10. Januar 2006
Der freie Wille
Was ist der freie Wille? Gibt es den freien Willen?

Nicht himmlisch, nicht irdisch, nicht sterblich und nicht unsterblich haben wir dich erschaffen, auf daß du mögest frei sein, deinem eigenen Willen und deiner Ehre gemäß, auf daß du mögest dein eigner Schöpfer und Bildner sein. Dir allein gab ich die Fähigkeit zu wachsen und dich nach deinem eigenen freien Willen zu entfalten. Du trägst in dir den Keim eines allumfassenden Lebens. (Pico della Mirandola, Oratio de hominis dignitate)

Die heutigen Wissenschaftler streiten noch darüber, ob der Mensch einen freien Willen habe oder nicht – oder besser, ob der Mensch allgemein überhaupt dazu in der Lage sei, einen freien Willen zu entfalten oder ob der freie Wille lediglich eine Illusion sei. Um mitreden zu können, haben wir den Begriff der Freiheit im vorigen Artikel etwas genauer betrachtet.

Eine vollständige Freiheit von allem gibt es nicht, denn es gibt in der Natur keine Idealwerte und idealen Erscheinungen, sondern lediglich Annäherungen an diese. Das Ideal wächst quasi nicht auf Bäumen, sondern in unseren Köpfen. (Weil aber unsere Ratio mit Idealen operiert, mit Abstraktionen also, die wir für wesentlich halten, mit künstlichen Gebilden, wie sie in der Natur niemals vorkommen, führt sie uns bei komplexen Gedankengängen häufig in die Irre.) So läßt sich auch an den Menschen beobachten, daß das Maß der Freiheit für die einzelnen Individuen sehr unterschiedlich ausfällt. Es gibt also Menschen mit mehr und Menschen mit weniger Entscheidungsfreiheit.

Doch wird in diesem Zusammenhang oft eine Sache vergessen: Freiheit bedeutet nicht zuletzt Verantwortung, und zwar in erster Linie für sich selber, aber auch für den Nächsten, den Mitmenschen, den Nachbarn, die Eltern und Kinder. Freiheit meint gerade nicht – wie viele heute diesen Begriff zu verstehen scheinen –, der Willkür Tür und Tor zu öffnen, sondern vielmehr die Freiheit, selbst zu entscheiden, ja, überhaupt sich erst so weit entwickeln zu dürfen, damit wir über uns selbst entscheiden können. Denn die meisten Menschen scheinen heute darauf angewiesen zu sein, daß ihnen jemand sagt, wo's langgeht, wie sie sich zu entscheiden, zu fühlen, wie sie zu handeln haben.

In den letzten Jahren wurde die Frage, ob der Mensch einen freien Willen besäße, verstärkt durch die Ergebnisse der Hirnforscher in die Diskussion getragen. Die Werke von Gerhard Roth, Manfred Spitzer und Benjamin Libet* sagen aber keineswegs aus, daß es keinen freien Willen gäbe. Vielmehr muß man diesen Begriff ausdehnen auf den gesamten Willensprozeß, um die Frage nach dem freien Willen sinnvoll beantworten zu können. Der Wille ist kein Resultat. Er ist vielmehr ein Prozeß, der notwendig ist, um bewußten Wesen zielgerichtete Handlungen zu ermöglichen.

* Gewiß existieren noch weitere nennenswerte Hirnforscher, doch da ich ein Laie bin und nicht vom Fach, habe ich nur die oben genannten gelesen. Von Libet das Buch "Mind Time", von Roth die Bücher "Aus Sicht des Gehirns", "Das Gehirn und seine Wirklichkeit" und "Fühlen, Denken, Handeln" und von Spitzer die Bücher "Musik im Kopf" und "Selbstbestimmen".

Am eindrucksvollsten und sehr überzeugend für die Existenz des freien Willens plädierend fand ich die Ausführungen von Benjamin Libet ("Mind Time"), in denen er die Experimente zur Lösung der Frage, ob es einen freien Willen gäbe, beschreibt:

Wir konnten diese Frage experimentell untersuchen. Wir fanden, kurz gesagt, daß das Gehirn einen einleitenden Prozeß durchläuft, der 550 ms vor dem freien Willensakt beginnt; aber das Bewußtsein des Handlungswillens erschien erst 150-200 ms vor der Handlung. Der Willensprozeß wird also unbewußt eingeleitet, und zwar etwa 400 ms bevor die Versuchsperson sich ihres Willens oder ihrer Handlungsabsicht bewußt wird.

