24. Mai 2006
Der Staat ist zu fett?
Nein! Jene, die sich am Staate mästen, sind zu fett!

Die Angewohnheit breiter Unternehmerschichten, Risiken zu sozialisieren und Gewinne zu individualisieren, führt eine Gesellschaft ins Abseits. Sie favorisiert den Faktor Geld derart, daß sie den Faktor Mensch aus den Augen verliert und so zur kalten, herzlosen Ellenbogengesellschaft wird. Wollen wir das?

Wie alle, die noch selber zu denken in der Lage sind, bemerkt haben, füllen ...

... weder die Kassen des Bundeshaushalts noch führen sie zu mehr Beschäftigung. Im Gegenteil: sie schwächen die Kaufkraft großer Bevölkerungsteile weiter und führen dazu, daß die Nachfrage innerhalb unseres Landes (Binnenmarkt) noch weiter einbricht. Auf diese Weise gehen weitere Arbeitsplätze, welche die Binnennachfrage bedienen, verloren, was wiederum zu Mehrausgaben des Staates führt und so alle Sparversuche des Staates zunichte macht.

In der Vergangenheit wurden sehr viele Fehler von Managern und Führungseliten begangen, die uns heute teuer zu stehen kommen, weil jene Gruppe von Leuten, die sich mit großem Abstand zur Masse als elitär empfindet, die Folgen ihres Handelns stets jener von ihnen verachteten Masse zuschiebt, während sie die Profite ihres Handelns für sich allein beansprucht.

Beim Strafprozeß gegen Manager der ehemaligen Mannesmann-AG reagierte die Bevölkerung empört über die Höhe der Zahlungen, mit denen Vorstände und Aufsichtsräte sich aus der Wertschöpfung eines Unternehmens selbst bedienen und sich im Zuge einer feindlichen Übernahme des Unternehmens auch noch fürstliche Abfindungen zuweisen. Der schier unvorstellbare Abstand zwischen ihren eigenen Bezügen und denen der Manager, der im Prozeß offenbar wurde, wird gemeinhin als unfaßbar empfunden – als skandalös und als Ausdruck einer räuberischen Schmarotzermentalität. Die Mehrheit verurteilt das Verhalten einer Wirtschaftselite, die gleichzeitig die Regierung dazu treibt, Sozialausgaben zu kürzen, während sie selbst den Hals nicht vollkriegt, als raffgierig, maß- und stillos.

Diese Gerichtsverhandlung war quasi ein Nachbeben jener Erschütterungen der US-Aktienmärkte am Ende des vergangenen Jahrhunderts. Ausgelöst wurde dieses Beben durch Buchhaltungstricks von Finanzkonzernen – namhafte US-Unternehmen hatten im großen Stil Verluste als Gewinne ausgewiesen und dadurch sog. "spekulative Blasen" erzeugt, die einen Börsenboom hervorriefen. Dabei bedienten sie sich auswärtiger Briefkastenfirmen und renommierter Wirtschaftsprüfungsunternehmen als Komplizen. Der Einbruch der Aktienkurse von ENRON und WORLDCOM hat nach dem Bekanntwerden der Betrügereien im großen Stil ein Börsenkapital von 30 Milliarden Dollar und ein Aktienkapital von 150 Milliarden Dollar vernichtet.

