Zwischen zwei Welten (4. Oktober 2004)
1. Einführung

Durch die umfangreiche Lektüre, die ich in den letzten Jahren genießen durfte, hat sich in meinem allgemeinen Bestand eine Haltungsänderung ergeben, die es mir ermöglichte, ganz unmerklich eine alternative Sicht der Dinge zu entwickeln. Unterstützt wurde diese Entwicklung durch meine zunehmende Neigung zum Alleinsein, denn dadurch war und ist gewährleistet, daß ich mich relativ frei von populistischen oder privaten Abhängigkeiten und so auch keiner nennenswerten Ablenkung ausgesetzt dahin entwickeln konnte, einige zwar kurze, aber erhellende Blicke hinter den Schleier der alltäglichen Wahrnehmung zu erhaschen.

Was heißt das überhaupt: Bewußtsein? Schlicht: Wahrnehmung! Aufmerksamkeit. Impulse, Inputs für wahr nehmen. Was uns nicht ins Bewußtsein gelangt, nehmen wir nicht bewußt wahr. Wird einem Phänomen keine Aufmerksamkeit gezollt, existiert es nicht, zumindest nicht als von uns bewußt wahrgenommen.

Die letzten beiden Wörter lassen den Verdacht aufkommen, es müsse wohl auch eine unbewußte Wahrnehmung geben. Die gibt es tatsächlich! Das erstbeste Beispiel, das mir dazu einfällt, ist die gewöhnliche und alltägliche menschliche Fortbewegung, das Gehen. In der Regel funktioniert Gehen ohne bewußtes Wahrnehmen der dazu notwendigen Schritte. Die Fußsohle nimmt nämlich in Zusammenarbeit mit unserem Gleichgewichtssinn im Innenohr die notwendigen Korrekturen zur Erhaltung des Gleichgewichts automatisch vor (vereinfachte Darstellung). Dennoch können wir uns bei Bedarf in diesen Vorgang bewußt einklinken, unsere Aufmerksamkeit auf das Abrollen und die winzigen Fußbewegungen lenken, die für ein flüssiges Gehen notwendig sind. (Ich muß z.B. ständig drauf achten, weil eine gewisse Schwäche in meinen Sehnen des rechten Fußes sonst häufiger zu äußerst schmerzhaftem Umknicken führen könnte.)

Aber zurück zum eigentlichen Thema, in welchem ich darlegen werde, daß wir ständig in zwei Welten leben, die sich bei den meisten nicht so recht vereinbaren lassen. Um es kurz zu machen: Die erste, von fast allen bevorzugte Welt ist die der gedanklichen Kategorisierung. Auch wenn den wenigsten bewußt ist, daß sie es tun, so findet die Orientierung des heutigen Menschen fast ausschließlich über Verstandesleistung statt. In einer derart komplexen und komplizierten Gesellschaft wäre ein nur mit Instinkt und Gefühl ausgestattetes Mitglied hoffnungslos verloren und würde schnurstracks in die nächste Klapse verfrachtet werden. Doch ergeben sich aus dieser Tatsache, daß wir uns vorwiegend in unserem Neokortex aufhalten (dem Teil unseres Gehirns, der für das Denken zuständig ist), nicht nur Vorteile, sondern immense Nachteile in der Wahrnehmung realer Wirkungs-Zusammenhänge (Kausalitäten). Denn das Bewußtsein des Gesellschafts-Menschentiers ist von den gesellschaftlichen Regeln und Zwängen geprägt, die von den meisten Menschen als natürliche Gegebenheiten ihrer Welt empfunden und erklärt werden. Wir werden dort hineingeboren und erhalten von Kindesbeinen an ständig Erklärungen der Welt (sprich: Gesellschaft) um uns herum, im Verhältnis dazu aber kaum Erklärungen zum Verständnis der real existierenden materiellen und energetischen Zusammenhänge.

Ich will einmal versuchen, diesen für die meisten vermutlich völlig unverständlichen letzten Absatz etwas zu illustrieren: Stellt euch vor, ihr seht einen Baum an. Im ersten Moment identifiziert ihr dieses Wahrnehmungsphänomen als Baum, was die Bezeichnung für eine Kategorie darstellt, sortiet also in eine Schublade ein, die "Baum" heißt. Es genügen schon wenige Blicke, um in eurem Verstand die Schublade "Baum" auf- und zuzumachen. Gewöhnlich ist die Wahrnehmung damit auch schon beendet, und die meisten Menschen haben ihr ganzes Leben lang keinen besonderen Grund, an der Vollständigkeit und Richtigkeit dessen, was sie Wahrnehmung nennen, zu zweifeln. Für sie ist ein Baum ein Baum, und damit hat sich's. Sie haben nicht den ganzen Baum wahrgenommen, sondern lediglich einige Kennzeichen dieses "Dinges".

