6. November 2004
Ich widersetze mich!
Über Sprache und Bewußtsein

Ich widersetze mich der Forderung, mich auf die reduzierte Alltagssprache zu beschränken. Ich widersetze mich dem allgemein üblichen naiven Sprachgebrauch, der unreflektierten Behauptung, dem Nachplappern öffentlicher Meinung und dem mit all diesen Dingen einhergehenden Aussschalten meines Denkapparats. Ferner widersetze ich mich dem verordneten positiven Denken, das in seiner letzten Konsequenz jegliche Kritik unsagbar macht.

In Diskussionen werden häufig Menschen, die eine vom Common Sense abweichende Haltung vertreten, heftigst angegriffen, diffamiert, für schwachsinnig erklärt und auf diese Weise letztendlich entmutigt. Diese Minderheit, die sich noch traut, die Ergebnisse ihres eigenständigen Denkens statt der scheinheiligen Bestätigung vorherrschender Meinungen kundzutun, weicht nicht aus Trotz, Unvermögen, Arroganz oder Boshaftigkeit vom Herkömmlichen ab. Es sind Menschen, die es sich absichtlich nicht leicht machen wollen, die voll bewußt kein Wohlverhalten leben, weil sie sich selbst niemals aufgegeben haben. Es sind weitgehend authentische Menschen.

Der Großteil der Menschen, die überhaupt noch mit anderen diskutieren, lehnt alles, was mit dem Begriff "Philosophie" in Zusammenhang steht, kategorisch ab. Dabei sind sich die Ablehnenden kaum bis gar nicht darüber klar, daß auch die Sichtweise, die sie selbst vertreten, einer sogenannten Philosophie entstammt, nämlich der "analytischen". Die hervorstechendsten Merkmale dieser modernen Philosophie bestehen – vereinfacht ausgedrückt – in der Ausmerzung alles Metaphysischen, aller unklaren Begriffe und letztlich von allem, was sich nicht mit den Mitteln der Alltagssprache darstellen und begreifen läßt. Innerhalb des durch die Analytische Philosophe generierten Sprachuniversums ist keine Transzendenz mehr erlaubt, sondern nur noch diejenigen Aspekte, die der herrschenden Gesellschaftsordnung entsprechen und dienlich sind. Die Sprache der Analytischen Philosophie ist somit äußerst repressiv, weil sie dem Menschen letztlich den freien Willen abspricht. Es darf nur noch das geäußert werden, was wissenschaftlich einwandfrei nachgewiesen werden kann. Themen, die wissenschaftlich nicht einwandfrei analysierbar oder noch nicht ausreichend erforscht sind, bleiben ausgeklammert.

Oft verbreitet die analytische Philosophie eine Atmosphäre, wie sie der Denunziation in einem Untersuchungsausschuß entspricht. Der Intellektuelle wird zur Rechenschaft gezogen:

Was meinst Du, wenn Du sagst ...? Verbirgst Du nicht etwas? Du redest in einer Sprache, die suspekt ist. Du redest nicht wie wir alle, wie der Mann auf der Straße, sondern eher wie ein Ausländer, der nicht hierher gehört. Wir müssen Dich auf ein bescheidenes Format herunterschrauben, Deine Tricks aufdecken, Dich läutern. Wir werden Dich lehren zu sagen, was Du meinst, du wirst damit "herausrücken", deine "Karten auf den Tisch legen". Natürlich erlegen wir Dir und Deiner Denk- und Redefreiheit keinen Zwang auf; Du darfst denken, was Dir beliebt. Aber wenn Du einmal sprichst, mußt Du uns Deine Gedanken übermitteln – in unserer Sprache oder in Deiner. Freilich darfst Du Deine eigene Sprache sprechen, aber sie muß übersetzbar sein, und sie wird übersetzt. Du darfst getrost dichterisch reden – dagegen ist nichts einzuwenden. Wir lieben Dichtung. Aber wir wollen Deine Dichtung verstehen, und das können wir nur, wenn wir Deine Symbole, Metaphern und Bilder im Sinne der gewöhnlichen Sprache interpretieren können.

