18. Januar 2008
Lernen und Strafe
Die fragwürdige Notwendigkeit des Über-Ich

Wenn ein Kind einen glühenden Ofen anfaßt und sich verbrennt, macht es eine Erfahrung, aus der es lernt, glühende Gegenstände nicht anzufassen, weil das mit Schmerz verbunden ist. Wird dem Kind aber, bevor es diese Erfahrung selbst machen kann, eindringlich gesagt: "Faß das ja nicht an!" und es faßt den heißen Ofen dann doch an, wird es aller Wahrscheinlichkeit nach den Schmerz als Strafe für seinen Ungehorsam auffassen und nicht als Kausalwirkung wie im ersten Fall.

Faßt das Kind den Ofen deshalb nicht an, weil es die Ich-Leistung der entsprechenden Erfahrung bereits machen durfte, handelt es eigenständig und selbstbewußt und ist womöglich stolz auf die mutige Tat, die eine so wichtige Erfahrung nach sich zog. Faßt es dagegen den Ofen nicht an, weil man es ihm verboten hatte, handelt es aus Angst vor Strafe, mit anderen Worten: durch das Über-Ich. Diese Handlungsweise erlaubt keine eindeutige Verknüpfung zwischen dem heißen Ofen und dem Schmerz durch Verbrennung, denn es schiebt sich das Verbot der Eltern und die Angst vor Strafe zwischen diese Erkenntnis.

Selbstverständlich stellt dieses kleine Beispiel keine Aufforderung dar, Kindern nicht mehr zu erzählen, wie sich gewisse Dinge zueinander verhalten – wenn sie danach fragen. Knifflig wird die Sache aber dadurch, daß Kinder, ohne es zu wissen, in einer Ecke ihres Bewußtseins – ebenso wie Erwachsene in einer meist viel kleineren Ecke – immer irgendwie mitbekommen, ob eine Sache der Information wegen erzählt wird oder um die Position des Sprechers zu stärken. Sie erspüren geradezu, was der heimliche Hintergrund des Gesagten ist. Sie können und dürfen aber nicht darüber reden, daß sie irgendwie bemerken, ob Stärkere ihre Überlegenheit dazu ausnutzen, diese Stärke gegenüber den Kindern zu festigen, oder ob man ihnen wirklich nur eine Information mitteilt. Informationen kann man von Stärkeren und Schwächeren annehmen. Stärke (Gewalt) sollte man dagegen niemals achten, sondern fürchten und – verachten.

Wundersamerweise führt dem Kind gegenwärtige Gewalt bzw. die ständig im Raum stehende unausgesprochene Drohung mit Gewalt (= Angst vor Strafe = "Damoklesschwert der Kindheit") nicht zu Verachtung und Angst, sondern zu Achtung, am Ende sogar zu Identifikation mit dem Bedroher. Identifikation mit einem anderen bedeutet aber Ichverlust. Anstelle des Ich tritt das Über-Ich, die verinnerlichten Ge- und Verbote der Eltern. Und was zuvor Ich war oder hätte werden sollen, wird zu einem diffusen Es, mit dem ich nichts zu tun haben möchte, das nicht ich bin, das irgendwas ist, das fremd wirkt, beängstigend und abstoßend, ekelhaft, bähh. Das eigentlich Fremde aber, das von außen Eingedrungene, wird durch die Identifikation nicht mehr als fremd empfunden, sondern als vollwertiger Ersatz für das ursprüngliche Ich, das sich noch im Werden befand, angenommen.

Die Identifikation selbst ist eine Notlösung, die so gut wie immer der viel unangenehmeren Alternative, nämlich fehlende Liebe und unzureichendes Verständnis der Eltern zu realisieren, vorgezogen wird. Mangelhafte oder fehlende Zuwendung während der Entwicklung zum Erwachsenen fällt unter den Begriff der Deprivation. Damit bezeichnet man "allgemein den Zustand der Entbehrung, eines Entzuges oder der Isolation von etwas Vertrautem, eines Verlustes, eines Mangels oder das Gefühl einer (sozialen) Benachteiligung".

Resultat einer solchen traditionellen Erziehung ist ein Mensch, der eigene Wünsche, soweit sie den Ge- und Verboten des Über-Ich widersprechen, nicht mehr oder nur noch sehr verschwommen wahrnimmt, vor allem aber verbunden mit der ständigen Angst vor ihrer Erfüllung oder vor den dazu notwendigen Handlungen. Seine Verhaltensmuster ruhen nicht durchgängig auf Erfahrungen in Form eigenständiger Ichleistungen, sondern sind in weiten Teilen von der – beim Erwachsenen größtenteils unbewußt gewordenen (verdrängten) – Angst vor Strafe bestimmt. Um sich aber diese eigentlich beschämende Angst vor Strafe nicht ständig eingestehen zu müssen, lernt schon der Jugendliche das, was die Psychoanalyse mit dem Ausdruck "Rationalisierungen" bezeichnet: Analog zu einem Menschen, der, nachdem er einen unter Hypnose erteilten Befehl ausgeführt, auf die Frage, warum er das tue, eine rational klingende Antwort geben wird, "erklärt" sich der Durchschnittsmensch seine vom Über-Ich gesteuerten Handlungsweisen als vollkommen "logisch" zurecht. An die Stelle des Bewußtseins von der Angst vor Strafe tritt also die Rationalisierung, wie zuvor schon das Über-Ich, die verinnerlichten Gebote der Eltern, die Stelle des Ich eingenommen haben. Läßt man als neugierig Fragender nicht locker und hinterfragt diese "logischen" Begründungen eines überich-gesteuerten Menschen, weckt das nicht selten die verdrängte Angst vor der dahinterstehenden Wahrheit und führt dann mit sehr großer Wahrscheinlichkeit zu einem oder mehreren der zahlreichen Ausdrücke menschlicher Verärgerung.

In seinem Aufsatz über "die Frage der Laienanalyse" (Ges. Werke Bd. XIV) schrieb Freud den wenig bekannten Satz: "Im gesunden Zustand sind Es und Ich nicht zu unterscheiden." Dieser Satz stellt den eigentlichen Kern der von Freud entwickelten Psychoanalyse dar. Er impliziert nämlich, wenn man ihn weiterdenkt, daß der gesunde Mensch keine eigentlichen Verdrängungen nötig hat und daher über seinen gesamten psychischen Bestand frei verfügen kann. Das Ziel der Psychoanalyse ist demnach das, was Freud in den "Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse" (Ges. Werke Bd. XI) schreibt: "Wo Es war, soll Ich werden." Wir hätten hier den Menschen, dessen Unterwürfigkeit gegen Null tendierte, dessen Kreativität und Phantasie sich entfalten dürften, der Argumente und Arbeit achtet und Gewalt verabscheut und der, weil er sich selbst lieben kann und darf, auch seine Mitmenschen lieben kann.