17. Mai 2006
Und sind sie nicht willig ...
Wie "unsere" Elite sich "ihr" Volk zu erziehen sucht.

Es war einmal ein glücklicher Präsident eines Arbeitgeberverbandes mit der treffenden Bezeichung Gesamtmetall. Eines Tages aber wurde sein Glück jäh getrübt. In einer Umfrage des Allensbacher Instituts für Demoskopie las er nämlich, daß 97 Prozent der Befragten mit dem Begriff "Reformen" keine angenehmen Aussichten verbanden, sondern vielmehr Befürchtungen und Mißtrauen ...

Da dachte der gute Mann bei sich: "Das, was die Bevölkerung will, und das, was die Führungskräfte in der Wirtschaft für notwendig halten, klafft himmelweit auseinander!" Und beschloß energisch, das zu ändern. Am 18. Dezember 2003 erschien im STERN ein Artikel über dieses Schlüsselerlebnis des Herrn Martin Kannegießer – jenen Präsidenten des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall:

Was sollte der Boss der Metall-Arbeitgeber tun? Aufgeben? Alle Hoffnungen fahren lassen, daß Rot-Grün einen wirtschaftsfreundlichen Kurs einschlägt? Gar auswandern, seine Waschmaschinenfirma gleich mit nach Asien verlagern? Oder hier bleiben und sich ein anderes Volk suchen? ... Kannegiesser entschied sich für letzteres. Weil man 82 Millionen Menschen nicht einfach auswechseln kann, griff er zu einer List. Er wollte die Leute ein bißchen umerziehen. "Aufklären", nennt er das. Ihnen mit schlauen Parolen die Notwendigkeit von radikalen Reformen einhämmern, sie mit Plakaten, Anzeigen und TV-Spots überschütten, auf daß die Leute die Wünsche der Wirtschaft als ihre eigenen begreifen.

Gesagt – getan! Flugs rief der eifrige Herr Kannegiesser eine Initiative ins Leben: die inzwischen wohlbekannte INSM (Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft). Zu ihrem Kuratoriumsvorsitzenden machte Kannegiesser den allseits geehrten Hans Tietmeyer. Und damit das Ganze auch gleich richtig in Schwung kam, wurden weitere angesehene Herren mit blütenweißen Krägen engagiert: Roland Berger, der frühere Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie Hans-Olaf Henkel und der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog, machten auch mit oder sie gründeten gleich eigene Initiativen und Organisationen mit ähnlichen Zielen. Der Stern schrieb damals dazu:

Es ist eine außerparlamentarische Opposition von oben. Angeführt von alten Männern (...) Die Old Boys wollen die Köpfe und Herzen der Bevölkerung verändern und sie zu Wirtschaftsreformen überreden. Dabei ist die Agenda 2010 für sie erst der Anfang eines viel weiter gehenden Abbaus sozialer Leistungen wie Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe. Ihr Einfluß geht mittlerweile so weit, daß von Sabine Christiansen bis Maybrit Illner keine Talkshow mehr ohne sie auskommt. Die Finanziers der Propaganda bleiben dabei gern im Hintergrund.

Aber das Volk ist weiterhin störrisch! Eine Umfrage der Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen Anfang April 2004 erbrachte, daß 64 Prozent der Deutschen die Entscheidungen der Agenda 2010 für falsch hielten. Im Februar desselben Jahres dachten das "nur" 55 Prozent. Von den Eliten wird die mangelnde Einsicht des dummen Volkes mit Entsetzen wahrgenommen. Aber richtig entsetzt waren sie erst, als sie die Demos gegen Sozialabbau in Berlin, Köln und Stuttgart bemerkten, zu denen sich insgesamt 500.000 Protestler einfanden. Dazu der Stern:

Berger findet es klasse, daß überall nun radikalliberale Konvente und Initiativen entstehen und die Reformbereitschaft der Bevölkerung anheizen. "Das zeigt doch auch, daß immer mehr Bürger mit den gegenwärtigen Verhältnissen unzufrieden sind." Bürger? Oder sind das eher Eliten, die da eine andere Republik propagieren? Berger kontert: "Die Tatsache, daß es Eliten sind, die Dinge in Bewegung bringen, ist doch nicht neu. Es gibt keine Revolution, die nicht von der Elite ausging. Auch Lenin war Elite."

Hinter all den Forderungen nach Reformen, Strukturänderungen, Lohnabbau und Sozialabbau stehen handfeste Interessen der Wirtschaft und Industrie. Die Versicherungswirtschaft erwartet, wenn sie nur an 10 Prozent des Umsatzes der staatlichen Rentenkassen käme, einen jährlichen Umsatzzuwachs von 15 Milliarden Euro! Bislang wartet sie noch ...

Die Debatte um die Überalterung unserer Bevölkerung – dramatisierend gerne auch als "Vergreisung" bezeichnet – ist nicht so neu, wie uns die verschiedenen Kommissionen (z.B. die Enquête-Kommission "Demographischer Wandel") und Studien glauben machen wollen, denn diese Diskussion gab es schon einmal in den Siebzigern. Neu allerdings ist die flächendeckende Angstmache um die zukünftige Rentenerwartung. Und neu ist der immense finanzielle Aufwand von Wirtschafts- und Industriebossen, die bekanntlich nirgends ohne immense Profiterwartung investieren. Ja, sie erwarten sich riesige Profite von ihren aufwendigen Kampagnen, vom bezahlten Dauerfeuer der Weichklopfer, wie gestern abend wieder im Bayrischen Fernsehen zu sehen war: Erst bauen sie den Sozialstaat ab, dann prognostizieren Leute wie der scheinheilige Meinhard Miegel tiefbetrübt Altersarmut. Für mich wird der Zusammenhang immer deutlicher, haben die Reformer doch alle Fäden in der Hand und manipulieren sich das Eintreten ihrer angstmachenden Prognosen zurecht, wie sie's gerade brauchen.

Albrecht Müller, ein gestandener und aufrichtiger Sozialdemokrat, klärt auf seiner Homepage Nachdenkseiten umfassend über die größten Irrtümer der neoliberalen Reformwütenden auf. Zum Denkfehler über die Gefahren des demographischen Wandels siehe folgende hochinformative und für den Laien leicht verständliche Texte:

Und nun wünsche ich euch aufregende Erkenntnisse beim Lesen und Stöbern.