Der Dichter könnte antworten, er wünsche in der Tat, daß seine Dichtung verständlich sei und verstanden werde (eben deshalb schreibt er ja); wäre aber, was er sagt, in der Umgangssprache sagbar, dann hätte er sich ihrer wahrscheinlich von Anfang an bedient. Er könnte sagen:

Das Verständnis meiner Dichtung setzt voraus, daß eben jenes Universum von Sprache und Verhalten hinfällig und nichtig geworden ist, in das Ihr sie übersetzen wollt. Meine Sprache ist erlernbar, wie jede andere Sprache (im Grunde ist sie auch Eure Sprache), dann aber wird sich zeigen, daß meine Symbole, Metaphern usw. keine Symbole, Metaphern usw. sind, sondern genau bedeuten, was sie besagen. Eure Toleranz ist trügerisch. Indem Ihr mir eine Sondersphäre von Bedeutung und Bedeutsamkeit einräumt, gewährt Ihr mir Freiheit von Zurechnungsfähigkeit und Vernunft; aber nach meiner Ansicht befindet das Irrenhaus sich anderswo.

Der Dichter mag auch den Eindruck gewinnen, daß die solide Nüchternheit der linguistischen Philosophie eine ziemlich vorurteilsvolle und emotionale Sprache spricht – die zorniger alter oder junger Männer. Ihr Vokabular quillt über von "ungehörig", "wunderlich", "absurd", "verwirrend", "schrullig", "verstiegen" und "Kauderwelsch". Ungehörige und verwirrende Schrullen müssen beseitigt werden, wenn es zu einem vernünftigen Verständnis kommen soll. Die Kommunikation soll sich nicht über den Köpfen der Menschen vollziehen; Inhalte, die über den gesunden Menschenverstand und den der Wissenschaft hinausgehen, sollen das akademische und alltägliche Universum der Sprache nicht beeinträchtigen.
aus: Herbert Marcuse, "Der eindimensionale Mensch", S. 206-207

Die meisten Menschen nehmen vermeintliche Fakten hin, ohne nach den Faktoren zu fragen, welche die Fakten – nach der Ansicht jener, die sie behaupten –, bestimmen sollen. Hat sich schon einmal jemand ernsthaft gefragt, warum wir Menschen im Bereich des Technischen immense Fortschritte und relativ wenig Fehler machen, dagegen im Bereich des Privaten, Sozialen, des Gesellschaftlichen und letztendlich auch des Marktwirtschaftlichen ständig scheitern und leidvolle Konflikte produzieren? Ist das Gelingen eines sozialen Miteinander nicht in der Hauptsache eine Angelegenheit der Individuen, aller Individuen einer Gruppe, einer Gesellschaft?

Mir fällt sehr häufig auf, wie sehr Werbesprüche sich in die Alltagssprache der Menschen einschleichen, ohne daß letzteren bewußt wird, daß sie genau das nachplappern, was von ihnen verlangt und erwartet wird: Indem sie ihre eigene Sprache sprechen, sprechen die Menschen auch die Sprache ihrer Herren, Wohltäter und Werbetexter. Gleichzeitig weisen sie den Vorwurf der Manipulation bzw. des Manipuliertseins weit von sich – sie, die eigentlichen Opfer dieser Manipulation, die doch ein Interesse daran haben müßten, den eigenen freien Willen zu entfalten und sich unterschwellige Einmischung verbeten sollten. Mich erinnert solches Nachplappern von Inhalten der Massenmedien stark an die Reaktion von Kindern, die einen Film nachspielen, den sie kürzlich erst gesehen haben: sie verteilen die Rollen der Filmfiguren unter sich und fühlen sich eine kurze Zeit wie ihr jeweiliger "Held". Den Kindern ist solches Verhalten nicht vorzuwerfen; es entspricht ihrem Spieltrieb und ihrer relativen Unreife, nicht so genau zwischen Wirklichkeit und Fiktion unterscheiden zu können und wollen ...

