Politikverdrossenheit

Nähme man den Begriff der Demokratie wörtlich, ließen sich etliche seiner Implikationen ausmachen, die bislang von keinem Staatsgebilde, das sich demokratisch nennt, in die Realität umgesetzt wurden. Nirgendwo auf der Welt findet man echte und direkte Volksherrschaft – wo gibt es schon staatliche Entscheidungen, die vom Volk gewollt und abgesegnet wurden, die dem Wohl der Bevölkerung dienen und nicht, wie allgemein und seit Jahrtausenden üblich, gegen das Volk gerichtet sind und lediglich einer Minderheit reicher und wohlhabender Bürger dienen.

Nun wären da aber auch etliche Bedingungen zu erfüllen, um echte Demokratie zu verwirklichen. Die wichtiste Vorraussetzung für echte, direkte Demokratie besteht wohl in der Mündigkeit des Individuums. Gemeint ist nicht die offizielle Mündigkeit, die man automatisch ab 18 Jahren erlangt, sondern die tatsächliche Mündigkeit, die auf dem Glauben an die Wirksamkeit eigener Entscheidungen beruht – ein Glaube, der nichts mit religiösem oder esoterischem Glauben an irgendwelche unbegreiflichen Mächte zu tun hat, sondern sich im Gegensatz zu den letztgenannten aus gewachsener Erfahrung des Individuums mit seiner Umwelt speist. Dieser Glaube an die eigenen Kräfte – an die eigene Urteilsfähigkeit, die eigenen Handlungen und Entscheidungen – ist dem heutigen Menschen weitgehend abhanden gekommen oder, besser ausgedrückt: Der heutige Mensch entwickelt diese Fähigkeiten nur noch rudimentär, weil im Vordergrund der Erziehung die Sozialisierung – die Anpassung an die bestehenden gesellschaftlichen Normen – steht. Die meisten Eltern erreichen diese Anpassung durch massive Unterdrückung unerwünschter Regungen ihrer Kinder. Die Art und Weise, wie wir unsere Kinder aufziehen, produziert jenen modernen Mensch, der mit Vorliebe nach oben buckelt und nach unten tritt – ganz so, wie es die Hierarchie der Gesellschaft für ihn vorgesehen hat. Wir lernen von klein auf, das zu wollen, was wir sollen. Andere Regungen werden von den meisten Eltern erfolgreich unterdrückt – und Kinder gehorchen diesem Druck, denn sie können es sich nicht leisten, die Aufmerksamkeit und Zuwendung der Eltern zu gefährden oder gar zu verlieren.

Eine weitere Bedingung für echte Demokratie besteht in der Aufrichtigkeit von Abgeordneten. Abgeordnete müßten im Grunde, würden sie ihren Auftrag wirklich ernst nehmen, sich selbst so weit wie nur möglich zurücknehmen und die von ihnen Vertretenen so gut und brillant wie nur möglich repräsentieren. Heutige politische Abgeordnete tun aber alles andere als das: sie stellen allermeist ihre eigenen Interessen, die vorwiegend im Gewinn von Einfluß, Macht und Reichtum liegen, in den Vordergrund. Sie sind käuflich, korrupt und verlogen. Heutigen Abgeordneten fehlt allermeist das, was man geistig-mentales Rückgrad oder auch ethisch-moralische Integrität nennt. Aus diesem Grund bleiben politische Wahlen auf allen Ebenen (Bund, Länder, Kommunen) völlig wirkungslos. Wenn Wahlen wirklich etwas verändern könnten, wären sie verboten.

