25. Januar 2008
Eine "traurige" Wissenschaft?
Starkes Ich vs. schwaches Ichlein

Die Psychoanalyse ist eine traurige Wissenschaft. Nicht weil ihre Vertreter ständiger Traurigkeit ausgesetzt wären, sondern weil sie vor allem nur das eine zu erklären vermag: weshalb sie nichts bewirkt, um eine bessere Gesellschaft herzustellen.

Niemand muß sich vor der Psychoanalyse fürchten, denn sie hat keine Macht und kann daher niemanden unterdrücken, bedrohen oder zwingen. Sie macht niemanden verrückt, setzt keine Revolutionen in Gang und bedroht weder das Establishment, den Status Quo noch den Common Sense. Die Psychoanalyse kann nämlich nur an Individuen, die sich ihr freiwillig stellen, Veränderungen bewirken. Sie kann allgemein Zusammenhänge herausfinden, nicht jedoch die Umsetzung der mit ihrer Hilfe gewonnenen Erkenntnisse bewirken. Diese Umsetzung betrifft eine politische Frage, denn sie setzt Macht voraus.

Mit Fundamentalisten kann man nicht über Erkenntnisse der Psychoanalyse reden, egal ob islamische, christliche oder ökonomische Fundamentalisten. Ein Fundamentalist versteht nur die Sprache der Gewalt, der Drohung, der Macht. Günstig für die Ausbreitung religiöser/fundamentalistischer Machtstrukturen ist ein schwaches Ich. Es ist leichter zu beeindrucken, einfacher zu überwältigen als ein starkes Ich. Ein schwaches Ich blendet größere Teile seiner möglichen Wahrnehmung aus als ein starkes Ich. Ein starkes Ich verarbeitet größere Teile seiner Wahrnehmung "korrekt", als dies einem schwachen Ich möglich wäre. Ein schwaches Ich darf nicht in alle Ecken seines Innenlebens schauen, es muß verbotene Bereiche ausblenden, um sein Gleichgewicht zu halten. Das ist es auch, was dieses Ich schwach macht, schwach erhält. Ein starkes Ich überwindet die Angst vor den dunklen Bereichen der Seele, indem es sie beleuchtet – mit Bewußtsein. Indem das starke Ich die dunklen Bereiche seines Selbst wahrnimmt, weicht die Dunkelheit daraus einer Helligkeit, die Bewußtsein ist und Angst reduziert. Auch das Nicht-Hinschauen senkt die Angst, aber nur kurzfristig und daher nicht so nachhaltig wie das Erhellen der dunklen Bereiche durch bewußte Wahrnehmung.

Die mit Sorgfalt und dem unbeirrbaren Gefühl der eigenen Leistungsfähigkeit wahrgenommene Außenwelt stärkt das Ich, wohingegen die Vermeidung der Wahrnehmung das Ich schwächt, indem sie das Vertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit untergräbt. Gibt man Kindern schon früh die Möglichkeit, durch ungestörte eigene Beobachtung das Erlebnis erfolgreicher Sorgfalt zu haben, legt man die Grundlage für die Entwicklung eines starken Ichs. Anders ausgedrückt: Kinder brauchen eine Erfahrungswelt, die den gesellschaftlichen Lügen und Täuschungen entzogen ist, eine natürliche Umgebung, in welcher sie Käfer und Frösche fangen, Pflanzen sammeln und pflegen können, in der sie mit Wasser spielen dürfen, ohne Angst davor haben zu müssen, zu Hause für die verschmutzte Kleidung ausgeschimpft zu werden. Eine unzerstörte Natur, eine Erfahrungswelt, in der nicht gelogen werden kann, ist geeignet, das Ich zu stärken. Eine ausschließlich durch Menschen vermittelte Welt, in der alle nur Befehlen gehorchen, ist dementsprechend geeignet, das Ich zu schwächen. Die so vermittelten Überzeugungen bewirken im Ich kein solches unbeirrbares, unmittelbares Gefühl der eigenen Leistungsfähigkeit wie die ungestörte eigene Beobachtung, sondern ein vermitteltes Gefühl des Sollens und Müssens, des Zwanges und der von anderen behaupteten Notwendigkeit.

