3. Juni 2006
Sozialabbau = Demokratieabbau
Der Demokratiebegriff und seine Implikationen

Im Begriff der Demokratie steckt nicht nur der Hinweis auf die Ausübung der Herrschaft durch das Volk. Er impliziert auch Gemeinsamkeit – ein menschliches Miteineinder, das auf Achtung vor dem Leben und auf gegenseitiger Solidarität beruht. – Krisen bieten Chancen, die derzeit nur von den Neofeudalen für ihre egoistischen und engstirnigen Ziele genutzt werden. Weshalb nutzen wir die Krise nicht für unsere weiten Ziele, die Ziele der solidarischen Mehrheit?

Die zunehmende Privatisierung lebenswichtiger Elemente des Sozialstaats belastet ausgerechnet jene Menschen am meisten – die Mehrheit –, die (noch) weitgehend solidarisch leben. Die aus der Solidarität der sozialen Sicherungssysteme ebenso wie aus der gewerkschaftlichen Organisation erwachsene Macht, sich gegen willkürliche Vereinnahmungs-Forderungen des Kapitals zur Wehr setzen zu können, soll nun also zerschlagen werden? Warum lassen wir uns das gefallen? Hat man uns mittels trommelfeuerartiger Propaganda bereits so weichgeklopft? Lassen wir uns durch diese Propaganda jetzt alle gegeneinander aufhetzen, auf daß das alte teile und herrsche wieder einmal seine Wirksamkeit beweise?

Bei Arbeitsplatzbesitzern wird Neid und Mißgunst geschürt gegen Arbeitslose. Weshalb ist die noch arbeitende Bevölkerung so empfänglich dafür? Zumindest diese Frage ist leicht zu beantworten: Weil sie hier ein Ventil geboten bekommt, um die durch ihren eigenen Unmut entstandene Spannung zu entladen. Ein Unmut, der selten ausgesprochen, meist hinuntergeschluckt wird: über miserable Arbeitsbedingungen wie schlechtes Betriebsklima, fehlende Anerkennung oder tödliche Monotonie, über wachsende finanzielle Belastung, über mangelnde Zukunftsaussichten, über vielfache Zwänge und die damit einhergehende Entfremdung von sich selbst u.v.a.

Ändert diese mediengesteuerte Haßkampagne etwas an der gesamtdeutschen Situation? Nein. Sie schafft keine Arbeitsplätze, auch wenn durch immer mal wieder geschönte Zahlen dieser Eindruck entsehen soll. Sie lenkt lediglich ab von dem, was im Hintergrund läuft.

Sozialpolitik rechne sich nicht mehr, heißt es an allen Ecken, sie sei überflüssiger Ballast, unbezahlbar und ein Relikt des letzten Jahrhunderts. Viele wissen leider nicht, daß das Kapital schon immer so oder ähnlich argumentiert hat, und halten diese Propaganda, die sie täglich über die gleichgeschalteten Medien empfangen, für bahnbrechende Neuigkeiten. Doch hat das Kapital schon immer regelrecht gejammert über zu teure Sozialleistungen – seit zum erstenmal von einem sozialen Staat die Rede war (durch Lorenz von Stein 1854). Auf einer 1929 stattgefundenen Tagung der Gesellschaft für Sozialreform hatte Adolf von Bülow (Major a.D.) einen Vortrag gehalten, der durchaus von heute sein könnte:

Die sozialen Aufwendungen sind jetzt auf einer Höhe angelangt, die die Wirtschaft auf Dauer in diesem Umfang nicht tragen kann. Aller Voraussicht nach werden die Leistungsanforderungen ständig weiter wachsen, während die Einnahmen einen Stillstand, teilweise ein Absinken zeigen. Grundlegende Reformen sind daher nötig. Die Lage der Finanzen der öffentlichen Haushalte dürfte eher einen erheblichen Abbau der von diesen bisher bezahlten Zuschüsse erfordern als eine weitere Erhöhung oder Vermehrung gestatten. Will man die Sozialversicherung im weitesten Sinn auf die Dauer für ihren wahren Zweck erhalten, muß man sich entschließen, schnell mit kräftiger Hand an eine durchgehende Reform der Leistungen zu gehen, mit dem Ziele, den wirklich Bedürftigen und Notleidenden auch weiterhin in ausreichendem Maße zu helfen. Dagegen darf man sich nicht scheuen, alles nicht unbedingt Erforderliche, selbst wenn es wünschenswert sein mag, rücksichtslos zu streichen.

