Über den gesunden Menschenverstand

Teil 1 von 3 (21. Januar 2003):
Wieso wir uns so leicht von Worten blenden lassen

Jeder von uns ist schon mal einer Lüge aufgesessen, hat etwas geglaubt, was ihm erzählt wurde und sich vielleicht hinterher geärgert, daß die Realität anders aussah. Der folgende Artikel will sich nicht mit den Motiven der Lüge befassen, denn diese wurden bereits bis zum Abwinken abgehandelt. Mir geht es vielmehr um die inneren Zusammenhänge im Menschen, die ihn das eine gerne glauben und das andere ablehnen lassen.

Das erste Hindernis, das uns beim Beurteilen von etwas Gesagtem die Sicht versperrt, ist unser eigener Wille. Je nachdem, wer uns etwas erzählt und was er uns erzählt, sind wir bereit, das eher zu glauben oder eher abzulehnen, oft ganz unabhängig vom Wahrheitsgehalt des Gesagten. So wird es jeder nachvollziehen können, daß ein Kompliment weit mehr Glaubwürdigkeit vorfindet als eine Kritik, daß die Beschreibung einer menschliche Stärke wie Öl die seelische Kehle hinunterläuft und die einer Schwäche wie unzerkaute Disteln. Hören wir etwas aus dem Mund des oder der Angebeteten, und kommt dies unserem gerade vorherrschenden Bedürfnis entgegen, sind wir nur allzu schnell bereit, diese Worte für bare Münze zu nehmen.

Ebenso wichtig, wenn nicht noch wesentlicher für das Erkennen von Wirklichkeit ist unser Sprachgebrauch, sozusagen die Regeln unserer Muttersprache und unsere daraus resultierenden individuellen Denkgewohnheiten. Diese verleiten uns dazu, das abzulehnen, was sich nicht bequem in unsere liebgewonnenen Schubladen einordnen läßt.

Im Kindesalter lernen wir, den erlebten Phänomenen gewisse Laute zuzuordnen. Wir üben sozusagen eine automatische Verwendung von Lauten, um unsere Bedürfnisse mitzuteilen. Wie selbstverständlich glauben wir, daß alles, was vier Beine hat, Wau-Wau heißt. Später lernen wir zu unterscheiden, lernen, daß nur ganz bestimmte Wauwaus mit diesem Laut bezeichnet werden, andere jedoch als Mieze oder Muh. Wir wachsen, werden schlauer, beobachten genauer und stellen mehr Unterschiede fest - wir benötigen weitere Kategorien, unter denen wir ähnliche Phänomene einordnen können. Doch nehmen wir noch immer nicht den Unterschied zwischen Wort und Ding wahr.

Nach und nach gewöhnen wir uns an unseren Sprachgebrauch und genießen die Möglichkeiten, die sich uns dadurch eröffnen. Wir lernen, Verallgemeinerungen zu verwenden, und auch diese werden mit dem Ding, das wir damit zu bezeichnen meinen, gleichgesetzt. So kommen Begriffe wie Menschheit, "politische Notwendigkeit" oder "wirtschaftliche Fakten" zu der Ehre, vom Menschen als tatsächlich vorhandenes Ding für wahr genommen zu werden. (Gibt's dann auch eine Pferdheit und eine Stuhlheit, oder eine Blumenkohlheit und eine Blödheit?)

Hört man aber, mit welcher Ehrfurcht manche Leute von der Regierung sprechen, so könnte man glauben, daß der Kongress die Verkörperung des Gravitationsgesetzes sei, das die Planeten in ihren Bahnen hält.

William Phillips in Rudolf Rocker: "Nationalismus und Kultur", Bd.1, Seite 191

Doch es ist nicht einfach, diese Zusammenhänge zu durchschauen. Die Erfolge gewisser Sekten, der politischen Parteien, und vor allem der Reklame sind ohne die Unwissenheit der meisten Menschen um diese Dinge kaum denkbar. Auch und gerade in der Werbung - Werbung ist eigentlich Brautwerbung und ersetzte zum Zwecke der Täuschung vor nicht allzulanger Zeit den Begriff Reklame, welcher sich auf Produkte und Konsum bezieht - also in der Werbung der beiden Geschlechter umeinander wird getäuscht, gelogen und vorgemacht, was das Zeug hält. Viele meinen, der emotionale Druck, der Schmerz des Alleinseins oder die Vergnügungssucht rechtfertigen solches Vorgehen. Der Autor sieht das anders, will jedoch in diesem Artikel nicht weiter darauf eingehen.

Alles in allem behaupte ich somit, daß sich die meisten Menschen in einer Scheinwelt bewegen, indem sie ihre Vorstellung von derselben als die Wirklichkeit nehmen, ohne weiter zu überprüfen, zu hinterfragen und zu kritisieren. Sie spekulieren auf dieses und jenes, erhoffen sich da einen Gewinn, dort einen Vorteil, und machen ihre Gemütsverfassung allein davon abhängig, wie erfolgreich ihre Spekulationen sind. Sie glauben, das sei die wirkliche Welt, und erkennen nicht, daß sie wie die Kinder immer noch automatisch das Wort für die Sache halten. Sie bilden sich Ideale, an denen sie sich ausrichten, und weisen jene Ideen und Menschen zurück, die nicht diesen Idealen entsprechen. Letztendlich, wenn sie ihre ganze Lebenskraft damit vergeudet haben, ihren Luftschlössern hinterher zu laufen, erkennen manche im Alter, wie sie ihr Leben vergeudeten und beginnen, daran zu verzweifeln. Weder erlaubt ihnen der Rest an Lebenskraft, die althergebrachte Haltung wieder einzunehmen, noch reicht sie aus, um noch einmal von vorne zu beginnen. Doch wir haben nur dies eine Leben.

Die Begrenztheit meines Lebens ist auch der Grund, das Motiv und der Antrieb, die mich seit über nunmehr fünfzehn Jahren dazu anhalten, mich mit den Feinheiten der menschlichen Sprache zu befassen. Die Reaktionen der lieben Mitmenschen, in denen ich mit meinen Entlarvungen ihrer größtenteils sehr unredlichen Motive immer wieder absolut unangenehme Gefühle auslöse, sind mir bisher ein guter Wegweiser für das Funktionieren meiner Annahmen gewesen.