Zwischen zwei Welten (8. Oktober 2004)
3. Sprache & Denken Teil II

Weiterführende Gedanken zu Sprache und Denken, insbesondere zu Verwirrungen und Verirrungen, zu denen uns das Denken verleitet ...

Das kleine Kind, wenn es beginnt, seine Muttersprache zu erlernen, glaubt noch fest daran, daß alle Dinge ihren "richtigen", sprich natürlichen Namen haben. Für das Kind besteht noch kein Unterschied zwischen dem Ding und seinem Namen. Leider habe ich schwerwiegende Gründe anzunehmen, daß zahlreiche Erwachsene ebenfalls nicht wirklich zwischen der Speisekarte und dem Essen bzw. zwischen der Landkarte und dem Gelände zu unterscheiden wissen bzw. diese Unterscheidung nur selten anwenden. Solche Gründe bildeten sich bei mir im Laufe der Zeit heraus, insbesondere während meiner intensiven langjährigen Beschäftigung mit der Sprachphilosophie bzw. Sprachkritik, aber vor allem angesichts täglich am Arbeitsplatz (oder auch in öffentlichen SCI-Foren wie z.B. de.sci.philosophie) unerträglich werdender unreflektierter Behauptungen und unüberprüfter Vorurteile.

In jeder Sprache gibt es Begriffe, die weder ein von realen Sachverhalten abgeleitetes Abstraktum noch ein Ding in der wirklichen Welt bezeichnen. Dennoch wird diesen Begriffen von denjenigen, die diese Begriffe verwenden, eine Realität bescheinigt oder doch zumindest versucht, eine entsprechende Realität glaubhaft zu machen.

Ich finde diesen Umstand äußerst bemerkenswert, zumal in unserer heutigen Zeit, in der vermehrt Euphemismen (beschönigende Umschreibungen) – verwendet werden, um gezielt Augenwischerei zu betreiben. Das beste Beispiel für ein solches Wort ist mir noch immer der Begriff "Nullwachstum", gleich gefolgt vom Wort "Nullrunde", die beide einzig zu dem Zweck erfunden wurden, um einer eigentlich häßlichen Sache noch irgendwie einen Hauch Positives zu verleihen. Und tatsächlich, es funktioniert, die Empörung beim gemeinen Untertan hielt und hält sich dadurch, daß die unangenehme Sache mit einem schönklingenden und beschönigenden Ausdruck bezeichnet wird, in Grenzen. Inzwischen sind solche "Wort-Gespenster", wie sie beispielsweise Fritz Mauthner, seines Zeichens Sprachkritiker, nannte, gang und gäbe und ganz offensichtlich restlos integriert. Der moderne homo consumensis bzw. homo automaticus hat diese Sprachgewohnheiten übernommen und benutzt diese leeren Begriffe nun seinerseits dazu, sein Repertoire an Theater-Requisiten zu ergänzen und damit vor jenen zu glänzen, die sich davon blenden lassen.

"Wortgespenster"

Raubbau an sozialen Errungenschaften wird "Reform" genannt, im selben Sinne wie vor 65 Jahren in Deutschland die Enteignung jüdischer Betriebe als "Arisierung" bezeichnet wurde, die Herabstufung von Arbeitslosen zu Sozialhilfe-Empfängern nennt sich Arbeitslosengeld-II bzw. Harz-IV, ebenso wie sich die Profitgier der Großunternehmer, die ständig Leute auf die Straße befördert, Rationalisierung nennt oder Steuergeschenke als notwendige Subventionierung deklariert werden.

