11. Dezember 2005
Das Wort zum Sonntag
Über Schimpfwörter, Beschimpfte und Schimpfer

Leicht Beschauliches für Besserwisser und alle, die schon immer einer werden wollten

In zahlreichen Internetforen werden sehr häufig Schimpfwörter verwendet, bei deren Verwendung vermutlich nur ein Bruchteil der so ihre Empörung und ihren Schmerz Artikulierenden sich bewußt ist, was diese Begriffe einst und was sie heute bedeuten. Diese blinde und impulsive Verwenden von Schimpfworten kommt dem Zweck dieses Wort-Genres sehr entgegen, geht es doch auf diesem tiefen Niveau gar nicht mehr darum, etwas zu vermitteln, sondern einzig um eine ganz bestimmte Reaktion, die man beim Empfänger auslösen möchte. Teilweise werden beim Gebrauch von Schimpfworten Erwartungen, die mit der Verwendung dieses Schimpfwortes verknüpft sind, offenbart. So möchten manche den Empfänger der "Botschaft" damit aus der Reserve locken und ihn auf diese Weise zu sich herunterholen, weil sie sonst fürchten, einen steifen Hals zu bekommen vom ständigen Hinaufschrei(b)en – oder weil sie sich schlicht zurückgesetzt fühlen und dabei einen vorrübergehenden Schub irrationaler Selbstzweifel erfahren. Doch egal wie der Empfänger darauf reagiert – er ist dabei immer der Dumme: geht er drauf ein und schimpft zurück, so zeigt er nach Urteil des Publikums niedere Gesinnung, bleibt er enthaltsam, wirft man ihm vor, er hielte sich wohl für etwas Besseres oder könne es sich nicht leisten, auf "Kritik" einzugehen. Andere wiederum folgen beim Einsatz eines Schimpfwortes einfach ihren gewohnten Schlag- und Tretimpulsen, und wieder andere sind bereits so frustriert, daß sie gar keine anderen Worte mehr finden können.

Nehmen wir zu Anfang eines der etwas harmloseren "Unwörter": Du Idiot! Tatsächlich haftete diesem Wort früher (vor dem 16. Jahrhundert) keine unbedingte Schande an, ja, es bedeutete soviel wie heute der Begriff des normalen Menschen, der kein Spezialist, kein Fachmann, kein besonders Gebildeter ist (oder sein will). Ursprünglich kam dieses Wort aus dem Griechischen zu uns und bedeutete in seinem Ursprungsland die Einzelperson im Gegensatz zum Staat bzw. den Nichtkenner im Gegensatz zum Sachverständigen. Das Adjektiv dazu lautete ídios und würde übersetzt wohl auf "eigen, privat, eigentümlich" hinauslaufen. Seit dem 18. Jahrhundert wurden mit Idiot (als juristischem Terminus) Personen bezeichnet, die ganz offensichtlich schwachsinnig bzw. nicht im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte waren und deshalb nicht rational denken konnten. Die ursprüngliche Bedeutung von Idiot kommt noch im (ziemlich unbekannten) Idiotismus zum Vorschein, der eine sprachliche Besonderheit kennzeichnet, und im Wort Idiotikon, das für ein Mundart-Wörterbuch steht.

Der Idiot ist ein Gefangener seiner Besonderheit, er kann sich keinen Augenblick lang selbst vergessen. So versteht man unter Fach-Idiotie die Krankheit des Spezialisten, der unfähig ist, die Frosch-Perspektive seines Faches zu überwinden. Die Idiosynkrasie dagegen bezeichnet die Schwäche eines beschränkten Charakters, der nicht über seinen Horizont hinauskann. Nähmen wir uns einmal selbst etwas aufrichtiger als gewöhnlich unter die Lupe, müßten wir unweigerlich erkennen, daß diese letzte Beschreibung auf uns alle irgendwie zutrifft. (Selbstverständlich hat keiner der Leser auch nur die geringste Charakterschwäche aufzuweisen, vom Autor dieses Artikels einmal abgesehen.)

