26. Juli 2005
Die Situation der Deutschen
Heraus aus dem Jammertal

Ein Artikel aus Anlaß der regelmäßig stattfindenden Diskussionen darüber, was in Deutschland schief läuft

Wie viele andere bietet auch dieser Artikel nur eine oberflächliche Betrachtung und deutet lediglich an, welche Ursachen hinter den Symptomen stehen. Diese Symptome sind so vielfältig, daß deren wirksamer Zusammenhang einem ungeschulten Beobachter geradezu entgehen muß. Selbstverständlich kann ich mich selbst auch nicht wirklich zu den geschulten Beobachtern weder im Bereich der Politik noch in dem der Soziologie zählen, weil mir viele Dinge, die zum Erkennen der Zusammenhänge notwendig wären, einfach nicht direkt zugänglich sind, sondern größtenteils entweder über die Massenmedien lediglich verzerrt oder eben über entsprechende Literatur aus den Bereichen Soziologie, Psychologie und Gesellschaftskritik. Deshalb steht es mir auch nicht zu, irgend jemanden einen blöden Hund zu nennen, nur weil er weniger Ahnung hat, denn ohne diese Literatur würde ich auch nicht besser bescheid wissen. Das einzige, was man der Mehrheit unserer Mitbürger vielleicht ankreiden könnte, wäre ein mittelschweres Defizit im selbständigen Denken, das sich vor allem daran erkennen läßt, wie leicht sich ein Großteil unserer Gesellschaft mit oberflächlichen Erklärungen zufriedengibt. Ein Resultat selbständigen Denkens besteht unter anderem auch in Handlungen der Neugierde und des lebhaften Interesses, so z.B. auch der Handlung, ein Buch in die Hand zu nehmen und nachzulesen, worüber man bescheid wissen möchte. Jeder Student macht es ganz genau so.

David Riesman, ein amerikanischer Soziologe, wies schon 1956 in seinem Buch "Die einsame Masse" auf die breite Veränderung der Charaktere von innen- zu außengeleiteten Individuen hin. Die Innen-Lenkung löste zuvor die Traditions-Lenkung ab. Als traditions-gelenkt versteht Riesman Menschen zu Zeiten hohen Bevölkerungsumsatzes, was soviel bedeutet, daß die Menschen nicht sehr alt werden, dafür aber enorm viel Nachwuchs zeugen. In diesen Zeiten herrscht nachweislich der traditions-gelenkte Charakter vor. Eine durch Verbesserungen der Lebensumstände ausgelöste Bevölkerungswelle (reduzierte Sterblichkeit, höheres Lebensalter, dadurch Bevölkerungszuwachs) bringt ebenso nachweislich den innen-geleiteten Charakter hervor, der sich dadurch auszeichnet, daß er Werte und Normen, die zuvor von der Tradition vorgegeben waren, früh verinnerlicht hat und sich weitgehend nach dieser, einem eigenen Kreiselkompaß ähnelnden psychischen Instanz richtet. Der innen-geleitete Mensch geht ganz bewußt Risiken ein, um Verbesserungen mannigfaltiger Art zu erreichen. Eine Gesellschaft mit vorwiegend innen-geleiteten Charakteren beruht auf Innen-Lenkung ihrer Mitglieder. Tritt nun nach der beobachteten Gesetzmäßigkeit eine Bevölkerungsschrumpfung ein, formt die sich nun entwickelnde Gesellschaft eine Verhaltenskonformität, die durch die Tendenz, für die Erwartungen und Wünsche anderer empfänglich zu sein, gesichert wird. Diese Menschen bezeichnet Riesman als außen-geleitet, die jeweilige Gesellschaft beruht demnach auf Außen-Lenkung.

Riesman beobachtete diese Entwicklung damals in den USA. Ohne weiteres kann man heute diese bereits ziemlich abgeschlossene Entwicklung auch bei uns hier in Deutschland bemerken: die meisten Menschen hegen zum größten Teil keine empirisch erworbenen Meinungen mehr, sondern konsumieren regelrecht "ihre" Meinungen von den Massenmedien, wie sie ihre Kleidung von der Stange kaufen. Wer keine Zeitung liest und kein TV glotzt, kann heutzutage im allgegenwärtigen "Meinungshandel" nur beim täglichen Gespräch übers Wetter mitreden. Das macht natürlich die Arbeit der Politiker und Verwaltungsbeamten einfacher, weil Menschen mit solchen Tendenzen eben viel leichter zu lenken sind. Riesman zog damals Parellelen zu früheren Gesellschaften wie der der Griechen und Römer, wo nach einer bestimmten demoskopischen Entwicklung (siehe oben) ebenfalls dieser Effekt auftrat.

