Der unbemerkte Zwiespalt (15. August 2007)
ein paar Sätze über die Gespaltenheit des Menschen

Der heutige, in modernen Industrienationen lebende Mensch, leidet unmerklich an einem nur wenigen bekannten und kaum bemerkten Dilemma: seine Wahrnehmung, sein Selbst, sein Wesen ist gespalten – in einen kleinen bewußten und einen gefürchteten großen unbewußten Teil.

Es gibt in jedem Menschen einen dunklen, gefürchteten Bereich, vor dem er auf der Hut ist, den er nicht zu betreten wagt, weil er ihm angst macht. Diese düsteren Gefilde der eigenen Seele sind aus frühen Abspaltungen des eigenen Selbst erwachsen. Es sind Auswüchse einst notwendiger Verdrängung unerwünschter Selbstanteile. Ursprünglich waren diese Anteile des Selbst nicht unerwünscht, zumindest nicht vom jeweilig Betroffenen, nein, wir durften sie nur deshalb nicht behalten, weil unsere Eltern uns mit Entzug von Liebe und Zuwendung bedrohten, wenn wir sie nicht leugneten. Es blieb uns keine andere Wahl: wir mußten uns schließlich davon überzeugen lassen, daß diese "bösen bösen" Selbstanteile weg mußten, wenn wir nicht sterben wollten. Wir wußten ohne Worte und ohne jeden Zweifel: wir sind vollkommen abhängig von diesen mächtigen gottgleichen Wesen, die uns ernähren und beschützen. Sie sind uns Leben und Tod.

Auch als Erwachsene behalten wir die Schonung und Idealisierung der Eltern der ersten Lebensjahre bei, die einerseits aus der vollständigen Abhängigkeit des Kindes und andererseits aus dem Nachholbedarf der Eltern an Achtung, Bejahung und Verfügbarkeit zu verstehen sind. Denn unseren Eltern ist es ebenso ergangen wie unseren Groß- und Urgroßeltern: eine schier unendliche Reihe mißhandelter Kinder bis tief hinab in die Vorzeit menschlichen Strebens tut sich auf. Und noch immer hat sich das biologische Wesen des Kindes nicht an die jahrtausendlange Folter angepaßt, noch immer leidet es und läßt später ans Erwachsener andere die Tränen weinen, die es selbst nicht weinen durfte.

Schuld und Schuldzuweisung – diese uralte Technik hilft uns hier nicht weiter, auch wenn es beruhigend sein mag, einem anderen die Schuld für erlittenes Leid zuweisen zu können. Wie aber diesem tief verinnerlichten Schema entkommen? Indem wir uns sagen: es gibt keine Schuld, es gibt nur Kausalitäten. Es gibt Leid, das wiederum Leid gebiert. Es gibt unsäglichen Schmerz, der sich unserer Wahrnehmung entzieht und dennoch oder gerade deshalb sein Unwesen in uns treiben kann, völlig unbehelligt von unserer Selbstkontrolle, hinterhältig und destruktiv. Wie können wir Verantwortung für etwas übernehmen, von dem wir nichts wissen, das wir bereits verdrängt hatten, bevor wir klar denken konnten, bevor wir uns unseres Selbst bewußt waren?

Deshalb gibt es keine Schuld! Das Schuldprinzip blockiert uns, wenn wir ihm huldigen. Es hält uns davon ab, nach eigenen Anteilen am jeweils aktuellen Dilemma zu forschen, es überzeugt uns davon, daß wir unschuldige Opfer sind. Aber sind wir im Grunde nicht alle unschuldige Opfer? Waren wir nicht alle einst hilflos ausgeliefert, unfähig, unsere wahren Bedürfnisse durchzusetzen? Und treibt uns nicht am meisten diese schattengleiche, tief in uns vergrabene Angst dazu an, Mauern zu bauen – Mauern aus Geld und Macht und Einfluß und Kontrolle?

Noch immer glauben zahlreiche Menschen an den Mythos, die Demonstration von Stärke, wie sie Geld-Mächtige nicht erst heute absolvieren, sei untrügliches Zeichen persönlicher Kraft. Noch immer sind sie der Überzeugung, die Neigung zu Gewalttätigkeit, ob verbal oder tätlich, sei ein Zeichen von innerer Stärke. Noch immer lassen sie sich blenden von den scheingebildeten Demagogen, die auf alles eine Antwort wissen, und glauben, es sind intelligente Menschen, denen sie zuhören, die schon wissen werden, wo's lang geht. Auch hier glauben sie, diese verbale Wendigkeit sei ein Ausdruck persönlicher Kraft und Stärke.