Heute ist die Ichstärke im Gegensatz zum Beginn des letzten Jahrhunders viel schwächer in den Individuen anzutreffen. Damals wuchsen mehr Menschen als heute in einer intakten Natur heran, die Städte waren noch nicht so zubetoniert wie heute, die Mehrzahl der Kinder hatte ungehinderten Zugang zu naturbelassener Umwelt. Vielleicht liegt es mit daran, daß im vergangenen Jahrhundert zahlreiche Genies und herausragende Menschen zum Vorschein kamen, weitreichende Entdeckungen gemacht wurden, auf denen der heute bereits als selbstverständlich wahrgenommene technische Fortschritt beruht. Die selbständige Aneignung von Natur und ihrer Zusammenhänge, die freie Forschung wurden durch das damalige gesellschaftliche Klima vor der Nazizeit eher gefordert und gefördert als heute. Im Angesicht der Wissenschaftler des letzten Jahrhunderts wirken heutige Wissenschaftler wie verängstigte Zwerge und Angestellte mit vorinstallierter, fest angeschraubter Scheuklappe. Sie sind nicht mehr daran interessiert, zur Aufklärung beizutragen, sondern ziehen es vor, als Angstellte jemandem zu dienen.

Die uneingeschränkte Wahrnehmung natürlicher Zusammenhänge durch selbständige Aneignung (beim Beobachten unabhängiger Objekte, wie sie in einer intakten Natur gegeben sind) – so früh wie nur möglich, ohne besondere Anleitung von außen, aber immer mit Unterstützung, wenn sie gewünscht wird – wäre eine zuverlässige Quelle für eine nachhaltige Ich-Stärkung, ein zuverlässiges Antireligiosum. Ein erstarktes Ich würde mit seinem Über-Ich einen ganz anderen Umgang pflegen, ihm einen qualitativ völlig anderen Widerstand entgegenbringen, als das heute übliche geschwächte Ich, das seinem Über-Ich Platz machen muß, wenn dieses mehr Platz verlangt.

Die Unzweideutigkeit des eigenen Erlebens in der Erfüllung der eigenen Wünsche stellt eine weitere Möglichkeit zur frühen Grundsteinlegung eines starken Ichs dar. Hier ist das beste, von Anfang an verfügbare Testgelände die kindliche Sexualität, das sexuelle Erleben in unbeeinflußter Form.(1) Darin liegt auch der Grund, weshalb das Über-Ich ein starkes Interesse daran hat, diese frühen sexuellen Erfahrungen zu versauen und so praktisch zu verhindern. Die auf diese Weise früh im Kind installierte ambivalente Einstellung zur eigenen Sexualität stört die Entwicklung eines starken Ich nachhaltig, indem sie eine ständige Verunsicherung der eigenen Bedeutung und des eigenen Wertes aufrecht erhält. Die Tatsache, daß an die Stelle natürlichen Ausdrucks menschlicher Sexualität heute vielfach obszön-pornographische Darstellungen getreten sind, täuscht heute die große Masse darüber hinweg, daß wir noch immer unsere Sexualität weitgehend unterdrücken. Die jede Nacht bis in die Morgenstunden laufende TV-Werbung für telefonische Sex-"Kontakte" ist nicht Ausdruck unserer natürlichen Sexualität, doch ist sie ein beredtes Beispiel dafür, wie weit wir uns bereits von unserer natürlichen Sexualität wegbewegt haben - und somit auch von der Entwicklung eines in sich ruhenden, starken Ich.

(1) Eine ausgezeichnet gelungene kurze (8 Seiten) Zusammenfassung der kindlichen Sexualentwicklung gibt Ina-Maria Philipps in ihrem Vortrag Wie sexuell ist kindliche Sexualität?
Dagegen gibt das Landesjugendamt Brandenburg sehr ausführliche (60 Seiten) Hinweise für den fachlich-pädagogischen Umgang mit kindlicher Sexualität.
Das Online-Familienhandbuch bietet einen Artikel über die psychosexuelle Entwicklung des Kindes. Es "werden in einer Übersicht die wichtigsten Entwicklungsschritte der kindlichen Sexualität vom Säugling bis zum Teenager erläutert. Hier finden Eltern wichtige grundlegende Informationen und praktische Ratschläge und Tipps, wie sie an dieses Thema zusammen mit ihren Kindern herangehen können."
Eine einführende Erklärung der infantilen Sexualität nach Freud findet sich bei Wikipedia.