Erziehung und Aggression

Eine Studie des amerikanischen Psychologen James W. Prescott belegt, daß die größte Bedrohung für den Weltfrieden von jenen Nationen ausgehe, "die ihre Kinder in der reizärmsten Umgebung aufziehen und die sexuelle Zuneigung und weibliche Sexualität am stärksten unterdrücken". Diese Studie von 1975 ist im Internet zu finden:

http://www.violence.de/prescott/bulletin/article-d.html

Doch woher kommt diese Bereitschaft eines Großteils der Menschen, ihre Nachkommen in ihrer natürlichen Entwicklung so stark zu behindern und zu unterdrücken, daß aus ihnen unweigerlich destruktive und gewaltbereite Menschen werden müssen? Wie in der Einleitung schon angedeutet, liegen die Ursachen der menschlichen Destruktivität nicht in den Genen oder sonstigen biologischen Gegebenheiten begründet. Für die Ergründung der Ursachen muß man ein wenig weiter ausholen, als es für eine einfache Erklärung von Ursache und Wirkung erforderlich wäre.

Erich Fromm hat in seinem Hauptwerk "Anatomie der menschlichen Destruktivität" klar zwischen zwei Bedeutungen des Aggressionsbergriffs unterschieden, der im gewöhnlichen Sprachgebrauch eher nachlässig und diffus verwendet wird:

Der vieldeutige Gebrauch des Wortes "Aggression" hat in der umfangreichen Literatur zu diesem Thema große Verwirrung hervorgerufen. Man wandte diesen Ausdruck auf das Verhalten eines Menschen an, der sein Leben gegen einen Angriff verteidigt, auf einen Räuber, der sein Opfer tötet, um zu Geld zu kommen, auf einen Sadisten, der einen Gefangenen foltert. Ja, die Verwirrung geht noch weiter: Man benutzte diesen Begriff für das sexuelle Verhalten des männlichen Geschlechtspartners, für die vorwärtsdrängenden Impulse des Bergsteigers oder Kaufmanns und für den Bauern, der seinen Acker pflügt. Vielleicht ist diese Verwirrung auf den Einfluß des behavioristischen Denkens in der Psychologie und Psychiatrie zurückzuführen. Wenn man sämtliche "schädigende" Akte als Aggression bezeichnet, das heißt alle Akte, die sich schädigend oder zerstörend auf ein lebloses Objekt, auf eine Pflanze, ein Tier oder einen Menschen auswirken – dann ist natürlich die Art des hinter dem schädigenden Akt stehenden Impulses völlig irrelevant. Wenn Akte, die auf Zerstörung gerichtet sind, Akte, die beschützen sollen, und Akte, deren Absicht konstruktiv ist, mit ein und demselben Wort bezeichnet werden, kann man freilich alle Hoffnung aufgeben, ihre "Ursache" zu verstehen; sie haben keine gemeinsame Ursache, da es sich um völlig verschiedenartige Phänomene handelt, und man befindet sich in einer theoretisch hoffnungslosen Position, wenn man versucht, hinter die Ursache der "Aggression" zu kommen.

Ich habe in diesem Buch den Begriff "Aggression" für Reaktionen und Abwehr gegen Angriffe benutzt, die ich zusammenfassend als "gutartige Aggression" bezeichne. Die spezifisch menschliche Leidenschaft, zu zerstören und absolute Kontrolle über ein Lebewesen zu haben (die "bösartige Aggression") dagegen bezeichne ich als "Destruktivität" und "Grausamkeit".

Und er hat damit absolut Recht, wie ich meine, denn die moderne Neigung der allgegenwärtigen political correctnes, jegliche Aggression zu verdammen, moralisiert auch gegen das verbal-aggressive Verteidigen bei Angriffen auf die eigene Person.

Aggression ist also nicht nur das Ausleben von Wut, Haß und Angst, sondern auch eine Reaktion auf Bedrohung, ob nun berechtigt oder nicht. Aggression kann sehr bewußt und kontrolliert eingesetzt werden und muß nicht zwangsläufig blinde und unkontrollierte Aggression sein. Fromm verurteilt daher die umgangssprachliche Verwendung des Aggressionsbegriffs, weil sie zu fragwürdigen Schlußfolgerungen führt: Weil die biologisch notwendige Aggression angeboren ist und weil Destruktivität und Grausamkeit Aggressionen sind, müssen Destruktivität und Grausamkeit ebenfalls angeboren sein.

Fromm unterscheidet zwei grundsätzliche Formen der menschlichen Aggression:

1. Die Aggressionsart, die der Mensch mit allen Tieren gemeinsam hat, ist die der impulsiven Reaktion auf Bedrohung lebenswichtiger Interessen: Flucht oder Angriff. Es ist eine defensive Aggression, die dem Überleben dient und aufhört, sobald die Bedrohung verschwunden ist.

2. Die bösartige Aggression, die man auch als Destruktivität und Grausamkeit bezeichnet, gibt es mit wenigen Ausnahmen nur beim Menschen. Sie dient keinem erkennbaren Zweck. Am wichtigsten jedoch: diese Aggressionsart wird von den Betroffenen als lustvoll erlebt.

Wenn man einen durchschnittlichen Bewohner einer modernen Zivilgesellschaft darüber befragt, ob er die Zivilisation für eine sinnvolle Einrichtung halte, wird man in der Regel ein ausdrückliches JA hören. Als Gründe für diese Einschätzung werden dann die angeblichen Grausamkeiten früherer barbarischer Horden und/oder die gefürchtete Grausamkeit des Lebens in der Natur, in der man von wilden Tieren gefressen werden kann, angeführt. Der gewöhnliche Mensch hält die Zivilisation für einen Garant von Frieden und Wohlstand, ohne wirklich einmal darüber nachzudenken, ob das denn auch tatsächlich zuträfe. In Wirklichkeit läßt sich nämlich ein Trend in der Entwicklung aller größeren menschlichen Zivil-Gesellschaften erkennen, der genau das Gegenteil belegt: Der Grad der Destruktivität wächst mit der fortschreitenden Entwicklung einer Gesellschaft ständig. Woran mag das wohl liegen?