Zwischen zwei Welten (09. Oktober 2004)
4. Definition, Abstraktion, Ordnung und Moral

Denken ist linear, die Wirklichkeit nicht.
Entfremdung als Resultat eines ständig hohen Abstraktions-Niveaus.

Die Abstraktion ist nichts anderes als ein Name für einen Einteilungsbegriff, bildlich gesehen für eine Schublade. Die besondere Anordnung und die einmalige Art der Verknüpfungen der einzelnen Kategorien bilden das Ordnungssystem des jeweiligen Menschen. Das ist die Ordnung, nach der er lebt, denkt und handelt – und der er sich gelegentlich rebellisch widersetzt. Die Abstraktion ist uns die jeweilige Essenz eines beobachtbaren Gegenstands, wobei sich je nach Zweck der Beobachtung andere Aspekte des Gegenstandes in der Abstraktion finden lassen.

Abstraktionen sind Verallgemeinerungen. Je allgemeiner eine Abstraktion, desto höher ihr Niveau, desto höher das Ordnungsprinzip. Die Bezeichnung "hoch" ist hier keineswegs eine qualitative, sondern lediglich eine räumlich ordnende, im Sinne von höherer Abstraktion als "Überbegriff", der "darunter" liegende Abstraktionen einschließt. Einen sehr niedrigen Abstraktionsgrad bringt beispielsweise ein kleines Kind zustande, das die Kuh auf der Wiese vor allem sensorisch wahrnimmt, die Wärme ihres Fells spürt, ihren Duft und ihre Kraft usw. und das alles mit "muh" kommentiert. Einen sehr hohen Grad von Abstraktion benutzt der Landwirt, für den die Kuh auf der Weide lediglich einen Posten seiner Bilanz darstellt. Ihn interessieren gewöhnlich weder Geruch noch Wärme seiner Kühe. Den allgemeinsten Ausdruck – und somit den höchsten Abstraktionsgrad – stellt die der Quantität dar: eine Zahl steht für die allgemeinste und einfachste Idee.

"Die Wortwahrheit macht aus den Worten einen genauen Ersatz für die Wirklichkeit" (Verycken). Das bedeutet in erster Linie eine große Annehmlichkeit, weil so die aufwendige Abtastung der Realität außerhalb entfallen kann. Dahinter liegt die Gefahr, die von jeder Darstellung ausgeht:

Die Symbole einer Darstellung sind tot, ihre Definitionen fixiert. Mit diesen erstarrten Bildern versuchen wir, die fließende, sich ständig ändernde Wirklichkeit außerhalb unserer selbst zu beschreiben. Wir erliegen irgendwann der Faszination unserer Innenwelt, was dazu führt, daß wir immer bessere, umfassendere Erklärungen für alles zur Hand haben, was wir im Grunde gar nicht so genau wissen wollen und deshalb statt hinzusehen uns mit der Erklärung zufriedengeben. Aus dem Englischen kommt der passende Ausdruck: "The deep slumber of decided opinion" (der tiefe Schlummer der entschiedenen Meinung). Satt die Landkarte der sich ständig ändernden Wirklichkeit anzupassen, zieht es der Großteil der in Großkulturen lebenden Menschen vor, die Wirklichkeit nicht mehr so direkt wahrzunehmen und stattdessen mehr mit dem Finger auf der Landkarte zu leben ... die Erfolgreichsten sind den größten Teil ihrer Zeit damit beschäftigt, die Landkarten anderer Menschen an die eigene Landkarte anzupassen: sie üben Macht und Kontrolle aus.

Im Wort ist das Gefühl zu einer Struktur erstarrt, wo es sich beim Gefühl doch viel eher um einen dynamisch-energetischen Prozeß handelt. Wir konservieren Augenblicke zu Erinnerungsfetzen, zuletzt merken wir uns nur noch die "Essenz" des einstigen Erlebnisses. Bei vielen Menschen ist gar das Phänomen zu beobachten, daß sich Erlebnisse mit der Zeit in der Erinnerung verändern, indem Teile weggelassen werden oder neu hinzukommen. Um vieles schwerer ist es, sich an das vorherrschende Gefühl eines lange zurückliegenden Ereignisses zu "erinnern". Hier sind unsere üblichen Kategorien fast völlig nutzlos, weil wir uns mit dem Körper an ein Gefühl erinnern und nicht allein mit dem Gedächtnis unseres Gehirns. Funktionellere Modelle unseres Gefühlslebens würden uns vermutlich weit mehr Möglichkeiten offen lassen, uns aus kategorisierten Erlebnissen heraus auch an Gefühle und Gerüche zu erinnern.

