Zwischen zwei Welten (6. Oktober 2004)
2. Sprache & Denken Teil I

Ein kleiner Exkurs über die Sprache als wesentliches Element unserer Wahrnehmung, über die entsprechenden Kausalitäten und die dadurch hervorgerufenen Phänomene ...

Was wir gedanklich nicht erfassen können, das können wir nicht denken. Was wir sprachlich nicht fassen können, das können wir nicht ausdrücken und nicht für wirkungsvolle Überlegungen (Denken) verwenden. Auch können wir nur einen sehr kleinen Teil von dem, was uns täglich widerfährt, in unseren Gedanken widerspiegeln, und davon wiederum nur einen sehr geringen Teil sprachlich äußern. Das Denken hat gegenüber dem reinen Sprechen einen etwas größeren Zeichen-Umfang zur Verfügung, weil wir eben nicht nur in sprachlichen Begriffen denken, sondern gleichzeitig auch in gefühlsbesetzten Bildern, für die wir nur sehr eingeschränkt entsprechende Begriffe bilden können.

Denken heißt nicht umsonst Abstrahieren: nur das Wesentliche einer Sache betrachten, verallgemeinern. Die westliche Mystik setzt das Denken mit dem Schwert gleich, was soviel bedeutet wie schneiden, trennen, analysieren. Denken ist immer aspekt-bezogen, benutzt für seine Operationen und Kalkulationen immer nur die als interessant und wesentlich beurteilten Aspekte des jeweiligen Gegenstands. Letztendlich erfassen wir mit unserem Denken nicht die uns umgebende Realität, sondern lediglich diejenigen Aspekte (bei gut trainierten Denkern), die wir für unser praktisches Überleben als notwendig erachten. Bevor der Denker in den Apfel beißt, macht er sich nicht die individuelle Musterung der Schale dieses einzigartigen Apfels bewußt, sondern sucht höchstens nach faulen Stellen und Wurmlöchern, um sie vor dem Verzehr zu entfernen. Das ist der eigentliche Sinn & Zweck des Denkens: für's Überleben sinnvolle Kategorien herauszubilden, eine Landkarte der Umwelt anzulegen (zu lernen), um nicht jedesmal den gleichen Fehler machen zu müssen. Denken ist somit nicht wirklich so vorzüglich dazu geeignet, das Wesen der Welt und der Dinge darin zu erfassen, wie das gerne geglaubt wird.

Nun ist unsere Umwelt durch die gesellschaftlichen Bedingungen gekennzeichnet, so daß die Ansicht, die Gesellschaft, die Zivilisation sei die Welt, sehr weit verbreitet ist. Versteht mich nicht falsch: Gewiß würde kaum jemand von sich behaupten oder sich eingestehen wollen, rein nach gesellschaftlichen Kausalitäten geprägt zu sein, und doch verhält es sich ganz genau so. Unsere Begriffs-System ist ein gesellschaftlich geprägtes. Die Kategorien, die wir gewönlich verwenden, sind genau diejenigen, von denen wir glauben (sollen), daß sie uns in der Gesellschaft weiterbringen. Empfindungen werden uns nur bewußt, wenn wir sie wahrnehmen, was nichts anderes heißt, daß wir sie mit unserem Begriffs-System in Beziehung setzen, also kategorisieren. Deshalb erzeugen unerwünschte Empfindungen oft das berühmte schlechte Gewissen – wenn sie nicht gleich ganz abgeblockt werden –, weil diese Empfindungen gesellschaftlich nicht akzeptiert sind und unserem erlernten Bedürfnis nach Wohlverhalten und Anpassung widersprechen. Unser Begriffs-System ist das Ergebnis unserer Erziehung (Prägung), diese wiederum ist Ergebnis der gesellschaftlichen Entwicklung. Was diesem System nicht entspricht, wird schlicht nicht wahrgenommen. Es handelt sich hier um den ersten der drei Filter der Wahrnehmung. Zu Bewußtsein gelangt nur, was diese drei Filter passieren kann, alles andere bleibt unbewußt, aber dennoch existent. So geschieht es dann, daß quasi "hinter unserem Rücken" Dinge in uns vorgehen, die wir absolut nicht mitkriegen.

