Über den gesunden Menschenverstand

Teil 3 von 3 (8. August 2003):
Leben in zwei Welten – Versuch einer objektiven Bestandsaufnahme

Semantik = Lehre von den Bedeutungen der Wortsymbole

Der Mensch lebt, seitdem er Symbole verwendet, um in seinem Gedächtnis eine Landkarte seiner Umwelt anzulegen, in zwei unterschiedlichen Welten, die er häufig nicht unter einen Hut kriegt. Die eine Welt, in der sich heute beinah die ganze menschliche Bevölkerung vorwiegend aufhält, ist die der Sprache, der Symbole, mit der unser Verstand operiert. Es sind die "Kenntnisse", aus denen diese Welt besteht und die wir ungeprüft verbal übernommen haben. Alles, was wir über Geschichte und über das Leben in anderen Ländern zu wissen glauben, stammt nur aus Worten. Dies alles wissen wir nicht aus Erfahrung, nehmen es jedoch für wahr an und hin; wir arbeiten damit weiter, als wäre es die reine Wahrheit. Das ist genau der Weg, auf dem die Manipulation in uns eindringt.

Die andere Welt ist die unserer Sinne, unserer tatsächlichen Erfahrungen, eine im Verhältnis zur erstgenannten ziemlich kleine, oft schäbige Welt, doch nichtsdestotrotz eine Welt aus erster Hand: wir haben es gefühlt, gerochen, gesehen und/oder gehört. Es ist der Fluß der Ereignisse, denen wir tatsächlich ausgesetzt sind oder waren. Hier gibt's faktisch gesehen nichts außerhalb, es gibt kein Amerika, kein Universum, keine Kriege und keine berühmten Persönlichkeiten. Hier gibt's nur dich und das, was in diesem Augenblick deinen Sinnen zugänglich ist.

Wir lernen die Sprache in erster Linie durch Nachahmung, indem wir als kleine Kinder beobachten, wie ein bereits Sprachmächtiger auf etwas deutet und dabei gewisse Laute von sich gibt. Entgegen der allgemeinen Vermutung, daß Kinder bereits alles Gesprochene verstehen, sind sie weitaus mehr an den tatsächlichen Geschehnissen interessiert als an den Zeichen, die darauf deuten. Kinder können sich stundenlang mit denselben einfachen Dingen und Vorgängen beschäftigen: was uns Erwachsenen schnell langweilig wird, erfüllt sie mit Freude und Begeisterung. Wir Erwachsene belächeln dieses Verhalten als unreif und kindisch, weil wir nicht mehr imstande sind, es nachzuvollziehen und somit Verständnis dafür zu entwickeln, was beim sich freuenden Kind wirklich abläuft, das sich daran ergötzt, wie beispielsweise ein Ball herunterfällt und weiterrollt.

In allen Sprachen gibt es sehr viele Worte, die kein wirkliches Ding in der Realität bezeichnen, sondern ausschließlich ein gedankliches Konstrukt darstellen. Solche Worte sind beispielsweise "Zukunft", "Menschheit", "Moral", "Materie", "Resourcenknappheit" – viele werden mir jetzt schon widersprechen –, aber auch einfach zu durchschauende Wortgebilde wie "die Erde ist eine Scheibe", wie "Gott im Himmel", "mein unveränderliches Ich" etc. Dennoch wurde und wird mit solchen Worten und Wortgebilden operiert, wird dargestellt und argumentiert.

Daß wir einander dennoch verstehen, beruht auf einer unausgesprochenen Übereinkunft, die Zeichen nach einer "amtlichen" Definition zu deuten und zu interpretieren. Dafür gibt's die zahlreichen Wörterbücher und Lexika, die jedoch bei genauerer Untersuchung einen Begriff oft so allgemein darstellen, daß man ihn ohne seine eigene persönliche Interpretation nicht ohne weiteres verwenden kann.

Wir sind in unserer modernen Gesellschaft massiven semantischen Einflüssen ausgesetzt, die uns prägen und unsere Vorstellung von der Welt – unsere Landkarte – beeinflussen, in erster Linie durch die Massenmedien, die weit mehr die Vorurteile ihrer Eigentümer widergeben als das tatsächliche Geschehen, über das sie zu berichten vorgeben. Die Motive der Medien-Eigner sind fast ausschließlich kommerzieller Natur, was sie verständlicherweise dazu treibt, die Massen zu immer zwanghafteren Konsumenten zu manipulieren und damit deren Urteilsfähigkeit nachhaltig zu untergraben.

Leider ist es so, daß sich das Bewußtsein über diese Zusammenhänge niemandem automatisch erschließt, wenn er nur solche Behauptungen von mir oder anderen liest. Eine umfassende Vorstellung davon, wie tief diese Manipulationen in die Psyche und vor allem in die unbewußten Bereiche des Menschen eindringen, kann sich nur machen, wer sich jahrelang damit auseinandersetzt und versucht, jeden, wenn auch noch so kleinen Manipulationsversuch zu erkennen. Dazu ist es unabdinglich, zuvor die eigene Psyche gründlich zu durchleuchten, vom weitverbreiteten Selbstbelügen fürderhin abzusehen und das Unbewußte zu Bewußtsein gelangen zu lassen. Wir besitzen nämlich alle ein untrügliches Urteilsvermögen, unser Gewissen, das bei den meisten jedoch kläglich verkümmert ist mangels Benutzung und durch systematische Unterdrückung, ebenso wie uns die Zähne ausfallen, wenn wir nur noch Brei essen, wie unsere Beine irgendwann nicht mehr tragen, wenn wir nur noch sitzen und liegen und wie unser Gehirn verrottet, wenn wir nur noch Comics lesen und fernsehen.

