14. November 2005
Die wunderlichen Reiz-Reaktions-Muster
Manipulationsansatz unterhalb der Bewußtseinsschwelle

Auf eindrucksvolle Weise haben die Diskussionsverläufe zu meiner Artikelserie über Manipulation gezeigt, wie unkontrolliert und heftig ein Großteil der Leser auf gewisse Reiz- oder Schlüsselworte reagiert. Solche Schlüsselbegriffe sind in der Lage, von unterhalb der Bewußtseinsschwelle aus den kritischen Verstand zu lähmen, was dann konsequenterweise zu Äußerungen führt, denen – wie sollte es auch anders zu erwarten sein – ein gewisses Maß an Verwirrung innewohnt.

Wenn man davon ausgehen darf, daß die Diskussionsforen-Teilnehmer einen repräsentativen Ausschnitt der deutschen Bevölkerung darstellen, ist es sicher nicht an den Haaren herbeigezogen, von einer massiven Verbreitung von außen geprägter Reiz-Reaktions-Muster zu sprechen. Und weil das für mich längst keine Neuigkeit mehr darstellt, konnten mich die Reaktionen der Leser auch nicht wirklich überraschen.

Doch holen wir ein wenig aus, um zu erkunden, wie solche Schlüsselreize dazu in der Lage sind, das kritische Bewußtsein – sofern vorhanden bzw. einigermaßen ausgebildet – zu unterlaufen. Alfred North Whitehead hat einmal gesagt, daß der Fortschritt der Zivilisation daran abzulesen sei, wieviele Handlungen wir ausführen können, ohne über sie nachdenken zu müssen.

Zum Bestand aller höheren Lebewesen auf diesem Planeten gehören zahlreiche feste Handlungsmuster (fixed-action patterns), die je nach Art des Lebewesens bereits von Geburt an vorhanden sind oder im Laufe des Heranwachsens erlernt werden müssen. Ein allen Handlungsmustern anhaftendes Merkmal besteht in der quasi immer gleichen Form und Reihenfolge, in der die durch Schlüsselreize ausgelösten Handlungen ablaufen. Bei Tieren wurden solche Zusammenhänge längst ausgiebig getestet. Beim Menschen werden seit der flächendeckenden Verbreitung der Massenmedien genau diese Erkenntnisse aus der Verhaltensforschung erfolgreich eingesetzt.

Zu den vererbten Handlungsmustern zählt beim Menschen beispielsweise der Saugtrieb, der leicht über eine Stimulation der Lippen des Säuglings ausgelöst werden kann. Zu erlernten menschlichen Handlungsmustern gehören "fest verdrahtete" Handlungsabläufe, wie z.B. das erhöhte Speicheln durch den Anblick einer leckeren Mahlzeit, sexuelle Erregung beim Anblick eines potentiellen Geschlechtspartners und, was Gegenstand meines heutigen Referats sein soll, gewisse Reaktionen auf ganz bestimmte Schlüsselbegriffe.

Kaum ein Mensch wird ohne Erregung die Verknüpfung eines Schimpfwortes mit seiner eigenen Person gelassen hinnehmen können, weshalb sich hier ein weites Feld für Manipulationstechniken erstreckt, die auf der Verwirrung des Verstandes durch das Beschwören von Emotionen bauen. Man denke dabei an die Resultate der Tierversuche des russischen Physiologen Iwan Petrowitsch Pawlow, auf denen beispielsweise alle heutigen Gehirnwäsche-Praktiken beruhen. Pawlow hatte damals den sogenannten bedingten Reflex entdeckt: Tiere, die ihr Futter nach einem zuvor ertönten Signal erhielten, ließen sich dahingehend konditionieren, allein auf das Signal hin erhöhten Speichelfluß zu zeigen, wie er sonst nur durch den Anblick des gefüllten Futternapfes ausgelöst wurde.

