Bewußtsein 1

Der Begriff des Bewußtseins ist heute in aller Munde. Dabei sind sich die meisten Menschen nicht im geringsten der Tatsache bewußt, daß es keine allgemeingültige Definition von "Bewußtsein" gibt; sie gehen einfach davon aus, daß der jeweilige Gesprächspartner mit derselben Definition arbeitet. Dem ist jedoch nur sehr selten so, und wenn es doch einmal der Fall ist, hat man sich allermeist zuvor über eine ganz bestimmte Definition geeinigt. Laut Wikipedia ist Bewußtsein "im weitesten Sinne die erlebbare Existenz mentaler Zustände und Prozesse". Umgangssprachlich könnte man daher auch sagen: "Bewußtsein umfaßt alles, was ich mitbekomme, was ich bemerke, feststelle, denke usw." Bewußtsein umschreibt somit alles, was meinem wachen Erleben zugänglich ist und wovon ich Kenntnis erlange.

Bei dieser Definition müssen wir uns einer weiteren wichtigen Implikation bewußt werden: wir erleben letztendlich nur Sensationen innerhalb unseres Körpers, im Grunde sogar nur innerhalb unseres Gehirns. Es ist nämlich unser Gehirn, daß aus Signalen, die uns von außerhalb unseres Körpers erreichen, plastische Vorstellungen macht, indem es auf die ihm eigene Art und Weise ausgewählte Signale in bewegte Bilder, Farben und Gerüche umwandelt. Was uns so bewußt wird, wird für uns zu Wissen: wir glauben zu wissen, was dieses oder jenes Signal in unserem Körper auslöst und ordnen daher verschiedenen Signalen entsprechende andere Signale zu. Abgesehen von Blinden entsteht unser diesbezügliches Wissen vor allem durch die Augen: Wenn wir uns irgendwo anstoßen, dann wissen wir erst, wenn wir hingesehen haben, woran wir uns gestoßen haben.

Unser Bewußtsein wird also von Sinneseindrücken gebildet, die wir zu interpretieren gelernt haben. Dabei scheint es, daß uns ein kleiner Grundwortschatz an Wissen um gewisse Sinneseindrücke mitgegeben, will sagen: genetisch vererbt wurde. Dieses Wissen ist natürlich vorsprachlich (präverbal) und dient vor allem der ersten Orientierung in einer völlig neuen Umgebung. So findet das Kind automatisch die mütterliche Brust und saugt daran, obwohl ihm niemand erklärt hat, daß es genau das tun soll. Auch die optische Orientierung funktioniert schon bald nach der Geburt: das Kind prägt sich die Gesichtszüge der Mutter ein und reagiert sichtbar auf deren Mimik. Man spricht hier nicht ohne Grund auch von angeborenen Reflexen. Reflexe sind quasi "feste Verdrahtungen" im menschlichen Nervensystem, die bei einem bestimmten Reiz ein ganz bestimmtes Verhalten produzieren.

Nun verhält es sich mit den Signalen, die unsere Nervenenden erreichen, etwas eigenartig: Es erreichen nämlich nicht alle Reize unser Bewußtsein. Das Gehirn wählt irgendwie aus, welche der vielen Reize, die ständig ausgelöst werden, unser Bewußtsein erreichen. Man geht heute davon aus, daß eine solche Auswahl absolut notwendig sei, weil das Gehirn niemals alle Reize, die unsere Nervenenden erreichen, verarbeiten könnte; es wäre damit absout überfordert. Die Hirnforschung hat herausgefunden, daß es im Gehirn so etwas wie eine Wahrnehmungs-Schwelle gibt: Reize, deren Stärke diese Schwelle nicht erreichen, werden nicht wahrgenommen. Sicher kann man durch Übung diese Schwelle herabsetzen, so daß man mit der Zeit in der Lage ist, auch schwächere Reize als vor Beginn des Trainings wahrzunehmen. Doch ist es eher unwahrscheinlich, daß es uns je gelingen wird, alle Reize, die unsere Nervenenden in einem gegebenen Augenblick anregen, gleichzeitig wahrzunehmen, noch weniger, sie zu interpretieren. Wir verfügen nämlich nur über einen Fokus, der uns aus der Vielzahl der möglichen Wahrnehmungen zu einem gegebenen Zeitpunkt lediglich einen einzigen Blickwinkel auswählen läßt.

Das Phänomen der unterschwelligen Wahrnehmung, die darauf basieren sollte, daß uns Reize unterhalb der Wahrnehmungsschwelle zwar nicht bewußt werden, aber dennoch ihre Wirkungen zeitigen sollen, wurde inzwischen von zahlreichen Autoren widerlegt, wie wir bei Wikipedia nachlesen können. Reize, die unsere individuelle Wahrnehmungsschwelle nicht erreichen oder überschreiten, werden definitiv nicht wahrgenommen und können so auch keinen Einfluß auf unser Bewußtsein und unsere Handlungen ausüben. Daher funktioniert auch das Verdrängen im Sinne des Verschließens vor unbequemen Wahrheiten und Wahrnehmungen so prächtig.