Diese Ablösung der Innen-Lenkung der Individuen durch die Außen-Lenkung hat weitreichende Konsequenzen, die unter anderem auch darin liegen, daß jeder zuerst auf den anderen schaut, bevor er etwas unternimmt, ja bevor er sich überhaupt entscheidet, wie irgend eine Sache aufzunehmen ist. Außen-Lenkung hat etwas von Herdentrieb, vom anonymen Verschwinden des Einzelnen in der Masse zum Schutz der eigenen Unversehrtheit.

Auch Meinhard Miegel weist in seinem Buch "Das Ende des Individualismus" (Untertitel: "Die Kultur des Westens zerstört sich selbst"), zusammen mit Stefanie Wahl nach, daß ganz bestimmte sozialpsychologische Gesetzmäßigkeiten ihre Wirkungen schon im antiken Griechenland ebnenso wie im antiken Rom entfaltet haben. Diese Wirkungen stehen in engem Zusammenhang mit der Individualisierung der jeweiligen Gesellschaft, mit ihrem wachsenden Wohlstand und dem Wegfall von traditionellen Zwängen. Dieses Buch ist Resultat einer Untersuchung über die Ursachen der Geburtenarmut in Deutschland. Allerdings sei bei der Lektüre zur Vorsicht geraten, da diese Untersuchung im Auftrag des Bundesministeriums für Forschung und Technologie vorgenommen wurde und daher von Haus aus nicht ganz einwandfrei sein dürfte.

Der Geburtenrückgang ist im Zusammenhang mit fehlender Eigeninitiative und zunehmendem Egoismus deshalb erwähnenswert, weil er zum größten Teil auf eben diesen Defiziten beruht: Kinderaufzucht schränkt die Entfaltung der Persönlichkeit, wie sie heute wünschenswert erscheint, stark ein und kostet viel Geld und Zeit. Ich halte unsere derzeitigen Führungsleute (Politiker) nicht annähernd für klug genug, solche Zusammenhänge begreifen zu wollen (können könnten sie möglicherweise) und ebenso nicht für weise genug, solche Zusammenhänge zu berücksichtigen. Um nicht weiter um den heißen Brei herumzureden, liste ich im Folgenden einige Punkte auf, die in Deutschland wirklich nicht in Ordnung sind und aus deren Tatsache es geradezu folgerichtig scheint, daß wir seit Jahren Politiker an der Macht haben, die ihren Wählern tiefstes Mißtrauen entgegenbringen und ihnen noch tiefer in die Tasche greifen.

Staatliches Lenkungsverhalten ist bei uns planvolle Herbeiführung von Antriebslosigkeit.

In seinem neuesten Buch "Der dressierte Bürger" (ISBN 3-593-37759-4) versucht Reinhard K. Sprenger, einer der profiliertesten Führungsexperten Deutschlands (Unternehmensberater), uns zu erläutern, weshalb wir weniger Staat und mehr Selbstvertrauen brauchen. Sprenger sieht als Hauptursache für mangelndes Selbstvertrauen die stark übertriebene Regelungswut der deutschen Politiker (nicht nur derjenigen in Berlin). Ganz am Anfangs seines Buches schreibt er folgendes:

Ich bin ein Staatsfeind. Geworden, nicht schon immer gewesen. Und ich mag Deutschland. Die Landschaft fast immer, die Menschen meistens. Ich bin auch nicht gegen jede Form des Staates. Aber ich bin gegen einen Staat, der sich in mein Leben drängt, der mich gängeln will, der mich zu erziehen versucht. Ich will mein eigenes Leben leben – und auch führen. Deshalb dieses Buch. Es soll ein Augenöffner sein. Nicht fair, nicht ausgewogen, aber klar. Natürlich habe ich nicht die Illusion, dieses Buch könnte den Staat ändern; aber es kann verhindern, dass der Staat Sie ändert.

Sprenger scheint ohne allen Zweifel ein Innengelenkter zu sein, dem seine Autonomie und Willensfreiheit wichtig sind. Sein Haupt-Fazit lautet demnach auch:

Die Deutschen sind so unbeweglich, weil sie sich daran gewöhnt haben, bewegt zu werden. Der Verlust unseres Selbstvertrauens ist die Spätfolge staatlicher Dressur.