Auch heute will das Kapital der Marktwirtschaft wieder das Soziale austreiben. Der moderne Kapitalist kennt keine Skrupel mehr. Oskar Negt, ein namhafter deutscher Sozialphilosoph, meint gar, daß der Kapitalismus erstmals in seiner Geschichte genau so funktioniere, wie Marx ihn in seinem KAPITAL beschrieben hatte: Die Gesellschaft wird zum reinen Anhängsel des Marktes, das Soziale wird zu den Unkosten gezählt, die nichts einbringen und daher zu eliminieren sind. Der Verstand des Kapitaleigners taugt nur noch für eine Sache: für die Vertriebswirtschaftlichung der Gesellschaft. Soziales versteht ein solcher Verstand, der Erfolg nur noch am Aktienindex abliest, gar nicht mehr.

Wer kennt nicht die Geschichte von Midas, dem phrygischen König, dem alles, was er anfaßte, zu Gold wurde? Diese Fähigkeit wurde Midas beinahe zum Verhängnis: er lief Gefahr zu verhungern und zu verdursten, denn sogar das Wasser, das er zu trinken versuchte, verwandelte sich in Gold. So mußte Midas sich hilfesuchend an den Gott Dionysos wenden, dem er diese Gabe einst abgetrickst hatte und der ihn wieder davon befreite.

Wie Midas ergeht es heute den neoliberalen Kapitaleignern. Sie berauschen sich regelrecht daran, alles zu Geld zu machen, was sie in die Finger kriegen können. Alles soll privatisiert und dem Mammon Profit zugänglich gemacht werden: die Wasserversorgung, das Bildungswesen, die Gene von Pflanzen, Tieren und Menschen. Die Erkenntnis, auch am eigenen Erfolg krepieren zu können, hat sich jedoch bei den Neoliberalen – die ich seit einiger Zeit vorzugsweise Neofeudale nenne – noch nicht eingestellt. Im Unterschied zur Midas-Geschichte krepieren jedoch erstmal andere an dieser Uneinsichtigkeit.

Arbeitslosigkeit wird von den meisten Betroffenen als schwere Mißhandlung empfunden, als Vergiftung von Leib und Seele, als Körperverletzung. Sie läßt den Menschen verkümmern, indem sie ihm all seine Fähigkeiten raubt, die er sich in Familie, Schul- und Ausbildung erworben hat. Für die Neofeudalen stellt Massenarbeitslosigkeit nur ein mathematisch-volkswirtschaftliches Problem dar. In Wirklichkeit jedoch zerstört sie Leistungspotentiale und Qualifikationen. Eine Generation der Massenarbeitslosigkeit genügt, um wesentliche Kulturmerkmale zu Auslaufmodellen zu degradieren: sie werden nicht mehr reproduziert, weil sie nicht mehr an die nächste Generation weitergegeben werden können. Die von Arbeitslosigkeit und relativer Armut Betroffenen haben ganz andere Sorgen, stehen im reinen Überlebenskampf, fühlen sich ausgegrenzt und verloren. Der Arbeitslose verliert mit der Arbeit nicht nur Einkommen, sondern auch das stützende Korsett aus Pflichten und Routine, den gewohnten Rhythmus zwischen Arbeit und Feierabend, Arbeits- und Feiertag, Arbeit und Urlaub, aber auch die Anerkennung seines bisherigen sozialen Umfeldes. Die Folgen sind nachhaltiges Zerbrechen sozialer Strukturen und zunehmende Selbstzweifel – und das beileibe nicht nur bei den direkt Betroffenen, sondern fast noch schlimmer bei deren Kindern.

Im Kleinen wurde ein solcher Niedergang bereits 1930 in Marienthal, einem österreichischen Provinznest, untersucht. Marie Johda und Paul Lazarsfeld untersuchten dort die Folgen der Schließung des einzigen lokalen Betriebs. Die Forscher sprachen von einem sichtbaren Schrumpfen der Lebensäußerungen. Aus dem Dorf wurde eine vollständig resignierte Gesellschaft. Ein Resultat ihrer Studie bestand in einer Gleichung, die heute nicht berücksichtigt wird:

Verschlechtert sich das Einkommen massiv, dann ändert sich parallel zum schwindenden Geld die seelische Verfassung der Menschen. Die Arbeitslosenunterstützung betrug damals in Österreich durchschnittlich ein Viertel des Gehalts, und sie wurde maximal dreißig Wochen bezahlt. Mit dem Geld verschwand die Gesundheit der Kinder, sie resignierten mit ihren Eltern, sie hatten Angst vor der Zukunft. Es ergab sich ein direkter Zusammenhang zwischen der Höhe der Arbeitslosenunterstützung und dem psychischen Zustand der Familien: Zwischen der Kategorie "ungebrochen", also optimistisch, Pläne für die Zukunft schmiedend, und "apathisch", also verwahrlost, teilnahmslos, lagen damals gerade 15 Schilling. (aus: Heribert Prantl, Kein schöner Land)