Die jeweilige Sprache einer Nation, einer Gesellschaft spiegelt indirekt wieder, was in dieser Gesellschaft gedacht, gesagt und gemacht werden darf oder soll und was nicht. Wer eine oder mehrere Fremdsprachen beherrscht, dem fällt unweigerlich auf, daß andere Sprachen, zumal wenn sie sich von der eigenen sehr unterscheiden, völlig andere Wege der Beschreibung gehen. Auch die Wortherkünfte unterscheiden sich zwischen Kulturen, die sich sehr lange getrennt voneinander entwickelt haben, enorm.

Jede Sprache besitzt ihre eigene Logik, grammatikalisch, syntaktisch und semantisch. Die grammatikalische Logik kommt durch die Gesetzmäßigkeiten der Verbindung einzelner Worte zu Sätzen zum Ausdruck, die syntaktische Logik durch den Bedeutungswandel einzelner Begriffe, je nachdem, in welchem Zusammenhang sie verwendet werden. Die semantische Logik ist letztendlich die Logik von den Zusammenhängen, wie sie in der jeweiligen Gesellschaft gelten bzw. als gültig erklärt werden. (Semantik = Lehre von den Wortbedeutungen, von den Inhalten, die das Symbol "Wort" transportiert.) Für jedes "normale" (genormte, sich an die geltenden Wertmaßstäbe haltende) Mitglied unserer Gesellschaft gälte es als unlogisch, Zusammenhänge anzunehmen, die zur Zeit keine Gültigkeit besitzen, wie beispielsweise die Annahme von sprechenden Blumen oder fliegenden Engeln. Als logisch gelten die Zusammenhänge, die von der breiten Mehrheit als gültig und wirklich anerkannt werden, und zwar unabhängig davon, ob sie objektiv gültig sind, sondern einzig aufgrund von ungeschriebenen Vereinbarungen, die Dinge auf genau diese Weise zu sehen.

Im Grunde ist es nicht verwunderlich, daß sehr häufig der Ausruf "Ist doch logisch!" zu hören oder lesen ist, gepaart mit unterschwelliger oder offener Empörung über jemanden, der scheinbar die vermeintlich natürliche Logik im Moment nicht zu erkennen vermag. Doch – ach und ohjee – es gibt keine natürliche Logik. Jegliche Logik ist von Menschen gemacht. Logik ist ein anderes Wort für Sinn-Zusammenhänge eines Begriffs-Systems. Das heißt, es gibt ebenso viele Logiken, wie es verschiedene Begriffs-Systeme gibt, und deren gibt es ziemlich viele. Genaugenommen gibt's so viele unterschiedliche Begriffs-Systeme, wie es Individuen gibt, und damit meine ich gewiß nicht nur menschliche Wesen, denn auch höher entwickelte Tiere – vielleicht sogar alle lebenden Wesen – arbeiten mit Begriffs-Systemen.

Die heutigen westlichen Menschenkulturen und -gesellschaften arbeiten vorwiegend mit der sogenannten aristotelischen Logik, die auf den gleichnamigen Aristoteles zurückgeht: "A ist gleich A", "A ist nicht Nicht-A" und "A kann nicht gleichzeitig A und Nicht-A sein". Diese A-Logik, wie ich sie im Folgenden verkürzt nennen werde, ist die Grundlage des heutigen wissenschaftlichen Denkens, ebenso die Grundlage des Schwarz-Weiß-Denkens, der Vorurteile und der Klugscheißerei. Die Vertreter dieser schon ziemlich angestaubten A-Logik glauben noch heute fest daran, mit ihren Begriffen das Wesen der Welt erfassen zu können, was heute in der Syssiphus-Arbeit vieler datensammelnder Wissenschaftler zum Ausdruck kommt.