Wir bemerken, diese Wortschöpfungen machen durchaus Sinn, wenn es darum geht, zu täuschen und zu verschleiern. Der Täuschungseffekt tritt dadurch ein, daß der Mensch aus Gewohnheit seine Abstraktionen aus Analogie-Schlüssen ableitet. Analogien sind Ähnlichkeiten im weitesten Sinn. Der verallgemeinerte Begriff ist die Abstraktion, jeder sprachliche Ausdruck eine Generalisierung, deren Zweck es ist, für möglichst viele Dinge zuzutreffen. Diesen denkökonomischen Prinzipen – wir erleichtern uns durch Verallgemeinern das Denken, weil wir nicht für jeden Vorgang eine eigene Methode entwickeln müssen – wohnt aber auch die Gefahr inne, sich von Begriffen täuschen zu lassen.

Weitaus undurchsichtiger sieht's in diesem Zusammenhang bei Begriffen aus, die heute von jedermann wie selbstverständlich verwendet werden. Nehmen wir einmal das Wort "unbewußt". Mit diesem Begriff bezeichnet der einigermaßen gebildete Mensch vollkommen korrekt alles, was ihm nicht bewußt ist, er aber dennoch in seinem Bestand irgendwie vorhanden wähnt. So kann beispielsweise eine von anderen beobachtete unwillkürliche Handbewegung völlig unbewußt geschehen und dem Betreffenden erst dadurch zu Bewußtsein gelangen, daß er darüber unterrichtet wurde. Nun sind aber jene "Dinge", die zum Bereich des Unbewußten gezählt werden, nicht wirklich Dinge der faß- und greifbaren Wirklichkeit, sondern stellen für sich schon wieder Kategorien dar, was dem relativ unreflektierten Menschen völlig entgeht. Tatsächlich glauben viele, die gerade mal ein oder zwei Bücher über Psychologie gelesen haben, in ihrem Innern existiere ein Bereich, den man Unterbewußtsein nennt, analog etwa zum Bereich des autonomen Nervensystems, dessen Tätigkeit von uns ja meist ebenfalls nicht bewußt wahrgenommen wird. Manche stellen sich diesen Bereich wie den Keller eines Hauses vor, in dem alles Mögliche und Unmögliche an Gerümpel abgestellt wurde, andere wiederum sagen, ihr Unterbewußtsein sei ihr Bauch oder ihre Emotionen oder was auch immer. Setzen nun solche Irrtümer ihren einmal eingeschlagenen Weg fort, sprich "philosophiert" und kalkuliert der Eigentümer dieser Irrtümer mit denselben, muß er zwangsläufig zu den irrigsten und verrücktesten Ergebnissen gelangen. Anders herum werden ihm Berichte, in welchen "seine" Begriffe vorkommen, glaubhafter scheinen als Berichte mit Begriffen, die ihm ungewohnt und fremd erscheinen.

So gibt es einen beträchtlichen Teil (nicht nur) der deutschen Bevölkerung, die wahrhaftig glauben, an einer Sache müsse was dran sein, nur weil darüber in den Zeitungen berichtet wird. Ebenso wird allgemein angenommen, daß an Gerüchten über Personen immer etwas dran sein muß: wo Rauch ist, da ist auch Feuer. Deswegen funktionieren auch Verleumdungen und Rufmord, wie sie beispielsweise in der hohen Politik gang und gäbe sind. Und genau davor fürchten wir uns, wenn wir in Sorge darum sind, unser Gesicht zu verlieren.