Andererseits hat man inzwischen herausgefunden, daß wir lernen können (und das auch tun), ganz bestimmte Reize nicht wahrzunehmen, obwohl ihre Stärke deutlich oberhalb der Wahrnehmungsschwelle liegt. Die meisten dieser quasi ignorierten Reize werden durch erlernte Angst blockiert, eine Angst, die uns meist nicht bewußt ist und dazu führt, bestimmte Wahrnehmungen erst gar nicht zuzulassen. Die wohl größte Angst des heutigen Menschen ist mit ziemlicher Sicherheit die Angst vor dem Sterben bzw. die Angst vor Schmerzen, die das Sterben mit sich bringen kann. Eine kaum geringere Angst haben die meisten Menschen davor, ausgegrenzt zu werden – eine Angst, die sich schon sehr früh als Bio-Überlebensangst manifestiert und mehr oder weniger angeboren scheint.

Einer dieser Reize, die üblicherweise nicht wahrgenommen, sondern bewußt oder unbewußt ignoriert werden, betrifft "verdammte" Anteile des eigenen Selbst. Wenn wir an anderen Menschen gewisse Verhaltensweisen oder Haltungen und Einstellungen wahrnehmen, die man uns bereits sehr früh gewissermaßen ausgetrieben hat, reagieren wir häufig mit Ärger, Haß und Verachtung. Wir nehmen dabei meistens nicht wahr, daß sich unser Haß auf die abgespaltenen Anteile unseres eigenen Selbst richtet, sondern "bestrafen" stattdessen den Auslöser, der uns unangenehme Gefühle verschafft, weil er es sich herausnimmt – welche Frechheit! –, Selbstanteile zuzulassen, die uns verboten sind (siehe dazu auch den Menüpunkt "Das Fremde in uns"). Wir bekämpfen im anderen das, was wir in uns nicht sehen und das, was wir in uns nicht dulden (dürfen). Ein Beispiel: Ein homosexueller Mann in Amt und Würden konnte bis vor einigen Jahren seiner Neigung nur heimlich nachgehen, da Homosexualität verurteilt und verachtet wurde (und von den meisten noch immer so gesehen wird). Viele dieser Männer hatten es sich zur Angewohnheit gemacht, hin und wieder öffentlich gegen Homosexualität zu wettern und zu schimpfen. Damit konnten sie erstens den gesellschaftlichen Druck, den sie aufgrund ihrer Neigung empfanden, abbauen, und zweitens die Angst vor Entdeckung dadurch mindern, daß sie, wie sie glaubten, mit ihrer öffentlichen Schimpfe alle Verdachtsmomente von sich wiesen. Genauso funktioniert das auch bei anderen Ängsten und unterdrückten Selbstanteilen: Menschen, die Teile ihres Selbst ablehnen und unterdrücken, reagieren auf Menschen, die genau diese Teile nicht ablehnen und unterdrücken, häufig mit großer Wut und unbändigem Haß. Dieser Haß gilt eigentlich den unterdrückten und abgespaltenen Anteilen des eigenen Selbst, vor denen diese Menschen ungeheure Angst empfinden. Da sie aber nicht wahrnehmen dürfen, solche abgespaltenen Selbstanteile zu besitzen, richtet sich ihr Haß auf jene, die diese Teile ihres Selbst nicht abgespalten haben. Man kennt dieses Verhalten z.B. auch von Leuten, die gerade mit dem Rauchen aufgehört haben: Um ihre eigene Entscheidung, nicht mehr zu rauchen, zu stärken, wettern sie nun gegen alle Raucher und werden so gewissermaßen zu militanten Nichtrauchern. In Wirklichkeit richtet sich ihr Ärger aber auf das noch immer stark in ihnen bohrende Bedürfnis nach einer Zigarette, das sie aber nicht wahrnehmen dürfen, weil dieses Bedürfnis in ihnen die Angst hervorruft, rückfällig zu werden.