Nein, Gewaltbereitschaft, ob tätlich, verbal oder beides, war schon immer Zeichen einer ganz besonderen Schwäche. Gewaltbereitschaft entsteht aus der Angst vor Kontrollverlust. Wie aber entsteht dieses zwingende Bedürfnis, andere Menschen kontrollieren zu müssen? Ja, ich schreibe "müssen", weil es sich um einen inneren Zwang handelt, dem die zahlreichen Betroffenen kaum zu widerstehen vermögen – es sei denn, sie werden durch Gewalt davon abgehalten.

Obwohl ganz einfach, fällt mir die Antwort schwer. Nicht weil ich sie nicht formulieren könnte, sondern weil sie niemandem nützt, die rein verbale Antwort, die kaum Betroffenheit auszulösen vermag. Und ohne diese Betroffenheit bewirkt die Antwort – nichts. Dennoch: Der Kontrollzwang – der Zwang, andere Menschen kontrollieren zu müssen – stammt aus der eigenen Angst und Verunsicherung. Am deutlichsten scheint dieser Zusammenhang bei krankhaft eifersüchtigen Menschen auf: sie müssen sich des anderen stets versichern und können doch nicht vertrauen, weil sie sich selbst nicht trauen. Sie haben sehr früh einen sehr großen Anteil ihres Selbst ins Abseits drängen müssen, wobei ihnen große Teile der emotionalen Wahrnehmung verstümmelt wurden. Daher sind sie so unsicher und ängstlich – nicht unbedingt äußerlich sofort sichtbar, aber innen schon. Und um diese Angst zu beschwichtigen, um ihr auszuweichen, verlegen sie sich aufs Kontrollieren.

Wie entsteht diese Angst? Nach dem Studium einiger Werke über Neid und Eifersucht* bin ich zu dem Schluß gelangt, daß dem Neid vor allem die Angst, zu kurz zu kommen, zugrunde liegt. Wir sind auch hier gespalten in einen "guten" Teil – das, was wir wollen, erreichen, merken dürfen, und in einen "bösen" Teil – was uns verboten ist, was wir nicht haben, nicht erreichen, nicht sein dürfen. Und dort neiden wir – heimlich, offen, direkt oder verborgen, gehemmt oder hemmungslos, dort blühen des Neides giftige Blumen, gespeist von der Glut der Angst, nicht genug zu bekommen.

Doch ist diese Angst keineswegs irreal und eingebildet, wie der geneigte Leser hier wohl leicht vermuten könnte. Sie hat immer einen ganz realen Hintergrund, wenn dieser auch Jahre oder Jahrzehnte zurückliegen mag. Alle Wege führen zurück in die Kindheit, dort finden wir die Schlüssel, mit denen wir die zugemauerten Räume unserer Seele öffnen könnten – wenn wir uns trauen. Denn dort, in diesen düsteren Räumen, an die wir uns gewöhnlich absolut nicht zu erinnern vermögen (warum wohl?), liegen die Erlebnisse, die Todesangst auslösten. Trauen wir uns dort hinein, wagen wir es, uns dort umzusehen, noch einmal zu empfinden, wie des vorsprachlichen Kindes Sehnen ungehört im Nichts verhallt.

Wenn Du vor mir stehst und mich ansiehst,
was weißt Du von den Schmerzen, die in mir sind,
und was weiß ich von Deinen?
Und wenn ich mich vor Dir niederwerfen würde
und weinen und erzählen,
was wüßtest Du von mir mehr als von der Hölle,
wenn Dir jemand erzählt, sie ist heiß und fürchterlich?
Schon darum sollten wir Menschen
voreinander so ehrfürchtig, so nachdenklich stehen,
wie vor dem Eingang zur Hölle.

Franz Kafka in einem Brief an seinen Freund Oskar Pollak vom 8. November 1903

* Literaturauswahl zum Neid:
Helmut Schoeck, 1977: Der Neid und die Gesellschaft,
Verena Kast, 1996: Neid und Eifersucht
Wolfgang Krüger, 1989: Der alltägliche Neid und seine kreative Überwindung
Thomas Rakoczy, 1996: Böser Blick, Macht des Auges und Neid der Götter (eine Untersuchung zur Kraft des Blickes in der griechischen Literatur)