Gefühle lassen sich mit Worten nur sehr schwer beschreiben. Nur dadurch, daß wir in der Sprache wesentliche Qualitäten unseres Erlebens vernachlässigen, um Gefühle überhaupt miteinander vergleichen zu können, sind wir in der Lage, über Gefühle zu reden. Die individuelle Bedeutungsqualität ist unsagbar. Also auch hier: wir setzen Ähnlichkeiten, wo einmalige Gefühle fließen. Wir setzen die Traurigkeit von letzter Woche mit der heutigen gleich, und äußern, daß wir beide Male traurig waren. Mit der Zeit werden wir bequem und operieren nur noch mit diesen Abstraktionen. Die Hektik des gewöhnlichen Alltags verführt uns dazu, die Feinheiten unseres Gefühlslebens immer weniger wahrnzunehmen und reduzieren uns so auf diese rudimentären Gefühls-Kategorien.

Wörter sind im Grunde komplette Theorien, die komplexe Zusammenhänge unter einem Namen zusammenfassen. Allein die Ideen und Abhandlungen zum Begriff "Demokratie" füllen zahllose Bände ... Über ausnahmslos jedes Wort ließe sich philosophieren ... ließen sich dahinterstehende Ideen und Theorien ableiten.

Die Alltagssprache ist im Grunde die Sprache des "Marktes", des gewöhnlichen gesellschaftlichen Umgangs miteinander, wo auch immer sich Menschen begegnen. Sprachgewohnheiten sind immer von praktischen Erwägungen geprägt, weshalb die Alltagssprache durchaus ihre Berechtigung im alltäglichen Umgang hat, jedoch versagen muß, wenn es um höhere Differenzierungsgrade geht, beispielsweise in wissenschaftlichen Darstellungen. Der Alltag erlaubt es, vom "selben Ding" zu reden, wenn sich nur wenige Ähnlichkeiten oder Analogien finden lassen. Der Wissenschaftler muß hier unterscheiden, weil er weiß, daß die Qualität im Detail liegt – weil er durch die Analyse, also die Betrachtung im Einzelnen zu seinen Werturteilen gelangt und nicht durch grobe Analogie-Vergleiche. Nicht generell die Verwendung der Alltagssprache ist somit zu kritisieren, vielmehr die Unkenntnis alternativer bzw. erweiterter Kategoriensysteme.

An ideologischer Manipulation fällt vor allm die Verwendung von Begriffen "an sich" auf. Das ist gemeint, einen Begriff so zu verwenden, als wäre das Wort nicht nur Form, sondern ebenso unwandelbarer Inhalt. Dabei sind die Bedeutungen von Wörtern bei allen Menschen verschieden, wenn auch oft nur in winzigen Details, manchmal aber auch so unterschiedlich, daß ohne Verständigung über die Definition zwangsläufig Mißverständnisse entstehen. Wer Begriffe "an sich" verwendet, möchte damit die "Objektivität der Tatsachen" begründen. In größeren Umfang angewandt läuft diese Technik darauf hinaus, daß zur "Problemlösung" neue Begriffe und Definitionen geschaffen werden, die das Problem relativieren und "entschärfen". Fällt ein Problem so aus dem Wahrnehmungs-Radius heraus, braucht man sich nicht mehr darum zu kümmern.

Das Bedeutende und das Bedeutete stellt für viele keine unterschiedlichen Begriffe dar, weil sie die Bedeutung dieser beiden Begriffe gleichsetzen. Dabei ist das bedeutende Zeichen lediglich Form, das Bedeutete ihr Inhalt. Der Zuhörer belegt die Symbole (füllt die Formen), die er wahrnimmt, mit seinen eigenen Inhalten. Oft ist sich der Zuhörer nicht einmal der Möglichkeit bewußt, daß das, was der Sprecher meinte, sich von dem, was er, der Zuhörer verstanden hat, unterscheiden könnte.

Fazit: den meisten Menschen gelingt die Verwendung von Sprache so vollendet automatisch (im Gegensatz zu vollendet gekonnt), daß von bewußtem Sprechen bzw. Schreiben nicht wirklich die Rede sein kann. Verständlicherweise fühlen sich die meisten Menschen schnell herabgewürdigt, wenn man ihnen davon redet, wie wenig sie ihre eigenen Sprachgewohnheiten durchschauen. Denn durch das Sprechen auf dem Markt der Eitelkeiten findet der gewöhnliche Durchschnittsmensch seine Bestätigung, nicht durch aufmerksame Beobachtung und empirische Erfahrung.