Die arbeitenden und erst recht die arbeitslosen Menschen sind durch die Massenarbeitslosigkeit tatsächlich kleinlaut geworden. Sie verlieren täglich ein wenig mehr an Stolz und Selbstachtung, werden zunehmend willfähriger und unterwürfiger. Einzig jene, denen durch diese Krise keine Gefahr zu drohen scheint, die sich oben schwimmend, unangreifbar und beinahe schon unsterblich wähnen, reißen das Maul auf und nehmen in Anspruch, Lösungen zu wissen – und das seit nunmehr 20 Jahren! Wer glaubt diesen Maulhelden noch? Wer glaubt noch den durch die Bank korrupten Politikern? Wer noch den am Goldrausch erblindeten Kapitaleignern ihre selbstherrlichen Reden? Wer noch ihren Zuarbeitern und eifrig-blinden Nachplapperern?

Die Gewinne der Deutschen Bank stiegen zwischen 1997 und 2001 um 474 Prozent, während gleichzeitig 14.500 Stellen abgebaut wurden. Im Jahr 2003 lag der Gewinn bei gut 1,3 Milliarden Euro; 2004 lag er mit 2,546 Milliarden Euro fast doppelt so hoch, die Rendite des Eigenkapitals wurde auf 17 Prozent gesteigert. Als Josef Ackermann, der Vorstandschef, am 3. Februar 2005 diese Zahlen präsentierte, gab er gleichzeitig einen Abbau von 6400 Arbeitsplätzen bekannt. "Die weitere Steigerung unserer Eigenkapitalrendite ist erforderlich, um spürbare Fortschritte bei unserer Marktkapitalisierung zu erreichen", sagte er.

Ackermann ordnet wie seine zahlreichen Managerkollegen alles dem Ziel steigender Aktienkurse unter. Diese Leute kennen längst keine Skrupel mehr. Wie und warum werden Menschen so? Auch diese Frage ist leicht beantwortet: Die Folgen ihres Tuns sind aus ihren Blickfeldern verschwunden. In den Zeiten, als die Industrialisierung begann, bestand noch ein "persönliches Verhältnis" zwischen Ausbeuter und Ausgebeuteten: der Ausbeuter hatte das Elend, das er hervorrief, vor den eigenen Augen. Das ist heute nicht nur deshalb anders, weil das Elend nicht mehr so elendig aussieht wie anno dunnemals, sondern weil die Folgen der Shareholder-Gier sich dem Aktionär überhaupt nicht mehr als Elend präsentieren. Er sieht die Auswirkungen seines Tuns schlicht nicht mehr. Die Verantwortung zerstreut sich in tausende Kleinstpartikel, die man Aktien nennt, und wird so nicht mehr individuell spürbar. Shareholder sehen Aktiengesellschaften heute weitgehend als Gelddruckmaschine. Deshalb sind sie an langfristigen Entwicklungen nicht interessiert. Die schädlichen Folgen ihrer Gier rücken in weite Ferne.

Es gibt durchaus Parallelentwicklungen zu dieser Blindheit: Die modernen Waffensysteme machen das Töten leichter, weil der Bomberpilot nicht mehr sieht, was er zerbombt, nicht die blutenden Leichenteile, nicht das Leid und den Schmerz wahrnimmt, den er soeben unter tausenden weit unter ihm lebenden Menschen angerichtet hat. Zwischen Täter und Opfer tritt also eine den Täter schützende Distanz, die Tat des Täters erscheint letzterem harmlos, weil es diese Distanz ist, die ihm das Verdrängen seiner Tat erleichtert. Ebenso erklärt sich die fehlende Betroffenheit weiter Bevölkerungsteile, insbesondere der Wohlhabenden.

Auch die Entsolidarisierung läßt sich psychologisch einfach aufschlüsseln: Die Verachtung, die den Arbeitslosen und Sozialhilfe-Empfängern von der arbeitenden Bevölkerung entgegengebracht wird, kaschiert die Angst der letzteren davor, selbst in eine solche Situation zu geraten. Diese pragmatische Verachtung, ja regelrechte Ächtung einer Noch-Minderheit von Beschäftigungslosen verleiht kurzfristig Antrieb und vertreibt ebenso kurzfristig die lähmende Angst davor, sich einmal selbst verachten zu müssen. Wer arbeitslos ist, gilt beim Großteil der Beschäftigten als Versager. Es beruhigt sie ungemein, wenn sie sich auf diese Weise einreden, sie hätten ihr Schicksal selbst in der Hand, sie wären in Arbeit, weil sie es verdient hätten.