In einer Gesellschaft wie der unseren, in der vor allem rationale Intelligenz und übervorteilende Schlauheit zählen, in der jener, der andere am wirksamsten zu manipulieren weiß, vorne liegt, und andere, die sich nicht dazu überwinden können oder wollen, das Nachsehen haben, wird die Lebensart des ungeübten Denkers bzw. einfachen Menschen meist rein negativ bewertet. Oft könnte man meinen, beim Intellektuellen eine gewisse schlecht verhohlene Angst vor dem Nicht-Intellektuellen zu bemerken, die der Intellektuelle jedoch meist sehr schnell weg rationalisiert, indem er sie schönredet und -denkt. Ja, viele Intellektuelle haben es noch immer nicht erfaßt: Die Ratio ist in erster Linie eine Rechtfertigungsmaschine.

Eine alte Volksweisheit bezeichnet Intellektuelle als Menschen, die über Dinge reden, die sie nicht fühlen. Danach sind Intellektuelle emotional blockierte Menschen, die nur deshalb einen so großen Kopf herangebildet haben, weil sie damit etliche Defizite kompensieren müssen – ganz ähnlich wie das Gehör des Blinden sich mit der Zeit zu unglaublicher Schärfe entwickelt. Und um einem weitverbreiteten Mißverständnis vorzubeugen: Dummheit und Intelligenz sind keine Gegensätze, ja, sie schließen sich nicht einmal gegenseitig aus, wie man noch immer gerne glaubt. Um richtig große und weitreichende Dummheiten zu begehen, muß man schon etwas intelligenter sein als der Durchschnitt.

Doch zurück zum Idioten: Das eigentümliche an ihm ist seine Unfähigkeit, das, was ihm offensichtlich – nach Meinung der angeblichen Nicht-Idioten – fehlt, als Mangel zu empfinden: Der Idiot weiß nicht, daß er ein Idiot ist, er vermißt keine brillante Denk- und Ausdrucksfähigkeit im eigenen Bestand. Schon allein aus diesem Grund scheint es ziemlich idiotisch, einem offensichtlichen Idioten das Schimpfwort Idiot vor den Latz zu knallen: er wird's nicht verstehen, sondern spürt vor allem die Verachtung, die ihm bei diesem Wort entgegengebracht wird. Ebenso schwachsinnig wäre der ernsthafte Versuch, einem Dummen seine Dummheit klarmachen zu wollen. Solche Bemühungen lassen den Bemühten meist noch dümmer aussehen als den Dummen.

Letztlich geht es in Internetforen wie auch bei allen anderen Pseudo-Debatten im Real Life gar nicht darum, Idioten und Dumme zu kennzeichnen, sondern vielmehr um das Anheben der eigenen Bedeutung. Hier wie dort wird berechtigte und fundierte Kritik am Gesagten bzw. Geschriebenen entweder gar nicht oder mit Empörung erwidert. Letztere ist dann oft so heftig, daß es dem Betroffenen die wackelige Vernunft kurzzeitig wegbläst und er nur noch auf Kraftausdrücke zurückgreifen kann, will er nicht wie ein sabbernder hilfloser Idiot dastehen. Echte Diskussionen haben hier wie dort Seltenheitswert, und das keineswegs nur innerhalb niederer gesellschaftlicher Hierarchien. Schaut man sich die "Debatten" im Bundestag an, fühlt man sich unweigerlich an das diese Foren erinnert.

In der Tat haben Verhaltensforscher, die sich mit den Möglichkeiten der Manipulation der menschlichen Kritik- und Verstandesfähigkeit befassen, herausgefunden, daß Menschen, wenn sie emotional aus ihrer Mitte geworfen wurden, für ein paar Sekunden bis zu einigen Minuten lang nicht mehr klar denken können, manche sogar noch weitaus länger. Es macht sich in ihnen eine Art Panik breit, die sofort all ihre Aufmerksamkeit beansprucht. So kann man sich leicht ausmalen, warum auch Menschen, die ansonsten einen recht vernünftigen Eindruck machen, im Ernstfall ausfallend werden können: die Vernunft funktioniert meist nur bei Sonnenschein.