Auch Ende der 90er platzte eine solche spekulative Blase: Innerhalb von drei Jahren wurden so Börsen- und Aktienwerte von 700 Milliarden Euro vernichtet! Die Gruppe der spekulierenden Wirtschaftseliten beweisen ständig aufs Neue, daß hohe Profiterwartungen ihren Blick nachhaltig trüben – wir erinnern uns alle nur allzu gut an die Pleiten von TOLL COLLECT, die Fehleinschätzungen des NEUEN MARKTES, der NEW ECONOMY, von E-COMMERCE und UMTS. Die unnötig kostspieligen, allein nach modischen Erwägungen eingeleiteten Fusionen – die übrigens vom Bundeskartellamt größtenteils abgelehnt, von der Bundesregierung aber genehmigt wurden – haben nicht unerheblich zur Massenarbeitslosigkeit beigetragen. Die Versicherungskonzerne verkalkulierten sich schwer bei den Renditen der Lebensversicherungen, die Medienbosse schätzten den Profit von Pay-TV und Digitalisierung viel zu hoch ein – "Meisterstücke nüchterner Markteinschätzung" am laufenden Band. Und diese "Meister" fordern nun den nüchternen Verbraucher und Arbeitnehmer, der ebenso wie sie allen Lebensrisiken gewachsen ist, wenn man ihn nur läßt und dadurch anspornt, daß man ihn nicht durch staatliche Bevormundung (sprich: soziales Netz) gängelt, indem man ihm die sozialen Leistungen radikal kürzt:

Die Agenda 2010 fordert einen neuen Menschen

Nimmt man die Forderungen, die mit der Agenda 2010 verbunden sind, vollkommen ernst, so ergibt sich daraus ein absonderliches Zerrbild heute existierender Menschen. Der Agenda-Mensch ist ein Athlet im globalen Wettkampf, immer auf dem Sprung, jeden noch so kleinen Vorteil zu ergattern, der sich ihm bietet, ein souveränes Wirtschaftssubjekt, das bestens um seinen Marktwert bescheid weiß, sein Leistungsvermögen nüchtern beurteilt und die Marktrisiken realistisch abschätzt. Er verfügt über Kompetenzen, die durch ökonomische Anreize und öffentlichen Druck mobilisiert werden. Der moderne homo agendais wird zum gesellschaftlich entkoppelten Einzelkämpfer, hochgradig flexibel mit einem unstillbaren Drang nach Individualisierung, der keinen emotionalen Ballast mit sich herumschleppt und der seine Biographie und seine Rollen zu einem variablen Identitätsbündel verknüpft, wie es der Markt gerade erfordert. Der Agenda-Mensch ist selbstorganisiert, reagiert schnell und treffsicher auf situative Veränderungen, erkennt blitzartig seinen Vorteil und ergreift ihn ohne Zögern. Der Agenda-Mensch benötigt keine Solidarität, weil er sich stets gegen die Risiken des Lebens abzusichern weiß. Er ist ein robuster, kerngesunder, gegen Krankheiten immuner Erfolgsmensch, der genau weiß ...

Aldous Huxley und George Orwell lassen grüßen ...

Unsere Eliten, die Filzmeister

Bei der Debatte um die Verträge für die großen Beratungsunternehmen wurde plötzlich sichtbar: Da fließen erstaunlich große Summen, ohne daß klar wird, wofür. Nach meinem Eindruck fungieren die Beratungsfirmen, kombiniert mit den PR-Agenturen und einigen Spitzenmedien, als eine Art Clearing- und Förderstelle für die jeweiligen Eliten. Sie schieben sich gegenseitig in die Verantwortung, in die Kommissionen und die lukrativen Jobs und sorgen so gemeinsam dafür, daß der Glaube an ihren Glauben erhalten bleibt. Obendrein dürfen die Steuerzahler dieses Räderwerk mit Steuergeldern schmieren. Wenn es diesen bundesdeutschen Klüngel der sich gegenseitig bestätigenden Eliten nicht gäbe, dann würde schneller erkennbar, wie dünn viele der Vorstellungen und Konzepte der Eliten sind.

aus: Albrecht Müller, "Die Reformlüge", Seite 287

Die Deutschen – Volk ohne Zivilcourage?
– oder – Die Wiederentdeckung des aufrechten Gangs

Auf den Plakaten der Demonstrationen in Magedburg und Leipzig stand zu lesen: "Weg mit Hartz IV. Wir sind das Volk" – "Bis 1989 nahm man uns die Freiheit, jetzt die Menschenwürde". Sie entsprechen der aktuellen Erfahrung, daß mit der Anerkennung bürgerlicher Freiheitsrechte die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Anspruchsrechte des sozialen Rechtsstaats noch nicht für alle eingelöst sind. Müssen wir, die wir im sog. prekären Wohlstand leben, das hinnehmen? Haben wir schon dermaßen resigniert, daß wir uns selbst als schuldig empfinden für Versäumnisse und Fehler, die andere begangen haben?

