Das Unbehagen in der modernen Gesellschaft

Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, hat sich ausgiebig mit dem befaßt, was er das "Unbehagen in der Kultur" nannte. Dabei ergibt sich dem heutigen Menschen eine Schwierigkeit, weil der Begriff "Kultur" zu Freuds Zeiten etwas anderes bedeutet hat, als das heute der Fall ist. Kultur war für Freud der Gegensatz zur Barbarei. Er hob Schönheit, Ordnung und Reinlichkeit als besondere Merkmale seines Kulturverständisses hervor. Heute versteht man unter Kultur das, was die Unterhaltungsindustrie produziert: Musik, Filme, Veranstaltungen, Ausstellungen, Theater usw.

Freud kam in seinem Essay "Das Unbehagen in der Kultur" zu dem entscheidenden Schluß, daß Kulturen bzw. Gesellschaften ihre Mitglieder dazu zwingen, bestimmte Triebe zu unterdrücken. Das sehr oft zu beobachtende Unbehagen an der eigenen Kultur ist Ausdruck der Abwehr dieser Zwänge, die den biologischen Veranlagungen des Menschen im Wege stehen. Weil aber der Mensch seiner Kultur und den ihr innewohnenden Zwängen – der vielzitierten strukturellen Gewalt – ambivalent gegenübersteht, nimmt er sein Unbehagen in der Kultur nicht richtig wahr: Die Tatsache, daß es erstens "seine" Gesellschaft ist, in der er lebt, daß er sie annehmen muß, weil sie ihn ernährt und erhält, vernebelt ihm häufig die Sicht auf den Zwangscharakter seines Lebens und der Gesellschaft. Er erkennt nicht die Unmöglichkeit einer authentischen Entwicklung. Mit der Zeit vergißt er (bzw. sein Verstand) diese ursprünglichen Strebungen, ohne die unterdrückten Teile seines Selbst jemals vollständig aufgeben zu können.

Wie wir in der Einleitung bereits gelesen haben, verwandeln sich unterdrückte Regungen in aggressive Regungen, wenn ihnen lange Zeit kein Raum zur Entfaltung geboten wird. Dort, wo der Mensch keine Möglichkeit hat, seine Destruktivität im Außen abzureagieren, richtet er sie gegen sich selbst: Er wird depressiv und selbstschädigend. Doch wenn es nicht bestraft wird, reagiert der Mensch sein Unbehagen mit Vorliebe an seinen Mitmenschen ab – selten oder nie an höhergestellten Mitmenschen, denn die wissen sich gewöhnlich gegen Angriffe "von unten" zu schützen. Zu den untergebenen Menschen zählt der westliche Industrielandbewohner auch seine Kinder, obwohl die Wenigsten das so unterschreiben würden. Ihr absoluter Dominanzwille ihren Kindern gegenüber kommt meist nur in Extremsituationen direkt zum Vorschein – Situationen, in denen sie die Auseinandersetzung mit der Sichtweise ihrer Kinder vollständig ablehnen und ihre aufkommende Hilflosigkeit durch aggressives Auftreten zu verbergen suchen.

Es ist irgendwie seltsam, daß die meisten Menschen die Beschäftigung mit Psychologie zwar grundsätzlich abzulehnen scheinen, aber dennoch gierig auf Resultate der psychologischen Forschung sind, wenn diese ihnen Munition für zahlreiche Vorurteile bereitstellen. Die Erkenntnisse der Psychoanalyse haben – ob man das nun gut findet oder nicht – die Sprache der Menschen mit zahlreichen ihrer Fachbegriffe durchsetzt und auf diese Weise der menschlichen Wahrnehmung wichtige psychologische Kategorien verfügbar gemacht. Das verhaltene Interesse hinter dem zur Schau gestellten Desinteresse an Psychologie und Psychoanalyse unterstreicht die Zwiespältigkeit, mit der der moderne Mensch seine Welt, seine Gesellschaft wahrnimmt. Einerseits "verbietet" und straft der gesellschaftliche Konsens jede Form der Schwäche, man hat sich gefälligst zu schämen, wenn man bei irgend einer Schwäche erwischt wird. Andererseits hat jeder Mensch Schwächen. Doch die Heftigkeit, mit der die lieben Mitmenschen über einen herfallen, dessen Schwäche sie entdeckt zu haben glauben, ist Ausdruck der Abwehr ihrer eigenen Schwäche: große Wut auf einen, von dem sie glauben, daß er sich etwas herausnimmt, das ihm nicht zusteht, von dem sie annehmen, daß er sich für etwas besseres hält, für jemanden, der glaubt, es sich leisten zu können, Schwächen zu zeigen. Sie bestrafen am anderen ihre eigenen Schwächen, sie rächen sich an Unschuldigen für den Verlust ihrer eigenen Unschuld – für die einstige Mißhandlung durch ihre Erzieher.