Nach diesen Experimenten – die zu umfangreich sind, um sie in diesem Rahmen sinnvoll wiedergeben zu können – beschränkt sich der ausschließlich bewußte Anteil des sogenannten Willensprozesses auf ein Veto-Recht, das bis kurz vor der eigentlichen Handlung in Anspruch genommen werden kann. Mit anderen Worten: Bewußt wird uns ohne Ausnahme erst das Ergebnis eines Willensprozesses, und bewußt können wir bis zum letzten Moment, bevor wir handeln, entscheiden, die Handlung doch lieber zu unterlassen. Libet:

Wie oben erwähnt, hat der bewußte Wille zusätzlich zur Vetofunktion noch eine andere potentielle Funktion. Er könnte als notwendiger Auslöser fungieren, damit der Willensprozeß sich in einer Handlung niederschlägt. Das würde dem bewußten Willen eine aktive Rolle bei der Erzeugung einer motorischen Handlung verleihen. Diese hypothetische Rolle des bewußten Willens wurde experimentell nicht gesichert. Handlungen, die "automatisiert" werden, können ohne einen angebbaren bewußten Wunsch vollzogen werden. Das Bereitschafts-Potential (BP) vor solchen automatischen Handlungen ist jedoch ziemlich minimal, was seine Amplitude und seine Dauer angeht.

In seinem Resümee dieser Experimente mit verkabelten Versuchspersonen stellt Libet fest, daß freie Entscheidungen und Handlungen nicht vorhersehbar seien, selbst wenn sie vollständig determiniert sein sollten. Tatsächlich lehrt uns die Heisenberg'sche Unschärfe-Relation, daß wir niemals in der Lage sein werden, exakt die unserer Nerventätigkeit (zu der auch die Gehirntätigkeiten zählen) zugrundeliegenden molekularen Aktivitäten zu bestimmen. Wir müssen mit Wahrscheinlichkeiten vorlieb nehmen und können in diesem Bereich nicht mit Gewißheiten operieren. Und obwohl letztlich alles im Zusammenhang mit den Naturgesetzen steht und von ihnen determiniert ist, sind die Zusammenhänge und Kausalitäten so komplex und unüberschaubar, daß wir – nach der Chaostheorie – nur über stark begrenzte und einfache Systeme Vorhersagen zu machen in der Lage sind.

Ich glaube daher, daß es gar nicht so sehr darauf ankommt, die Frage nach dem freien Willen exakt beantworten zu können. Vielmehr kommt es darauf an, Folgsamkeit (gegenüber inneren Hinweisen) und Gehorsam (hören auf innere Bewegungen) zu erlernen, und zwar nicht im Zusammenhang mit irgendwelchen Autoritäten, sondern eher dem Folgenden entsprechend:

Wir haben verlernt, auf unsere innere Stimme zu hören, die uns weit besser darüber zu informieren vermag, wie die Welt um uns und in uns beschaffen ist, wie sie beide zusammenhängen und voneinander abhängen. Wir haben verlernt, unseren Sinnen, insbesondere dem Ohr, als Zuträger von Informationen über die aktuellen Handlungsnotwendigkeiten zuzuhören. Wir haben verlernt, unseren Sinnen die Freiheit zu lassen, unserem Bewußtsein die wesentlichen Zusammenhänge zu liefern. Wir haben uns die spontane Erfassung der Wirklichkeit austreiben lassen und orientieren uns fast ausschließlich nach neumodischen Landkarten, die uns seit unserer Kindheit eingetrichtert wurden. Wir nehmen unseren gesamten Wahrnehmungs-Apparat nicht mehr ernst genug und schauen immer öfter darauf, wie sich andere verhalten, ohne dieses Verhalten wirklich zu begreifen. Verstehen können wir erst dann wieder, wenn wir uns mit allen unseren Sinnen der Wirklichkeit geöffnet haben und wieder beginnen, unserer ursprünglichen Wahrnehmung zu vertrauen.

Es geht mir bei der Frage nach der menschlichen Willensfreiheit nicht darum, ob wir uns vollständig unabhängig von irgendwelchen Gegebenheiten entscheiden können. Diese Frage halte ich für sinnlos, weil wir uns mit unseren Entscheidungen immer auf irgend etwas beziehen, das wir verändern wollen, auf das wir Einfluß nehmen wollen usw. Mit unserern Überlegungen, insbesondere mit den vorbewußten, suchen wir quasi nach dem besten Weg in einem ansonsten undurchschaubaren Dschungel von Gegebenheiten. Und diesen Weg finden wir nicht, indem wir den ganzen Dschungel auswendig lernen – dazu wären wir niemals in der Lage.

Die Frage nach dem freien Willen reduziert sich somit auf die Frage, ob es denn überhaupt denkbar wäre, daß etwas Unbestimmtes existierte. Diese Frage muß verneint werden: alles hängt irgendwie mit allem zusammen und ist so auf irgend eine Weise und in irgend einem Ausmaß determiniert.