13. November 2005
Die Warnung des Thamus
Über die Vor- und Nachteile der Lesetätigkeit ...

... und die Frage, ob der durchschnittliche Industriestaat-Bewohner sich gänzlich auf die Informationsflut der Massenmedien verlassen sollte oder ob es zum Zwecke der Bewußtseinsbildung und -erweiterung nicht angebracht wäre, hin und wieder ein informatives Buch zu lesen.

Aus eigener leidvoller Erfahrung weiß ich und werde ich nie vergessen, wie ausgepumpt und leer man sich nach einem acht- bis zehnstündigen Arbeitstag fühlt, der außer monotonen Bewegungen, von einer 15-minütigen Frühstücks- und einer halbstündigen Mittagspause unterbrochen, nichts gebracht hat: keine Freude am Leben wollte sich einstellen in einem Klima von Angst, Aggression, Mißtrauen, Streß und ständigem Gekeife des Vorgesetzten. Am meisten Energie verlangt das Zurückdrängen dessen, was man gerne erwidern möchte, wenn man wieder einmal vom Vorgesetzten grundlos beschimpft wird. Wer auf diese Weise einige Jahre seines Lebens vergeudet hat, um ein paar Kröten zu verdienen, fragt sich sicher hin und wieder, ob es wohl an ihm selbst liegen mag, keine Lebensfreude mehr empfinden zu können. Doch das ist eine andere Geschichte, auf die ich vielleicht ein anderes Mal zurückkomme.

So erklärt sich für mich meine relative Unfähigkeit, mich in solchen Zeiten eingehender und ausgiebig mit einem bestimmten Thema zu befassen: ich hatte einfach nie den Kopf dafür frei, ich konnte mich abends kaum noch auf ein Buch konzentrieren, obwohl ich im Grunde Interesse daran verspürte, mir gewisse Zusammenhänge erklären zu lassen. Es mag noch andere Gründe geben, sich nur einseitig von den Massenmedien informieren zu lassen. Bei mir waren es letztlich diese:

Platon läßt in seinem Stück "Phaidros" den König Thamus auftreten, dem die gerade neu erfundene Technik des Schreibens und Lesens von Theut vorgetragen und mit folgenden Worten angepriesen wurde: "Diese Kunst, o König, wird die Ägypter weiser machen und gedächtnisreicher, denn als ein Mittel für Erinnerung und Weisheit ist sie erfunden." Der König aber erwiderte: "O kunstreicher Theuth, einer weiß, was zu den Künsten gehört, ans Licht zu bringen; ein anderer zu beurteilen, wieviel Schaden und Vorteil sie denen bringen, die sie gebrauchen werden. So hast auch du jetzt, als Vater der Buchstaben, aus Liebe das Gegenteil dessen gesagt, was sie bewirken. Denn diese Erfindung wird den Seelen der Lernenden vielmehr Vergessenheit einflößen aus Vernachlässigung der Erinnerung, weil sie im Vertrauen auf die Schrift sich nur von außen vermittels fremder Zeichen, nicht aber innerlich sich selbst und unmittelbar erinnern werden. Nicht also für die Erinnerung, sondern nur für das Erinnern hast du ein Mittel erfunden, und von der Weisheit bringst du deinen Lehrlingen nur den Schein bei, nicht die Sache selbst. Denn indem sie nun vieles gehört haben ohne Unterricht, werden sie sich auch vielwissend zu sein dünken, obwohl sie größtenteils unwissend sind, und sie werden der Gesellschaft eine Bürde sein, nachdem sie dünkelhaft geworden, statt weise."