Um das alles zu begreifen, in uns aufzunehmen und letztendlich danach handeln und leben zu können, benötigen wir weit mehr als einen "gesunden Menschenverstand", der uns früher sagte, die Erde sei flach, und der uns heute vorsätzlich manipulierte Meldungen als Tatsachen erkennen läßt.

"Nichts ist der Vorsätzlichkeit so ähnlich wie die Logik der Tatsachen."
Pierre Joseph Proudhon

Wir sind inzwischen so sehr auf unsere innere Landkarte angewiesen, daß wir oft in Situationen, die wir tatsächlich hier und jetzt erleben, auf unserer Karte nachsehen müssen, um uns zu orientieren. Doch wehe dem, dessen Landkarte nicht dem Gelände entspricht, dessen Vorstellungen von der Welt nicht zu den Verhältnissen der wirklichen Welt passen. Solch ein Mensch gerät ständig in Schwierigkeiten, fühlt sich zu den falschen Leuten hingezogen, läßt seine Urteilskraft verkümmern, weil er ja ständig auf seiner Landkarte nach dem richtigen Weg sucht und läuft Gefahr, daran ernsthaft zu erkranken. Jene Menschen aber, die (bzw. deren Erzieher) schon im Kindesalter darum bemüht waren, ihre Landkarte den tatsächlichen Verhältnissen anzugleichen, sind in verhältnismäßig geringer Gefahr, durch das, was sie vorfinden, schockiert oder verletzt zu werden.

Nun ist aber unsere Gesellschaft so geartet, daß sie nur noch demjenigen eine wirtschaftliche Sicherheit erlaubt, der sich nicht nach seinen inneren Impulsen richtet, der nicht auf sein Gewissen hört, der sich im Gegenteil rücksichtslos, hart, gierig, raffsüchtig und gemein verhält - also ein vorbildliches Beispiel einer gelungenen Dressur abgibt. Wer weiterhin auf Charaktereigenschaften wie Freundlichkeit und Großzügigkeit, Offenheit, Anstand, Verständnis und Mitgefühl besteht, läuft Gefahr, ständig übervorteilt und auf übelste Weise ausgenutzt zu werden, weil sie bereits darum wissen: nichts macht uns mehr Angst als das Unbekannte.

Die menschliche Dummheit basiert in der Hauptsache auf dem Unwissen über die oben beschriebenen Zusammenhänge. Manche dieser Torheiten sind so alltäglich, daß wir sie kaum noch wahrnehmen. Manche trachten sich vor Unfällen dadurch zu schützen, daß sie sich ein Amulett oder einen Talisman umhängen. Viele haben eine unbegründete Angst vor der Zahl 13, weshalb es noch heute keine 13. Stockwerke in Hotels gibt, obwohl das natürlich totaler Schwachsinn ist, denn das 13. Stockwerk existiert, unabhängig davon, ob es nun als dreizehntes bezeichnet wird oder als vierzehntes. Die täglichen astrologischen Seiten in fast allen Tageszeitungen sprechen Bände über den vorherrschenden Aberglauben. Berichte über mißlungene Beziehungen, über Stalking, gegenseitige Ausnutzung und vieles mehr, wie man sie nur allzu oft lesen kann, sind indirekt daran beteiligt, daß immer weniger Menschen bereit sind, eine echte Beziehung zu einem anderen Menschen einzugehen. Diese verbalen Welten haben meist wenig bis absolut nichts mit der Wirklichkeit zu tun, sie werfen im Gegenteil ein völlig falsches Licht auf die tatsächlichen Zusammenhänge, auf Ursache und Wirkung dessen, was geschieht.

Auf dieser Schiene funktioniert die Reklame, die aus Reklamegründen inzwischen Werbung genannt wird. (Der Begriff Werbung war ursprünglich ausschließlich der Brautwerbung vorbehalten. Um der Produkt-Reklame den mit dem Reklame-Begriff verbundenen Geruch von marktschreierischer Übertreibung und profitgieriger Unlauterkeit zu nehmen, hat man beschlossen, von nun an die "besser duftende" Werbung zu verwenden.)

Eine Landkarte – völlig unabhängig davon, wie schön sie ausgeschmückt und gestaltet wurde –, auf der die Dinge nicht so verzeichnet sind, wie man sie in der Realität vorfindet, ist für den Reisenden absolut wertlos. Er wird sich hoffnungslos verirren, wenn er einer solchen Landkarte folgt. Meine Beobachtungen weisen mich darauf hin, daß die meisten existierenden verbalen Landkarten dieser Welt mehr oder weniger willkürlich erstellt wurden, mehr aus künstlerischen Gründen als um einer hilfreichen Orientierung willen. Die Schönheit der Landkarten soll uns dazu verführen, uns nach ihr zu richten und uns somit in die Irre zu führen. Und wie sie uns verführen: die Versprechen der Politiker vor Wahlen sind die Schnörkel auf den Karten, die sie uns vor's Auge halten, die bunten Bilder der Werbesendungen sind in die Landkarten eingezeichnete Paradiese, die nirgends existieren.

Es gibt auch "richtige" verbale Landkarten, die tatsächlich einen gangbaren Weg weisen, doch werden diese meist falsch interpretiert, weil sie mit den vorherrschenden Landkarten dermaßen kollidieren, daß der Leser abgeschreckt wird: Er wird von den falschen Karten und deren Versprechungen so dermaßen geblendet und korrumpiert, daß er schließlich als gut angepaßtes Gesellschaftsmitglied praktisch kein eigenes Urteilsvermögen mehr besitzt.