Doch wie siehts bei uns Erwachsenen aus? Könnte man von einem 30-, 40, - oder 50-jährigen nicht erwarten, daß er Techniken entwickelt hat, um Fiktion von Realität zu unterscheiden? Die meisten Menschen verwenden jedoch vorwiegend Ausdrücke unserer Reklamesprüche, Kinos, Politiker und Bestseller, um ihre Befindlichkeiten, ihre Wünsche und Emotionen zu beschreiben. Oft wird ein "du weißt, was ich meine?" hintenangesetzt, das vermuten läßt, dem Sprecher sei zumindest undeutlich klar, daß er mit seinem Vokabular nicht genau das auszudrücken vermag, was er wirklich meint. Das, "was die Menschen meinen, wenn sie sagen ..." ist verbunden mit dem, was sie nicht sagen! Und warum sagen sie's nicht? Weil's in der Alltagssprache nicht sagbar ist! Anders gesagt, was sie meinen, kann nicht für bare Münze genommen werden – nicht weil sie lügen, sondern weil das Universum des Denkens und der Praxis, in dem sie leben, ein Universum manipulierter Widersprüche ist.

Die zahlreichen Jammerartikel, die man alltäglich in Internetforen zu lesen bekommt, triefen förmlich von Aussagen wie "... sie liebte ihn nach wie vor, innig und aufopfernd ...", "... wie unfair ...", "... da kann man nix machen ...", "... wie soll ich das verwinden ...", "... das Verlangen nach ihm/ihr zerreißt mich ...", "Eigentlich ist Liebe alles, was jeder zum glücklichen Leben braucht.", "... Liebe, die mich sehr verletzt hat ...", "... ich werde ihn immer lieben, auch wenn er mich haßt ..." und vieles dergleichen mehr. Es sind allesamt übernommene Sprachfetzen aus der Romanliteratur bzw. aus romantischen Filmen, die natürlich nicht das wahre Leben darstellen, sondern eine sehr vereinfachte Form von Pseudoleben, der Phantasie von Romanautoren entsprungen, ein Leben, das in der Realität keine Entsprechung findet. Kurz: es sind ausgeleierte Klischees! Menschliche Emotionen und Gefühle sind aber keineswegs durch Klischees darstellbar, nicht einmal annähernd. Die häufig zu beobachtende Sprachlosigkeit, die viele Paare zu "verbinden" (Haß-Liebe?) scheint, ist ein direkter Ausdruck davon, daß vieles von dem, was subtiler ist als die zur Alltagssprache gewordene Reklame- und Manipulationssprache, nicht mitgeteilt werden kann. Die Menschen gelangen so zu keiner anderen Klarheit als zu der, die ihnen in diesem Zustand zugebilligt wird – das heißt, sie verbleibt innerhalb der Grenzen der mystifizierten und trügerischen Sprache.