Das Unbehagen in einer Gesellschaft mit ihren mächtigen Institutionen, denen gegenüber sich der Einzelne winzig und hilflos vorkommt, wird größtenteils geleugnet. Oberflächlich betrachtet kann man dieses Leugnen dem Belügen des Vorgesetzten, der seinen Untergebenen fragt, ob die Arbeit denn Spaß mache, gleichsetzen – mit dem Unterschied, daß hier "nur" der Vorgesetzte mit einer Zwecklüge bedacht wird, im erstgenannten Fall aber der Mensch sich aus gleichem Grunde selbst belügt. Denn niemand erträgt längere Zeit das, was man kognitive Dissonanz nennt: unvereinbare Tatsachen werden vom Menschen in Gedanken "korrigiert", weil er die Unvereinbarkeit nicht zu ertragen vermag. Kognitive Dissonanz zeigt sich in der menschlichen Neigung, Probleme, die innerhalb einer Organisation Konflikte oder psychischen Schmerz hervorrufen würden, zu unterdrücken, wegzuinterpretieren, zu verwässern oder zu zerreden. Sie führt dazu, daß bestimmte Alternativen ausgesondert werden, weil selbst das Nachdenken über sie Konflikte zur Folge haben würde. In den Beziehungen zwischen Untergebenen und Vorgesetzten innerhalb einer Regierung führt sie zur Entwicklung von politischen Strategien, die bei niemandem Anstoß erregen. Sie fördert beim Regierenden das Wunschdenken, das sich als eine unbewußte Verzerrung der Beurteilung von Wahrscheinlichkeiten definieren läßt. "Aussagen, bei denen der Rezipient eine Diskrepanz zwischen der Vorstellung von der Aussage und seinen bereits vorhandenen Attitüden vermutet, werden in einer Art Selbstschutz schon in der präkommunikativen Phase zurückgewiesen." (Gerhard Maletzke: Psychologie der Massenkommunikation. Theorie und Systematik. Hamburg 1963, S. 148)

Man hat z.B. folgendes Experiment gemacht (Quelle: forced comliance paradigma): Festinger und Carlsmith ließen zwei Experimentalgruppen eine extrem langweilige Tätigkeit durchführen. Anschließend wurden die Probanden beider Gruppen gebeten, ihre Tätigkeit nachfolgenden Versuchspersonen als äußerst interessant und spannend zu "verkaufen". Die Probanden der ersten Gruppe erhielten für die positive Darstellung des Experiments nur eine geringe Bezahlung (1$), die der zweiten Gruppe erhielten hingegen 20$. Außerdem gab es jeweils eine Kontrollgruppe, die anschließend niemanden überreden mußte und auch nicht belohnt wurde. Anschließend wurden die Probanden befragt, wie attraktiv sie die ausgeführte Tätigkeit einschätzten. Die erste Gruppe (1$) bewertete die Aufgabe viel attraktiver als die zweite Gruppe und die Kontrollgruppe. Nach der Theorie der kognitiven Dissonanz läßt sich das Verhalten folgendermaßen erklären: Die Versuchspersonen der ersten Gruppe mußten lügen, um die Tätigkeit als spannend darstellen zu können, dabei entstand eine kognitive Dissonanz. Um diese auszugleichen, bewerteten sie die Aufgabe im nachhinein attraktiver. Die Versuchspersonen aus der 20$-Gruppe hatten eine externe Rechtfertigung für ihre Lüge (die 20$ als Belohnung), so daß sie ihr Verhalten nicht im Widerspruch zu ihrer negativen Einstellung zum Experiment erlebten, also keine Dissonanz verspürten. Man findet das auch sehr häufig außerhalb des Experiments: viele verteidigen ihre schlechte Stellung, ihren schlechten Job, weil sie an der Illusion festhalten (müssen), etwas Wertvolles zu tun, wogegen Menschen, die von Berufs wegen hart gegen ihre Mitmenschen handeln müssen, meist überdurchschnittlich bezahlt werden.

Interpoliert man die Tatsache, daß der durchschnittliche Mensch nur schwer kognitiven Dissonanzen zu ertragen vermag, auf alle Bereiche des Lebens in modernen Zivilisationen, kommt man zu erschreckenden Ergebnissen: Der größte Teil dieser Leute verdrängt die Tatsachen der Ausbeutung und Versklavung derart wirkungsvoll, daß sie nur schwer davon zu überzeugen sind, über Alternativen nachzudenken. Sie werden weiterhin gehorchen und ihre Kinder mental reduzieren, auf daß sie ebenso gehorchen lernen. Sie werden sich weiterhin nicht wehren, sich von Vorgesetzten und vom Staat alles gefallen lassen, brav ihre Sklavenpflichten erfüllen und auf alle schimpfen, die sich diesem Zwang irgendwie zu entziehen suchen. Sie werden weiterhin daran glauben, daß sie in einer Demokratie leben, daß die da oben schon wissen werden, was sie tun, und daß ihr Glück in allabendlicher Trance vor dem Fernseher liegt.