sich von dieser zwar cleveren, aber hinterhältigen Sicherheitsleine nicht beeindrucken und behält seine kritischen Zweifel im Auge, so vorhanden. Dann sollte man mit der nötigen Behutsamkeit beginnen, seine Zweifel auszusprechen: "Mein lieber Herr Vorsitzender, eigentlich fand ich Herrn YX's Auftritt gar nicht so schlimm, seine Erregung war verständlich und nachvollziehbar und hat uns seine echte Betroffenheit (oder sein Dilemma) klargemacht!"
- Auf den Einwand, daß wir dies oder jenes schon immer so gemacht haben (Traditions-Trick), entgegnet man am besten mit der Gabe einer Beruhigungspille: stimme dem Gesprächspartner darin zu, daß wir das schon immer so gemacht haben, und frage ihn gleich im Anschluß daran, was denn gegen eine Verbesserung der Vorgehensweise einzuwenden wäre.
Wie oben schon angedeutet, sind die Manipulationsmöglichkeiten und Abwehr-Reaktionen so zahlreich, daß ich sicher noch viele Seiten lang so weiter machen könnte. Weil ich aber ganz genau zu wissen glaube, daß das eine Zumutung für den Leser bedeutet, habe ich nun ein Erbarmen – vor allem auch mit mir selbst – und beende mein Referat für heute.