Beim Auslösen ganz bestimmter Emotionen durch Schlüsselbegriffe (z.B. deftige Schimpfwörter oder herabwürdigende Äußerungen) spielt die ausgeprägte Abhängigkeit des heutigen Menschen vom Ansehen durch seine Mitmenschen und von der Stufe der Hühnerleiter, auf der er sich eingerichtet hat, eine nicht zu verachtende Rolle. Wie ich vor einiger Zeit in meinem Artikel Die Situation der Deutschen ausführte, hat sich die ethisch-moralische Instanz des heutigen Menschen (homo consumensis bzw. homo automaticus) von einer einstmaligen Innensteuerung zu einer Außensteuerung gewandelt, die den professionellen Manipulateuren ihre Arbeit erheblich erleichtert. Womöglich liegt ein Grund für den wiederholt in der Geschichte zu beobachtende Wandel von der Innen- zur Außenlenkung im raschen Wechsel gesellschaftlicher Zusammenhänge und Regeln, welche die Masse so sehr verunsichert, daß sich die Individuen nicht mehr auf ihre verinnerlichten Werte verlassen können bzw. erst gar nicht mehr einsehen, Werte zu verinnerlichen, und so ständig darum bemüht sind, die Zeichen der Zeit zu deuten, um sich durch rechtzeitige Anpassung Vorteile zu sichern (die berühmte von oben immer wieder geforderte Flexibilität des Massenmenschen). So ist es denn auch nicht weiter verwunderlich, wenn sich ein Großteil der Leute heute damit identifizieren, was sie besitzen, wo sie in der Hierarchie eine Nische gefunden haben, wieviel Einfluß man ihnen zubilligt und in wessen Schatten sie sich geborgen fühlen (nicht die Hand beißen, die einen füttert bzw. "Wes' Brot ich eß, des' Lied ich sing'").

Weil sich aber diese Handlungsabläufe dem kritischen Bewußtsein des Menschen daduch entziehen, daß sie die Schwelle seines Bewußtseins nicht überschreiten, und weil deren Steuerung somit automatisch erfolgt, fällt es den meisten Menschen sehr schwer, diese Reiz-Reaktions-Muster zu erkennen. Noch schwerer ist es, sich ihnen zu widersetzen.

Für den homo automaticus bedeutet eine solche Veränderung weit mehr, als es auf den ersten Blick scheint. Sein komplettes Selbstverständnis ist vom reibungslosen Ablauf der gesellschaftlich erwünschten Rituale abhängig, sein Selbstwertgefühl bemißt sich nach dem erfolgreichen Einsatz gesellschaftlichen Wohlverhaltens. Man kann das heute überall sehr deutlich beobachten: allerorten lauern die Menschen regelrecht auf gegenseitige Respekts- und Achtungsbekundungen und beobachten ihre Mitmenschen argwöhnisch daraufhin, ob sie ihnen die erwartete Anerkennung zollen. Eine unüberschaubare Anzahl von Fettnäpfchen wurden allein zu diesem Zweck aufgestellt. Die Anerkennung durch eine gewisse Zahl von Mitmenschen um (fast) jeden Preis ist längst zu einer der wichtigsten Voraussetzungen für das seelische Gleichgewicht des homo consumensis geworden. Man kann das u.a. daran erkennen, wie heftig und häufig Aggressionshandlungen ausgelöst werden, wenn einem Menschen diese Anerkennung versagt bleibt. Oft genügt schon eine einzige fundierte und somit nicht einfach von der Hand zu weisende Kritik, um sein Selbstverständnis ins Wanken zu bringen. Hier treibt die Angst davor, andere könnten sich vielleicht der Meinung des Kritikers anschließen, zu Handlungsmustern wie dem Herabsetzen des vermeintlichen Gegners mit allen verfügbaren Mitteln. Ja, die zugehörigen Emotionen werden häufig schon beim reinen Erinnern an diesen verabscheuungswürdigen Menschen ausgelöst – wenn sein Name irgendwo erscheint, oder andere von ihm reden. ("Ich krieg die Krise, wenn ich ständig diesen Namen lese!")

Durch die dem Menschen innewohnende Fähigkeit, Geschehenem im Nachhinein Bedeutung und Sinn zu verleihen – man nennt das auch die Fähigkeit zum Rationalisieren –, erklären sich die Betroffenen ihre ansich unbegründete Abneigung meist so vollständig und lückenlos, daß ihnen mit Argumenten im Grunde nicht mehr beizukommen ist. Dabei werden ungeprüfte Annahmen als gesicherte Erkenntnis und ausgelöste Emotionen als begründet deklariert. Auch ein gut Teil Verdrängung, nämlich der Tatsache, daß es sich um ungesicherte Erkenntnisse handelt, ist dabei im Spiel. Diese Reaktionen stellen quasi ein Schutzverhalten des Egos dar, das sich damit vor Herabsetzung und einer Abnahme der eigenen Wichtigkeit wie auch das Ansehen seiner Peer-Group bewahren möchte.