Die Initiatoren und Träger der Proteste in Ostdeutschland waren nicht Gewerkschaften oder Parteien, sondern von Hartz-IV betroffene Einzelmenschen. Bislang ist diese Bewegung aber nur in sehr geringem Umfang auf die westdeutschen Betroffenen übergeschwappt. Im Gegenteil erlebten viele Westdeutsche den Protest im Osten als Ausdruck einer von den Ossis "nur" subjektiv empfundenen Deklassierung, ihres Neides auf den westlichen Wohlstand, als sachlich unbegründete Wutausbrüche. Westdeutsche unterstellen den Ostdeutschen ein parasitäres Verhältnis zum Staat, weil diese sich daran gewöhnt hätten, komfortable Sozialleistungen abzugreifen. Dieselbe Unterstellung geht von den bundesdeutschen Eliten an die Adresse der sozial Schwachen, der Arbeitslosen und Sozialhilfe-Empfänger. Doch inzwischen zeichnet sich überdeutlich ab, daß auch im Westen Deutschlands mehr und mehr Menschen betroffen sind von drohender Verarmung und Verelendung. Bereits heute herrschen in einigen Städten des Ruhrgebiets "ostdeutsche" Verhältnisse.

Noch immer aber herrscht im Westen ein Meinungsklima vor, das die Ursachen der Massenarbeitslosigkeit auf ein ominöses Fehlverhalten der Arbeitslosen verschiebt. Dabei bestimmen größtenteils die auf den Einzelfall bezogenen Maßnahmen der Arbeitsagentur die Selbstdeutung der Opfer, die sich selbst zu Tätern der eigenen Lebenskrise zu stempeln gezwungen sehen. Gegen eine scheinbare Mehrheit von Wirtschaftswissenschaftlern, Sachverständigen, Unternehmern und Managern – die in Wirklichkeit eine Minderheit darstellen und den Eindruck der Mehrheit lediglich durch ihre dominante Medienpräsenz erzielen – fühlt sich der einzelne Betroffene macht- und hilflos. Ihm fehlt es an der entsprechenden Urteilsfähigkeit, um die Behauptungen und "Beweise" der neoliberalen Elite zu widerlegen, denn das von den Schulen vermittelte monetäre und ökonomische Wissen ist unzureichend und zu einseitig, um Verständnis für die tatsächlichen Zusammenhänge zu bewirken. Da ist es kein Wunder, daß die "Bürgerkonvente", politischen Werbeagenturen und "Bürgerinitiativen", allen voran die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, die mit unerschöpflichen Finanzmitteln aus den Kassen der Arbeitgeberverbände ausgestattet sind, konkurrenzlos ihre eigenen Vorstellungen von ökonomischen und volkswirtschaftlichen Zusammenhängen den Menschen auf- und einprägen können.

Die für die Agenda 2010 politisch Verantwortlichen sind davon überzeugt, daß man zwischen guten und verdächtigen Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern unterscheiden müsse. Die letzteren seien durch Leistungskürzungen zu disziplinieren und zur Aufnahme von regulären Arbeiten zu nötigen (Zwangsarbeit). Aber auch zwei Drittel der Bevölkerung sind noch immer der (unbegründeten) Meinung, daß die überwiegende Mehrheit der Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger zwar arbeitsfähig, aber nicht arbeitswillig seien. Diese Überzeugung reicht weit in das Milieu der Facharbeiter hinein, dem ein unbefristetes Arbeitsverhältnis und ein stabiles Einkommen sicher zu sein scheint.