Den ganzen Tag, den wir im Zustand des sog. Wachbewußtseins verbringen, werden Wahrnehmungen katalogisiert: Schublade auf, Schublade zu, weiter geht's. Das moderne Leben erlaubt es uns tatsächlich nicht oder nur äußerst selten, von dieser Vorgehensweise abzuweichen. Ja, ich möchte sogar behaupten, daß wir oft gar nicht mitbekommen, wenn sich eine Gelegenheit ergibt, die Dinge um uns herum in ihrer Einmaligkeit, ihrem Besonderen wahrzunehmen. Mit der Zeit, wenn wir nach und nach vergessen haben, daß es auch noch diese andere Wahrnehmung gibt, scheint uns alles austauschbar, das Auto, die Wohnung, der Job, die Freundin, ja sogar der eigene Körper: wir nehmen nur noch die Kategorie wahr und überprüfen, ob wir das alles haben, was wir brauchen, an einer verinnerlichten Liste. Auch nehmen wir Phänomene, für die wir keine Schubladen parat haben, irgendwie nicht richtig wahr: sie hinterlassen in unserem Bestand keinerlei Spuren, auch wenn sie auf unsere Sensoren einwirken.

Damit komme ich nun zur zweiten Welt, in der wir leben: die Welt der besonderen oder besser gesagt eigentlichen Wahrnehmung, die nicht durch "Darüberdenken" nachgearbeitet und dadurch gestört ist. Es gibt tatsächlich bei jedem Menschen, egal wie tief er sich in seinen Neokortex "geflüchtet" hat, immer noch Wahrnehmungen, die sich auf jeden Fall durchsetzen, wie z.B. Schmerz, der die Schmerzschwelle überschritten hat. Auch bei jenen, die darunter zu leiden scheinen, daß sie nichts mehr spüren, z.B. bei ausgeprägten Sozialphobikern oder mißbrauchten Frauen ist noch immer Schmerz vorhanden als letzte Verbindung zur energetischen Realität, auch wenn sie sonst alles, was sie nur im Entferntesten an die erlittene Mißhandlung erinnert, blockiert haben.

Das Besondere an sensorischer Wahrnehmung ist, daß sie durch das Einsetzen des Denkens abreißt oder doch zumindest in ihrer Intensität vermindert wird. In dem Moment, in dem wir die Schublade aufreißen, um eine Wahrnehmung einzuordnen und uns intellektuell bewußt zu machen, lenken wir unsere Aufmerksamkeit von der sensorischen Wahrnehmung auf die gedankliche. Bestimmte Wahrnehmungen wie beispielsweise starker körperlicher Schmerz sind von diesem Abzug von Aufmerksamkeit jedoch nicht so sehr betroffen wie beispielsweise ästhetische oder sonstige eher "zarte" und "leise", subtile sensorische Phänomene. Vor allem ist das, was ich die innere Stimme eines Menschen nenne, seinen inneren stillen See des Wissens, meinetwegen auch das Unbewußte Jungs, in dem dieser verborgene Weisheiten fand, in seinem Wesen sehr leise und für die meisten Menschen heute nicht mehr wahrnehmbar. Die Plappermaschine im Kopf ist dafür viel zu laut.

Um es in der Gesellschaft "zu etwas zu bringen", quasi als erfolgreich zu gelten, müssen wir Prioritäten setzen. Das heißt, wir lernen nach und nach, unseren eigenen Ereignis-Horizont zu bilden, nach welchem wir unsere Aufmerksamkeit ausrichten. Ist etwas ereignisreich genug, entwickeln wir Aufmerksamkeit, schauen wir uns die flotte Biene oder den tollen Hecht genauer an. Doch schauen wir wirklich aufmeksamer? Oder richten wir uns bei der Ausrichtung unserer Aufmerksamkeit nicht eigentlich an jenen Kategorien aus, die wir als vielversprechend zu "erkennen" gelernt haben? Für den Mann beispielsweise die angenehm-gefällige Erscheinung eines weiblichen Körpers, gekrönt mit einem nett lächelnden Gesicht, für die Frau den gestählten Körper eines jungen Mannes, der Manieren und Status erkennen läßt? Ebenso setzen wir Prioritäten im Zusammenhang mit unserem Broterwerb. Während wir arbeiten, aber auch schon auf dem Weg dorthin, haben wir geschäftig zu wirken. Wir legen einen Großteil unserer menschlichen Empfindungsfähigkeit ab, um diesem tief verinnerlichten Ziel entgegenzueilen, dieser ersten aller Bürgerpflichten nachzukommen: zu arbeiten, für Geld, egal ob mit oder ohne Interesse an der Arbeit. Täten wir's nicht, hätten wir ganz schnell ganz schlechte Karten, kein Geld, kein Ansehen, keine Statussymbole. Und weil die Gesellschaft die einzige Welt ist, die wir zeitlebens kennen werden, bleibt uns offensichtlich auch keine andere Wahl.

Wie jeder weiß, verkümmern Fähigkeiten, die nicht verwendet werden, mit der Zeit. Klar, wer einmal Radfahren gelernt hat, der kann's auch nach 20 Jahren Pause noch – sagt man zumindest, müßte man aber echt mal testen. Doch wie steht's mit der reinen Wahrnehmung ohne zweckorientiertes Kategorisieren?

Ich fürchte, die Antwort lautet größtenteils nein ... ja, ich fürchte, es ist sogar noch weitaus schlimmer um uns bestellt, als diese paar eher harmlos anmutenden Zeilen, die ich euch heute als Einstieg zu einem sehr weitreichenden & tiefgreifenden Thema serviere, vermuten lassen. Denn "die Sprache bestimmt durch ihre Vokabeln, ihre Grammatik, ihre Syntax und durch den ganzen Geist, der in ihr erstarrt ist, wie wir etwas empfinden und welche Empfindungen in unser Bewußtsein eindringen." (Erich Fromm)