Meine Nachbarin z.B., eine resolute Hausfrau, die mit ihrem jüngsten Sohn und ihrem pensionierten Gatten in der Wohnung neben meiner lebt, zeichnet sich durch eine auffällige Ordentlichkeit aus, obwohl ihr das Putzen und überhaupt der Haushalt mit zunehmendem Alter und Gewicht immer schwerer fällt. Sie und ihr Mann stammen aus Kroatien, leben aber schon mehr als 30 Jahre in Deutschland. Man kann daher davon ausgehen, daß diese Frau einen enormen Anpassungsdruck bewältigt hat und so in ihrer Ordnungs- und Sauberkeitswut deutscher als die Deutschen geworden ist. In unserem Miethaus ist sie jedoch verschrien, weil sie ständig daran herummeckert, wie unordentlich die Leute das Treppenhaus putzen. Sie selbst wischt dreimal, wenn sie dran ist, davor fegt sie erstmal die Treppe. Das macht hier sonst keiner; einmal naß wischen pro Woche genügt allen anderen vollauf. Die Neuen, also neu eingezogene Mieter, hat sie besonders auf dem Kieker – auch nachdem ihr Mann kein Hausmeister mehr ist, weil unser Vermieter nun einen Hausmeister für all seine Häuser angestellt hat. Um Gründe zu finden, mit den anderen Mietern herummeckern zu können, stellt sie häufig Fallen, indem sie z.B. einen winzigen Brotkrümel in irgend eine Ecke legt und hinterher darauf hinweist, dieser Krümel liege nun schon seit Wochen, ergo habe niemand geputzt. Sie weiß immer ganz genau, wo etwas liegt, das angeblich nicht weggeputzt wurde. Vergangene Woche hat sie's wieder mit mir probiert: ich hatte erst spät abends am Sonntag geputzt ("Das macht man Freitags oder Samstags!") und bin sehr früh am Montag morgen aus dem Haus gegangen. Ich war auch gleich wieder zurück, ohne daß die Nachbarin ihr Wohnung verlassen hatte, was ich an dem Putzschild sah, das noch immer an ihrer Wohnungstür hing (sie ist immer nach mir dran). Beim Hochgehen habe ich darauf geachtet, ob irgendwelche Krümel oder Zwiebelschalen (die bevorzugt sie) in irgendwelchen Ecken lagen – nichts. Gegen Mittag klopft es heftig an meiner Wohungstür, ich mache auf und stehe wie erwartet meiner Nachbarin gegenüber, die bereits wie wild herumfuchtelt und durchs ganze Treppenhaus schreit: "Sie haben wieder nicht geputzt! Das muß ich melden!" Und dann erklärt sie mir, auf der Treppe läge eine Zwiebelschale und auf dem Treppenabsatz darunter liege ein Brotkrümel. Die waren aber am Morgen aber noch nicht dagewesen. Ohne weiter zu überlegen wurde ich nun ebenfalls laut, brüllte durchs Treppenhaus, daß sie endlich damit aufhören solle, Brotkrümel- und Zwiebelschalenfallen zu stellen und sich gefälligst um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Und bevor sie in ihre Wohnung flüchten konnte, warf ich ihr noch hinterher: "Nun lassen Sie mir keine andere Wahl mehr: ich werde mich beim Vermieter beschweren!" Das werde ich auch tun, die Unterstützung wenigstens der halben Mieterschaft ist mir gewiß.

Was geschieht hier? Meine Nachbarin hatte vor dreißig Jahren (oder früher) damit begonnen, ihre eigene Abneigung gegen das wöchentliche Putzen, das nicht nur ich für übertrieben halte, zu verdrängen, um sich den übertriebenen Sauberkeitsvorstellungen ihrer neuen Nachbarn anzupassen. Weder ihr Mann noch ihr Sohn würden jemals die Treppe putzen, das wäre denen zu unmännlich, das ist Frauenarbeit. Ich als 50-jähriger mache aber meine Hausordnung regelmäßig selber, was allein schon ausreicht, um mir ihre Verachtung zuzuziehen. Daß ich auch nicht schlechter putze, ja, mit einmal naß Aufwischen dasselbe erreiche wie sie mit ihren mehrfachen "Durchgängen", macht ihr schwer zu schaffen, setzt es doch ihre Tätigkeit in ihren eigenen Augen herab. Nach ihrer Ansicht hat jeder andere hier im Haus mindestens ebenso gründlich zu wischen wie sie. Womöglich kommt sie sich angesichts meiner oder anderer "Putztechnik" dumm vor, weil sie immer zuerst fegt und dann noch dreimal naß drüberwischt. Einmal hat sie sogar von Scham gesprochen, die sie zu empfinden vorgab, wenn sie Besuch bekomme und das Treppenhaus nicht ordentlich geputzt sei. Hinzu kommt sicher noch, daß sie als Frau in der Familie nicht viel zu melden hat und sogar ihre eigenen Kinder den Vater vorziehen. So hat sie es sich zur Gewohnheit gemacht, jeden im Haus, je nach ihrer Laune, damit zu belästigen, nicht ordentlich oder gar nicht geputzt zu haben. So erstreitet sie sich ein wenig illusionäre Selbstachtung, weil sie die anscheinend sonst nicht erhält.

Allein dieses Wissen über die Hintergründe, die meine Nachbarin zu ihrem Wahn treiben, verhindert, daß ich der armen Frau ernsthaft böse sein kann: sie leidet weitaus mehr unter ihrem Zwangsverhalten als ich oder die anderen Mieter. Dennoch müssen wir etwas unternehmen, denn solche grundlosen Feindseligkeiten sollte man sich bei allem Verständnis nicht gefallen lassen, sie weiten sich sonst aus und vergiften das sonst durchaus angenehme Klima im Haus.

Die Entdeckung der Nichtigkeit