Eine Alternative wäre beispielsweise die paradoxe Logik, die davon ausgeht, daß A und Nicht-A "sich als Prädikate von X nicht gegenseitig ausschließen", aber darauf werde ich nicht weiter eingehen, weil das den Rahmen dieses Artikels sprengen würde. Nur soviel noch: Das menschliche Denken und Vorstellungsvermögen schafft starre Strukturen zur Beschreibung von fließenden Prozessen, wenn es eine Landkarte aufstellt.

Zurück zum Wahrnehmungsfilter der Logik. Für einen Menschen, der sein Leben lang im selben Kulturkreis lebt, stellt dieser Filter eine schier unüberwindliche Wahrnehmungsbarriere dar: alle Empfindungen, die sich nicht mit Hilfe seiner gewohnten Logik einordnen lassen, gelangen ihm nicht zu Bewußtsein. Man kann das sehr schön beobachten, wenn zwei Menschen mit unterschiedlichen Logiken, der eine meinetwegen aus der gebildeten oberen Mittelschicht stammend, der andere dagegen aus relativ ungebildeten Arbeiterkreisen, sich über Politik zu unterhalten versuchen. Verständnis zwischen zwei so unterschiedlichen Logikern ist nur dort möglich, wo ihre Begriffs-Systeme quasi Schnittmengen bilden, sich also decken. Weder hat der Arbeiter die nötige Bildung, um philosophische Gedankengänge des Gebildeten nachvollziehen zu können, noch der Mittelständler die entsprechende Erfahrung von täglich 8 Stunden am Fließband, um die Bedürfnisse des Arbeiters nachempfinden zu können. Beiden, obwohl sie in der gleichen Gesellschaft leben, eignen sehr unterschiedliche Auffassungen und Begriffs-Systeme. Meist wird sich der Arbeiter irgendwann intellektuell bevormundet fühlen, und der Mittelständler wird den Arbeiter für dumm halten.

Dieses Beispiel macht deutlich, wie sehr das Leben, das wir führen, unsere Wahrnehmung prägt und eingrenzt, indem es uns die Logik diktiert, nach der wir unsere Kategorien auswählen.

Der dritte Filter der Wahrnehmung wird oft als der Filter des Marktes bezeichnet. Der Markt ist hier der gesellschaftliche Treff- und Mittelpunkt, auf welchem Wohlverhalten und Anpassung geübt werden. Dieser Filter blockiert das, was nicht gesagt, ja nicht einmal gedacht werden darf. Das beste mir bekannte Beispiel zur Illustration dieses Filters stellt der Vergleich zwischen einem aggressiven Kriegerstamm und einem friedlichen Bauernstamm dar. Dem Bauern, sollte er in die Verlegenheit geraten, beim Kriegervolk mitmischen zu müssen, würde sich inwendig alles sträuben bei der Vorstellung, ständig andere Menschen dahinzumetzeln. Ebenso würde der Krieger im Falle einer schicksalhaften Verirrung zum Bauernstamm alle Mühe damit haben, seine kriegerischen Verhaltensweisen im Zaum zu halten und verächtlich auf die vermeintlich weibisch-schwächlichen Bauern herabsehen. Das ist das Wesen dieses Filters: die einmal gelernten Wertvorstellungen mitsamt allem Statusdenken und Bedürfnis nach Akzeptanz, nach Zugehörigkeit und gegenseitiger Berührung. Was von diesem Filter nicht durchgelassen wird, erreicht ebenfalls nicht das Bewußtsein.

Ich hoffe nun, daß keiner der geneigten Leserinnen & Leser mich dahingehend mißversteht, daß ich die Verwendung von Sprache grundsätzlich anprangere oder gar Sprache abschaffen will. Ich möchte darstellen, wie sehr unsere Wahrnehmung von unserer Sprache abhängt, auf wissenschaftlich: welche Kausalitäten zwischen Sprache und Wahrnehmung existieren. Letztlich möchte ich dafür plädieren, mit Sprache überhaupt bewußter umzugehen, ich möchte für's Lesen und für Zunahme der Allgemeinbildung werben, für den reichhaltigen Schatz an abend- und morgenländischen Philosophien, nicht zuletzt für das Verständnis des Menschen für sich selber, für seine eigene Funktions- und Lebensweise.