16. November 2005
Vernebelungstaktik
Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt

Dieser Satz von Ludwig Wittgenstein (dt. Philosoph) läßt sich in einem Forum wie dem von Single.de aufs trefflichste bestätigen.

Die Zunahme der Dummheit im eigenen Bestand läßt sich am besten daran bemessen, wie zunehmend eng und bedrückend mir meine Welt erscheint. Wird sie für mich lichter und weiter, nehme ich an Verständnis zu, wird sie enger und dunkler, ist mein Verständnis im Abnehmen begriffen. Und das abnehmende Verständnis für Zusammenhänge, für die subtilen Verflechtungen der Ströme des Lebens darf man getrost als eine Variante menschlicher Dummheit sehen, ja als eine unbedingte Voraussetzung für die letztendliche Manifestation einer reduzierten und entfremdeten Geisteshaltung.

Da der unbedarfte Mensch in unserer Gesellschaft nur über einen verhältnismäßig geringen Vorrat an Symbolen und Kategorien verfügt, ist er zunehmend auf emotionales Abtasten seiner Umwelt angewiesen, um sich nicht völlig einer ansonsten drohenden Orientierungslosigkeit zu ergeben. Die meisten Menschen, die mir bislang begegnet sind, neigen stark dazu, einem freundlichen und schmeichelnden Gegenüber mehr Vertrauen zu schenken und mehr Glaubwürdigkeit zuzubilligen, als einem Gegenüber, das sich zwar nicht ausgesprochen unfreundlich, aber doch sachlich gibt und das nicht versucht, mit dem Herauskitzeln von Emotionen zu manipulieren, sondern auf ehrliche Überzeugungsarbeit baut. Der heutige Mensch ist aber so sehr gewöhnt daran, umschmeichelt und umworben zu werden, daß ihm das Ausbleiben des täglichen Zuckers beinahe wie eine ungehörige Frechheit vorkommen muß.

Auch diese verbalen Szenen, die auf der weitverbreiteten Neigung beruhen, sich dem offensichtlich Angenehmen nur zu gerne und dem scheinbar Unangenehmen lieber nicht nähern zu wollen, kennt wohl jeder. Kaum jemand vermag zu realisieren, daß für einen Großteil der hier dargestellten Freundlichkeit – Ausnahmen sind wohl die zwischen Leuten, die sich persönlich kennen – keinerlei Beweis möglich ist, ob diese Freundlichkeit auch wirklich existiert oder nur geheuchelt ist. Auf einem Server, der u.a. dazu dienen soll, die Suche nach der erotischen Beziehung zu vereinfachen, scheint es mir besonders wichtig, solche Überlegungen anzustellen.

Gerade durch die oben erwähnte Neigung, sich nur zu gerne von dargestellter Freundlichkeit (ebenso gültig bei den Begriffen: Wohlwollen, Zustimmung, Freude, Koseworte usw.), einlullen zu lassen, indem man sie ohne Beteiligung des kritischen Verstandes als gegeben hinnimmt, ergeben sich vielfältige Manipulationsmöglichkeiten. Bei manchen unkritischen Zeitgenossen, deren Neigung, sich zu verlieben, durch eine längere Zeit vorangegangener Einsamkeit ins schier Endlose gestiegen ist, wirken solche verbalen Gesten wie der zündende Funke. Sie glauben der Quelle solcher liebreizenden Worte beinahe auf's Wort und entlassen ihre angestauten Spannungen in den angebotenen Kanal, worauf sie sich bestätigt fühlen und von Liebe zu schwärmen beginnen.

Die hier zur Anwendung gelangte Manipulationstechnik kann man einfach als Verschleierung durch Sprache bezeichnen: Dem Manipulationsopfer wird ein Gefühls-Kontinuum durch Sprache vermittelt, auf ganz ähnliche Weise, wie das die Produkt-Reklame beim Konsumenten erreicht. Nicht ohne Grund wurde der Begriff "Reklame" einst vom Begriff "Werbung" abgelöst, der bis dato nur der Brautwerbung vorbehaltenen war. Auch die Spielfilme im Fernsehen werden inzwischen allein zu dem Zweck gesendet, den potentiellen Kunden in einen "Gefühlsrausch" zu versetzen, um auf diese Weise seinen kritischen Verstand zu umgehen und in so unterhalb der Bewußtseinsschwelle manipulieren zu können.

Grundsätzlich läßt sich sagen, daß diese Manipulationstechik des Einlullens in ein angenehmes Gefühlskontinuum dazu dient, Gegensätze zu verschleiern und/oder geringfügiger erscheinen zu lassen, als sie in Wirklichkeit sind; denn in jeder Gruppe, in jeder Gesellschaft gibt es Gegensätze zwischen verschiedenen Untergruppen, zwischen verschiedenen Interessen und Erwartungen. Um sich das Wohlwollen eines Menschen zu sichern, ist meist nicht viel mehr notwendig, als sich auf seine Stufe zu begeben und zu beteuern, dieselben Interessen und Erwartungen zu hegen wie er. Die jeweiligen Regierungsparteien machen das seit mehr als einem halben Jahrhundert mit anhaltendem Erfolg ganz genau so. Man vermeidet dadurch Auseinandersetzungen und Kritik, die einer reibungslosen Verfolgung der Interessen des jeweils Mächtigeren im Wege stünden. Einige der Gegensätze, die gerne unter den Tisch gekehrt werden, sind die zwischen arm und reich, zwischen Herrschenden und Beherrschten, zwischen sozialem Prestige und sozialer Unterprivilegiertheit und nicht zuletzt die zwischen Führen und Geführtwerden.

Mit den Tricks, die uns die Sprache ermöglicht, ist es daher sehr einfach, solche Gegensätze zu kaschieren: unterschiedliche Klassen werden zu Schichten, Aufrüstung heißt dann notwendige Abschreckung, ein Kriegsminister wird zum Verteidigungsminister, eine mit Angriffswaffen ausgerüstete Armee wird zur Friedensarmee, die Neutronenbombe wird als saubere Bombe tituliert, Einmarsch nennt man besser brüderliche Waffenhilfe, und aggressives Verhalten im Straßenverkehr ist nichts weiter als sportliches Fahren.

Weitere Vernebelungs-Beispiele finden sich in der Arbeitswelt. Da wird die oft enorme Kluft zwischen Führungspersonal und Auszuführenden mit den Begriffen Angestellter und leitenden Angestellter kaschiert, die eine Gemeinsamkeit behaupten, welche faktisch so gut wie nie aufzufinden ist: Das, was diese beiden Gruppen trennt, wiegt meist eindeutig schwerer als das, was sie verbindet. Auch die beiden Begriffe Arbeitnehmer und Arbeitgeber sind insoweit irreführend, als sie suggerieren, die Geberseite sei vor allem der Unternehmer. Tatsächlich gibt aber der Arbeiter seine Arbeit dem Unternehmer und erhält dafür einen Bruchteil dessen, was er mit seiner Arbeit an Wertzuwachs geschaffen hat. Diese beiden Begriffe stammen aus feudalherrlichen Zeiten, als der Landesfürst seinen Untergebenen (Leibeigenen) noch seine Gunst gewährte.

Letztendlich bauen alle Manipulationstechniken auf die eine oder andere Vernebelungstaktik. Man kann getrost sagen, daß der Versuch, den kritischen Verstand des Gegenübers zu benebeln, nicht gerade mit Aufrichtigkeit einhergeht.