Die nicht selten zu beobachtende Heftigkeit, mit der solche – meist auf Kindergarten-Niveau geführte – Streitereien ablaufen, hängt mit einem Umstand zusammen, von dem ich wohl annehmen darf, daß er den meisten Menschen heute nicht bewußt ist. Es bedeutet nämlich für den ständig zu reibungslosem Wohlverhalten gezwungenen homo automaticus keine Kleinigkeit, die Voraussetzungen für das Anerkanntwerden und den erfolgreichen Konkurrenzkampf immer wieder neu schaffen zu müssen. Er darf keineswegs aus der Rolle fallen und muß ständig die Form wahren. Ein weiterer Umstand besteht in der Tatsache, daß das Bedürfnis des homo automaticus nach Schutz und liebevoller Begegnung mit seinen Mitmenschen mit zunehmender Enfremdung wächst, wobei diese Bedürfnisse im selben Maße, wie er seine Mitmenschen mehr und mehr als Konkurrenten wahrnimmt, unbefriedigt bleiben müssen. Ein Nachlassen dieses ständigen Bemühens um Wohlverhalten würde unweigerlich den Mißmut seiner Umgebung provozieren, womit er alles aufs Spiel setzen könnte, was er sich so mühsam erkämpft hat. Dabei machen es ihm seine verdrängten Ärgernisse und Spannungen nicht gerade leicht, weil er sich ja nur selten abreagieren kann (darf). Hier bieten die Außenseiter (Penner, Ausländer), Abweichler und Nonkonformisten ein willkommenes Ventil: an ihnen meint er ungestraft seinen Ärger, seine Wut und seinen Haß (letztlich auf sich selbst) abreagieren zu können, wobei er sich meist auf die Zustimmung seiner Peer-Group verlassen kann. (Ausnahmen im Mißbrauch als willkommenes Ventil bilden natürlich jene seltenen Außenseiter, die es irgendwie geschafft haben, trotz ihrer Andersartigkeit einen relativ hohen Status in der Gesellschaft zu erreichen.) Die Folgen solcher Lebensumstände schlagen sich unter anderem in einer deutlichen Zunahme seelischer Erkrankungen nieder. Der Segen unseres "hohen Lebensstandards" ist zweifelhaft geworden, weil er mit Neurosen erkauft werden muß.

Eine weitere Ursache, die quasi zur "festen Verdrahtung" solcher unbewußten Automatismen führt, kann man in dem frühen Beginn der Konditionierung festmachen. Schon im Kindes- und Schulalter ist der moderne Mensch einer schier unerträglichen Reizüberflutung ausgesetzt, welche die Kinder in gewisser Weise dazu zwingt, sich im Weghören und Wegsehen ausgiebig zu trainieren, was sich unweigerlich in der Entwicklung einer inneren Abwehrstellung niederschlägt. Die Folgen einer solchen nachhaltigen, weil ständigen seelischen Selbstverteidigung sind u.a. im oberflächlichen Denken und Fühlen unserer Zeit auszumachen. Würde der Schüler sich nicht gegenüber dieser Informationsflut zu schützen wissen, indem er die Empfindlichkeit seiner Sinne bzw. seines psychisch-kongnitiven Apparats reduziert, wären psychische Störungen die unweigerliche Folge. So lernt schon das Kind, nur noch das wahrzunehmen, was ihm einen ganz persönlichen Nutzen und Vorteil verspricht. Die heute mit großer Sorge beobachtete Abnahme der Schulleistungen (Pisa-Studie) könnte durchaus eine Folge dieses erlernten Abschalt-Verhaltens sein. Schon vor mehr als dreißig Jahren hat nämlich ein gewisser Professor Kreutz von der Pädagogischen Hochschule in Münster gemeint, daß man solchen Kindern ihre schlechten Schulleistungen nicht verübeln dürfe, weil sie nichts anderes tun würden, als im Unterricht die gleichen Abschaltmethoden anzuwenden, die ihnen durch die reizüberflutete Erwachsenenwelt aufgezwungen werden.