Vielleicht liegt es aber auch an einer grundsätzlichen Unmöglichkeit, daß wir nirgendwo echte, direkte Demokratie entdecken können. Vielleicht ist der Mensch ja gar nicht dafür gemacht, sich zu solch riesigen Massen zusammen zu finden, wie es die moderne Lebensweise vorsieht. Menschen, denen man niemals persönlich begegnet ist, kennt man nicht, und in großen Massen kann nunmal nicht jeder jeden kennenlernen. Die Tatsache, daß viele Leute die Präsentation eines Kandidaten in Presse und TV bzw. dessen öffentliche Auftritte irrtümlich für eine persönliche Begegnung halten, weist uns darauf hin, was tatsächlich geschieht: Den Wählern werden wünschenswerte und positiv besetzte Eigenschaften der Kandidaten vorgeführt. Nicht das Wahlprogramm oder die tatsächliche Einstellung (die sowieso kaum einer kennt) des Kandidaten sind für den Wahlausgang ausschlaggebend, sondern seine erfolgreiche Präsentation, im Grunde also die Verpackung. Die Parallelen zur Produktreklame sind unverkennbar.

Vergleicht man die Zeitspanne der Existenz des Menschen mit derjenigen der Existenz der Zivilisation, kommt man möglicherweise zu erstaunlichen Einsichten. Der Schluß liegt nahe, daß wir genetisch-biologisch den kleinen Gruppen und Horden des frühen Menschen viel näher sind als den großen Massen der heutigen Gesellschaften. Das würde bedeuten, daß unsere natürliche Lebensweise eher auf kleinere Gruppen, vielleicht bis auf Dorfgröße, ausgerichtet ist als auf das Bilden riesiger Herden, wie das die moderne Zivilisation erfordert.

Angesichts mächtiger staatlicher Institutionen, eines schier undurchdringlichen und undurchschaubaren Gesetzes-Dschungels und zahlreicher mächtiger und menschenverachtender Superreiche fühlt sich der moderne Durchschnittsmensch klein und hilflos. Es ist im Grunde die Hilflosigkeit des kleinen Kindes, das sich von zahlreichen großen und starken Männern und Frauen umgeben sieht und ganz genau weiß, daß es seine Interessen gegen diese Übermacht niemals auch nur wagen darf durchzusetzen.

Daß der Mensch – auch – ein Tier ist, mögen viele nicht hören, ist aber so. Wir haben mit unseren nächsten Artverwandten überproportional mehr gemein als uns von ihnen unterscheidet – weshalb wir zum überwiegenden Teil Tier sind und nur zu einem sehr geringen Teil Mensch, wenn ich das mal so ausdrücken darf. Nun, was geschieht mit Tieren, wenn sie nicht artgerecht gehalten werden? Man schaue sich in den Zoos der Welt um: Zahlreiche Tiere, insbesondere die intelligenteren, zeigen auffällige psychische Störungen. Man schaue sich in den Menschenzoos, den Menschenställen, den Städten und Großstädten der Welt um: Viele Menschen zeigen auffällige pychische Störungen. Natürlich mag auch kaum einer davon reden oder hören, daß Menschen in Menschenställen gehalten werden, was aber nichts an der Tatsache ändert, daß sich die heutige Lebensweise des Menschen mehr und mehr der Massentierhaltung annähert, was zu einem bemerkenswerten Anstieg psychischer Erkrankungen geführt hat. So schreibt z.B. die Bertelsmann-Stiftung – und wenn's sogar die bereits zum Ausdruck bringen, köntne eventuell doch was dran sein:

Die Ursachen für den rapiden Anstieg psychischer Erkrankungen werden in der Literatur kontrovers diskutiert. Neben dem Wegfall bisher funktionierender sozialer Strukturen, steigender Arbeitslosigkeit und unsicherer Arbeitsverhältnisse werden für die Zunahme insbesondere Arbeitsplatzbelastungen wie beispielsweise zeitliche und fachliche Über- und Unterforderung und fehlender Handlungsspielraum diskutiert (Lademann & Mertesacker 2006). Immer mehr wissenschaftliche Studien belegen zudem, dass auch psychosoziale Faktoren wie beispielsweise mangelnde Anerkennung und Wertschätzung, soziale Konflikte mit den Kollegen und defizitäres Führungsverhalten sowohl für die physische als auch für die psychische Gesundheit schädlich sind (z.B. Badura & Greiner 2008, Siegrist & Rödel et al 2006, Snow et al 2003).
(Quelle: Bertelsmann-Stiftung)

Weitere Bestätigungen der Zunahme psychischer Erkrankungen finden sich z.B. dort:

DAK – die meisten Fehltage wegen psychischer Erkrankungen in Hamburg und Berlin
DAK – überdurchschnittlicher Anstieg psychischer Erkrankungen bei Jüngeren
Anstieg psychischer Erkrankungen bei Jugendlichen
Massiver Anstieg psychischer Erkrankungen

Eine Studie der Uni Bremen aus dem Jahr 2005 kommt gar zu diesen Ergebnissen:

– Nach Schätzungen der WHO (2001) leiden weltweit ca. 450 Millionen Menschen unter psychischen Erkrankungen.