Das Wissen, daß die Sprache letztlich tatsächlich trügerisch ist für all jene, die sie nicht zu transzendieren wissen, ist zwar Jahrhunderte alt, hat sich aber ganz offensichtlich beim Durchschittsmenschen – trotz vielfältiger moderner Möglichkeiten, sich zu informieren – noch nicht durchsetzen können. Die Elemente der Sprache sind Sätze, Worte, Begriffe, die ihrerseits wiederum ganze Ideen darstellen, mitsamt den Assoziationen, die bei jedem etwas anders geartet sind. Die Worte und Begriffe sind nicht die Dinge, die sie bezeichnen, sondern stellvertretend Symbole für reale Dinge oder für Ideen oder für Attribute von Dingen oder Ideen. Doch der Durchschnittsmensch verwendet die Worte, als seien sie die Dinge selbst, und tut damit den Dingen Unrecht an, indem er sie auf das Wenige reduziert, was seiner Idee des Begriffs entspricht, auf das, was seine Assoziationen ihm an Hintergrundinformation über jenes Ding liefern. So ist beispielsweise ein Mensch, der von Ausbeutung redet, zweifelsfrei ein Kommunist, und wer sagt, daß er Kinder mag, könnte in Verdacht kommen, ein Päderast zu sein, dicke Frauen sind auf jeden Fall verachtenswert, Arbeitslose sind faul, Frauen blöde und gehören an den Herd, Sozialhilfe-Empfänger sind Alkoholiker und Sozialschmarotzer, der Angestellte verachtet den Arbeiter, die Führungsperson den Angestellten und den Arbeiter, der Arbeiter verachtet den Arbeitslosen und so könnte es endlos weitergehen ... Kurz: Dies ist die Wirkung des tiefen Schlummers der entschiedenen Meinung.

Um nun einiges davon, was in der gewöhnlichen Wahrnehmng gemieden wird, darzustellen, reicht die gewöhnliche, von den Massenmedien abgeleitete Alltagssprache und das daraus resultierende Alltagsbewußtsein nicht aus. Um Menschen auf Dinge hinzuweisen, die sie übersehen, genügt es nicht, beispielsweise zu sagen: du fühlst zu wenig, oder: du mußt gelassener werden. Man muß es ihnen nachweisen, aufzeigen, sie hinführen zu dem, wovor sie sich sonst streng hüten, man muß sie betroffen machen, ja, sie müssen regelrecht erschrecken vor ihrer eigenen Abgestumpftheit, um aus diesem Schlummer erwachen zu können. Und dazu bedarf es eines weiteren Bewußtseins als dem des gewöhnlichen Durchschnittsmenschen.

Mir ist längst vollkommen klar, warum mein Denken und das einiger anderer den meisten konfus und wirr erscheinen muß, ebenso wirr wie mir das Denken der Mehrheit scheint, obwohl ich es durchaus nachvollziehen kann, wenn auch nur unter mentalen Schmerzen. Mir ist auch absolut klar, welcher Art die Widerstände sind, die Formulierungen außerhalb der Alltagssprache entgegengebracht werden. Jeder Mensch, der sich daranmacht, seine ungeprüft übernommenen "Wahrheiten" und Prinzipien zu überprüfen, ist in der Lage festzustellen, daß ein Großteil seiner Annahmen auf Irrtümern beruht. Ein großer Irrtum ist beispielsweise der, die herrschende Gesellschaftsordnung als naturgegeben hinzunehmen. Ein weiterer nicht minder großer Irrtum besteht in der Annahme, es gäbe den oder die einzig Richtige für's Leben, den Traummann oder die Traumfrau. Weitere Irrtümer sind der Glaube an das Wohlwollen der Politiker und Kapitalisten und die Illusion, durch mehr und mehr Güter glücklich werden zu können.

Mit Hilfe der von den Massenmedien geprägten Alltagssprache sind solche Themen nicht wirklich erschöpfend und erhellend diskutierbar. Die Worte und Formulierungen, die beispielsweise ich verwende, entsprechen nicht einfach einer eigentümlichen Fremdsprache eines weltfremden Idealisten, sondern stellen ganze Ideengebäude dar, die in der Alltagssprache quasi nicht erlaubt sind. Daher kann ich der vielfachen Forderung, mich doch etwas einfacher auszudrücken, nicht Folge leisten und muß mich so zwangsläufig auf jene beschränken, die zumindest die Bereitschaft zum Verstehen mitbringen. Ein Philosoph ist weder Arzt noch Therapeut, sondern ein Mensch, der die Struktur der Wirklichkeit untersucht und von seinen Untersuchungen berichtet.