Nach den Worten des ehemaligen Bundeskanzlers Schröder gibt es keine Alternative zur Agenda 2010:

Ein zwanghaftes politisches Verhalten, wie es diese obskure Rechtfertigung scheinbar fehlender Alternativen darstellt, ist keine politische Entscheidung. Da werden Naturgesetzlichkeiten ähnliche Sachzwänge heraufbeschworen, die dem Politiker die Verantwortung für sein Handeln abnehmen sollen. Wenig bekannt ist auch die Tatsache, daß Schröder mit dieser angeblichen Alternativlosigkeit schlicht die Worte der "Eisernen Lady" Thatcher wiederkäut.

Nichts ist der Vorsätzlichkeit so ähnlich, wie die Logik der Tatsachen. ...
Die Demokratie ... sie beruht nur auf der Zahl und hat als Maske den Namen des Volkes
. (Pierre Joseph Proudhon)

Das Grundprinzip der Demokratie ist die Auffassung, daß die allen Menschen gemeinsamen Wesenszüge, Bedürfnisse und Interessen Vorrang haben vor denen einzelner Organisationen, Institutionen oder Gruppen. (Lewis Mumford: "Mythos der Maschine", Seite 271)

Wenn nicht im Hintergrund jener sozialen Typen der Gleichheitsbegriff der Person stünde, so fehlte es an dem Generalnenner, ohne den eine Vergleichung und Ausgleichung, ohne den Erwägungen der Gerechtigkeit, ohne den Privatrecht und vielleicht überhaupt Recht nicht denkbar wären. (Gustav Radbruch, "Rechtsphilosophie", Seite 226)

Da alle Gesetze nur allgemeine Prinzipien niederlegen, müssen sie ausgelegt werden. In diesen Auslegungen wird aber weniger das Gesetz den Menschen angepaßt, sondern die Menschen im Sinne des Gesetzes interpretiert. Wo wir aber das Problem der Individualisierung nicht beachten, indentifizieren wir Recht und Gesetz, also Legitimität und Legalität, wodurch eine Legitimation überflüssig wird. Sokrates verweigerte deshalb seinen Richtern jegliche objektive Bestimmung seines Lebens. Niemand kann von einer Person sprechen, ohne wirkliche Einfühlung und Verständnis dieser Person. Jeder Fall ist singulär. Der Begriff der juristischen Person ist eine erfundene Konstruktion. Ein Legalist versteht von den Menschen nur so viel, wie er für die Rechtsprechung braucht. Es gibt aber kein objektives, das heißt von den besonderen Umständen unabhängiges Gesetz, weil es keinen objektiven Menschen gibt. Verschiedene Rechtsnormen existieren in verschiedenen Ländern, weil es mehrere irreduzible, also nicht mehr weiter rückführbare Grundnormen gibt. Der Geist der Gesetze ist überall verschieden.

(Laurent Verycken, "Formen der Wirklichkeit", Kapitel "Recht")

Wir sollten uns von diesen vielen Prokrustesbetten, in die man uns unser ganzes Leben einzuzwängen sucht, nicht einschüchtern lassen. Wir müssen uns auf unser Menschsein, auf unsere Menschenwürde und unser Lebensrecht besinnen. Wir dürfen uns nicht von den ideologischen Zwängen, die uns eine abgehobene Elite auferlegen möchte, beeindrucken lassen. Ich weiß, daß sehr vielen Mitbürgern die Richtung, in die sich unsere Gesellschaft entwickelt, mächtig stinkt. Ich weiß auch um die weitverbreiteten Gefühle der Macht- und Hilflosigkeit, die uns hemmen und resignieren lassen. Und genau an diesem Punkt können wir angreifen. Wir müssen uns solidarisieren, andernfalls sind wir verloren. Die noch Arbeit haben, müssen begreifen, daß sie in der selben Gefahr schweben wie die bereits Arbeitslosen.