– In West-Europa errechnen Experten, dass jeder vierte Erwachsene in seinem Leben an einer psychischen Störung erkrankt.

– Aufgrund der Daten des Bundesgesundheitssurveys (1998/99) leiden in Deutschland 32,1 Prozent der Bevölkerung zwischen 18 und 64 Jahren im Laufe eines Jahres zumindest zeitweise unter einer (oder mehreren) psychischen Störungen.

– Psychische Erkrankungen beginnen oft früh im Leben, aber bestimmte unheilbare Erkrankungen sind alterstypisch, wie die Demenz, die häufigste Erkrankung im Alter. Schätzungen gehen von ca. 930.000 Betroffenen allein in Deutschland aus.

– Die Prävalenzen für Demenz wie auch für andere psychische Erkrankungen sind in den vergangenen Jahren überdurchschnittlich gestiegen. Die Kosten für die Behandlung psychischer Erkrankungen beziffert das Statistische Bundesamt (2004) auf ca. 10 Prozent der Gesamtkosten für Gesundheit im Jahr 2002.

– Für die Zukunft rechnen Experten mit einem weiteren weltweiten Anstieg sowohl der Prävalenz als auch der Kosten. Die WHO sagt einen Anstieg von heute 11 Prozent aller Erkrankungen auf 15 Prozent in 2020 voraus. Bickel (2001) rechnet mit einem Anstieg der Demenzkranken in Deutschland auf 1,56 Millionen im Jahr 2030.

Heutige Menschen sind auf eine Weise und in einem Ausmaß entmutigt und schicksalsergeben, die mich regelrecht erschreckt. Man hat es im Dritten Reich gesehen: Ohne aufzumucken haben sich die meisten Juden willig ins Gas führen lassen. Und ohne einzuschreiten oder auch nur zu widersprechen haben alle anderen Augen und Ohren vor dieser schrecklichen Tatsache verschlossen und zur Selbstberuhigung gemurmelt: Sind ja nur Juden. Und ebenfalls ohne einzuschreiten wird tagtäglich in zahlreichen Firmen, Organisationen und in Behörden Mobbing geduldet oder aktiv unterstützt: das Quälen eines Einzelnen durch Vorgesetzte und/oder Kollegen. Die Angst, entlassen zu werden, entspricht der früh eingeimpften Angst vor dem Verlust der elterlichen Zuwendung. Bei Erwachsenen haben Firma und Staatswesen – die Gesellschaft – die Rolle der umsorgenden, aber strengen Eltern übernommen. Der Einzelne ist nichts ohne Gesellschaft, er empfindet bei Verlust des Arbeitsplatzes und des damit einhergehenden Verlusts an Geld, Bewegungsfreiheit und Anerkennung die früh erlebte Bio-Überlebensangst wieder, die einer regelrechten Todesangst gleichkommt.

Wen wundert da noch die grundsätzliche Unfähigkeit einer großen Bevölkerungsmehrheit, bei offensichtlichen Ungerechtigkeiten und kirminellen Machenschaften der politischen Kaste auch nur aufzustehen und "Halt!" zu sagen, ja, auch nur daran zu denken? Die Leute trauen sich selbst nichts zu, weil man ihnen dieses Zutrauen bereits sehr früh ausgetrieben hat. Wir sind Schafe, die zur Schlachtbank geführt werden und bis zum letzten Moment nichts davon ahnen. Man kann in diesem Zusammenhang nur von schweren psychischen Traumata sprechen ...