Wissenschaft wird in allen nur denkbaren Bereichen betrieben. Doch schwelt seit langem ein Streit unter der forschenden Elite darüber, was Wissenschaft sei und was nicht. Die Vertreter der exakten Wissenschaften (Mathematik, Physik, Chemie u.a.) werfen den Vertretern der Geisteswissenschaften (Philosophen, Psychologen, Soziologen u.a.) vor, gar keine Wissenschaftler zu sein, sondern nur so zu tun, um leichter an wissenschaftliche Fördergelder zu gelangen. Denn genau darum geht es bei diesem Streit: Die einen gönnen den anderen nicht die Butter auf'm Brot. Aber auch das ist eine Story, die ich heute nicht erzählen werde. Ich will nämlich auf etwas hinaus, was schon im Titel des Artikels angedeutet wurde: Keiner dieser Wissenschaftler, ob nun ein "exakter" oder ein "geistiger", kann es sich erlauben, in seinem gewählten Fachgebiet ganz von vorne ohne Literatur zu beginnen. Ausnahmslos alle Wissenschaftler sind sogar stark auf Literatur angwiesen, um sich zu orientieren, was schon entdeckt, entwickelt, erreicht wurde, um nicht noch einmal auf Gebieten zu forschen, die schon erforscht sind. Ohne Literatur wäre der heutige technische Fortschritt undenkbar.

Mich selbst interessieren nun schon seit langer Zeit die Ergebnisse der Forschung, die sich mit dem Menschen als sozialem Lebewesen befassen. Ich möchte schon lange wissen, wo die Ursachen der sich ständig zuspitzenden Zustände in den menschlichen Gesellschaften liegen. Mich interessieren die Ursachen der zunehmenden Verdummung weiter Kreise der Bevölkerung ebenso wie die innerkörperlichen und psychischen Zusammenhänge, von denen der Mensch abhängt. Um solche Dinge in Erfahrung bringen zu können, gibt es heute nur eine einzige Methode für den Laien ohne Zugang zur akademischen Welt: Lesen. (Ob in unseren Universitäten solche Dinge gelehrt werden, die mich interessieren, darf selbstverständlich bezweifelt werden.)

Tatsächlich existiert heute eine Vielzahl guter Bücher über so gut wie jedes Thema, das den Menschen und seine Lebensweisen betrifft. Ich halte es für legitim und sogar empfehlenswert, sich aus Büchern fundierte Sachkenntnisse zu verschaffen, um nicht einseitig auf die Massenmedien angewiesen zu sein. Ich kann auch keinen Grund erkenenn, warum man renomierten Wissenschaftlern, die nicht selten auch Philosophen sind, mißtrauen sollte. Mißtrauen ist da schon eher gegenüber den Massenmedien angebracht, die nachweislich die Massen für ihre – kommerziellen – Zwecke manipulieren.

Mir wurde schon häufig vorgeworfen, ich brächte in meinen Artikeln keine eigenen Gedanken zur Darstellung, sondern würde nur wiederkäuen, was ich gelesen habe. Das stimmt so nicht! Selbstverständlich zählt das, was vom Lesen nachhaltig in meinem Bestand haften bleibt, zu eben diesem meinem Bestand dazu. Vieles von dem, was ich lese, verändert meine Sicht der Dinge, erweitert meinen Horizont und läßt mich Zusammenhänge erkennen, auf die ich niemals von selbst gekommen wäre, weil mir z.B. die Möglichkeit fehlt, ausgedehnte soziologische Feldforschungen zu betreiben. Ja, ich gestehe es freimütig und stehe ohne Wenn und Aber dazu: Lesen verändert mich, und zwar durchaus zum Positiven, will ich meinen. Und aus diesem erweiterten Horizont heraus schreibe ich Artikel – im Usenet, Beiträge bei Telepolis und in einigen anderen Foren – und alles, ohne auch nur einen müden Cent damit zu verdienen, im Gegensatz zur schreibenden Branche in den Redaktionsstuben.

Wenn König Thamus die Kunst beherrscht, alle Zusammenhänge, die für sein Leben notwendig sind, ohne Vermittlung durch einen Dritten zu erfassen, darf er getrost ein Weiser Mann genannt werden. Ich beispielsweise kann das nicht, ich bin auf Literatur angewiesen, wenn ich meinen Horizont erweitern möchte.