In der Zeitschrift Psychologie heute, die ich schon vor 20 Jahren gelegentlich las, fand sich damals ein Bericht über ein Experiment, das wiederholt durchgeführt zum immer gleichen Ergebnis geführt hatte. Eine willkürlich ausgewählte Schar von Zuhörern wurden zwei Vortragenden ausgesetzt. Der Vortrag des ersten war durchsetzt mit speziellen Fachausdrücken und durch die offensichtlich hohe Redekunst des Vortragenden in seiner ganzen Art geeignet, den Eindruck einer schwungvollen Rede hervorzurufen, enthielt in Wirklichkeit aber puren Nonsens, jedoch so aufbereitet, daß er den unbelasteten (sprich: relativ ungebildeten und unaufmerksamen) Zuhörern wie die brillanteste Schilderung der neuesten Forschungsergebnisse anmutete. Der zweite Vortrag war sachlich sehr fundiert, enthielt nur ein Minimum an hochspezialisierten Fachbegriffen, wurde aber sehr trocken und humorlos vorgetragen. Umfragen unter den Zuhörern nach der Wirkung der beiden Vorträge ergaben immer wieder, daß der Nonsens-Vortrag als die gehaltvollere und allgemein bessere Darstellung beurteilt wurde. – Ist es da noch verwunderlich, geschweige denn unglaubhaft, wenn ich wie viele andere ständig auf die massive Manipulation durch die Allgegenwart der modernen Medien hinweise? – Weil diese Manipulation beileibe keine Fiktion oder einen leeren Begriff darstellt, sondern tagtäglich stattfindet, und zwar mit verdummenden und verblödenden Resultaten, muß sie uns bewußt werden und bleiben. Doch bisher gelang es mir nur äußerst selten, einem Menschen seine Meinung, die er als eigene Ansichten ausgibt, dort, wo das für mich offensichtlich ist, als Ergebnis von gezielter Manipulation zu entlarven, denn es kann nicht sein, was nicht sein darf. So ist schon allein der Versuch "strafbar", weil er in den meisten Fällen heftigste Empörung auslöst.

"Die Maske isch feschd a'gschraubt" sang vor 20 Jahren die schwäbische Rockgruppe "Schwoaißfuaß", und die Schrauben sind aus Angst gemacht, möchte man ergänzen. Es ist die Angst vor der eigenen Realität, vor dem, was sich tatsächlich unter der Maske des gesellschaftlichen Wohlverhaltens befindet, – die Angst, die zum Vorschein kommt, wenn die Maske verrutscht. Vielleicht ist das dieselbe Angst, die die Leute daran hindert, hinter die alltäglichen Schleier der Wahrnehmung zu blicken. Niemand bestreitet wirklich die Existenz von Massenmanipulation, doch keiner scheint zu erkennen, wo und wie er selbst manipuliert wird.

Denken ist Ordnen, denn nichts anderes tun wir, wenn wir unsere "Zimmer" im Kopf aufräumen, indem wir Herumliegendes in Schubladen einsortieren. Der Gedanke, daß der An-Ordnung der Symbole in unserem Kopf eine äußere Ordnung entspricht, stellt schon wieder den Trugschluß des Kindes dar, das keinen Unterschied macht zwischen dem Ding und seinem Namen.

Letztlich ist Manipulation ein Resultat von Ordnungsdrang. Derjenige, der manipuliert, möchte seine eigene Ordnung, seine eigenen Zwecke anderen Menschen aufdrängen. Es gibt aber keine Ordnung "an sich", sondern nur verschiedene Zweck-Konstellationen. Doch löst der Begriff "Ordnung" gerade bei denjenigen Menschen eine moralische Wertvorstellung aus, die sich nach fremden Zwecken orientieren und nach Ordnungs-Schemata leben, die sie nicht selbst entwickelt, sondern übernommen haben. Alle Religionen – im weitesten Sinne verstanden als Regelsysteme – stellen solche aufgestülpten Ordnungen dar, deren Zweck stets nur von einigen wenigen hinterfragt wird. "Ordnung ist eine Sehnsucht der menschlichen Sprache", schrieb Mauthner in seinen "Beiträgen zu einer Kritik der Sprache III" (S. 601). Fazit: nur die eigene Ordnung erlaubt, eigene Zwecke zu verfolgen.

Ist es nicht das Wesen einer jeden Illusion, daß auf unserer Landkarte Dinge, Sachlagen verzeichnet sind, deren reale Gegenstücke sich in der Realität nicht auffinden lassen, und umgekehrt? Wer sein eigenes Elend zu sehen und zu ertragen vermag, der erkennt auch das Elend der anderen. Und die Forderung, seine Illusionen aufzugeben, ist natürlich nichts weiter als die Forderung nach einem Zustand, der keiner Illusion mehr bedarf.