Seiner Beobachtung nach sind wir schon dermaßen an staatliche Bevormundung gewöhnt, daß sie uns gar nicht mehr auffällt. Sprenger vergleicht dieses Phänomen mit der Produkt-Reklame, von der ebenfalls kaum jemand eingestehen wird, daß sie bei ihm Wirkung zeigt. Viele wichtige Entscheidungen werden von den Politikern deshalb nicht getroffen, weil sie eine Entmachtung des Staates bedeuten würden. Der Staatsapparat stellt sozusagen einen Selbstläufer dar, wie sich Sprenger kürzlich in SWR3-Leute ausdrückte: Der Staat ist hauptsächlich daran interessiert, die Bürger unmündig zu halten, um seine Macht behalten zu können, ebenso wie das Arbeitsamt nicht wirklich an Vollbeschäftigung interessiert ist, weil es sich sonst selbst abschaffen müßte.

Im weiteren Verlauf seines Buches kommt Sprenger zum dem Schluß, daß der Staat dem Bürger gegenüber ein hohes Maß an Mißtrauen entgegenbringt: er traut dem Bürger weder zu, sein Leben selbständig zu regeln noch eine eigene Idee vom "guten Leben" zu entwickeln. Um die Schäden dieser geistigen Entmündigung aufzuzeigen, verwendet Sprenger vorwiegend Erkenntnisse aus der Sozialpsychologie (vor allem Verhaltensforschung) und der Systemtheorie.

Das mangelnde Selbstvertrauen der Deutschen kommt auch in der Feststellung zum Ausdruck, daß in keinem europäischen Land der Anteil der Selbstständigen an allen Berufsgruppen niedriger ist als in Deutschland. Die Ursachen liegen u.a. darin, daß wir hier eine wahre Flut von Gesetzen und Verordnungen haben, die eine Unternehmensgründung stark erschweren. In Deutschland eine Firma aufzumachen dauert im Schnitt 45 Tage (meist eher mehr), in "Frankreich acht, in Dänemark vier, in Australien sogar nur zwei. Die Kosten, die einem Gründer dabei entstehen, sind hier zu Lande gut achtmal höher als in Schweden und 30-mal höher als in Neuseeland. Sprenger:

Eine Gesellschaft, die vor den Risiken der Freiheit zurückschreckt, läuft das viel größere Risiko: zurückzufallen gegenüber den mutigeren, freiheitlicheren Gesellschaften. Besonders gefährlich wird es, wenn man den mangelnden Mut, Neues auszuprobieren, zum moralischen Verdienst verklärt, wenn man das Zögern, Festhalten und Zerreden als "sozial" und "balanciert" ausgibt, wenn man nicht nüchtern Vor- und Nachteile abwägt, sondern zunächst eine moralisierende Schutzmauer errichtet, die das zarte Pflänzchen des Neuen drohend überragt. Und dann den Bürger nicht selbst entscheiden läßt, sondern über Ge- und Verbote moralisch "sichert". Dann wird eine Gesellschaft zur Gesinnungsdiktatur.

Der Staat benötigt mit der Zeit immer größere finanzielle Mittel, um das Leben des unmündigen Bürgers zu lenken. Diese Mittel fehlen natürlich dem Einzelnen dazu, Ideen und Lebensentwürfe zu verwirklichen. Auf diese Weise entsteht eine sich zunehmend schneller drehende Spirale aus Abhängigkeit vom Staat und gebremstem Antrieb des Individuums. Der Staat steuert das Verhalten seiner Bürger über das Verteilen von Geld: steuerliche Vorteile winken demjenigen, der staatlich erwünschtes Verhalten zeigt. Nicht mehr der eigene Antrieb und die eigene Motivation werden so handlungsentscheidend, sondern die Möglichkeit des legalen Griffs in die Staatskasse.

Das Gegenteil von gut ist nicht böse, sondern gut gemeint. (Gottfried Benn)

Sicher sind alle diese Lenkungsversuche des Staates gut gemeint, strotzen nur so vor Moralität und Beglückertum. Doch was richten sie letztendlich an? Für mich ist es absolut nachvollziehbar, daß sich die Eigeninitiative einer Firma vermindert, wenn sie mit Subventionen dazu verführt wird, sich lenken zu lassen statt selber und eigenverantwortlich zu handeln. Dasselbe gilt für das Individuum: Wären dem Einzelnen die Möglichkeiten selbständigen Arbeitens nicht so dermaßen verbaut, wie das in der Bundesrepublik Deutschland der Fall ist, gäbe es ganz sicher weitaus mehr Selbständige und Kleinunternehmer bei uns. (Und damit meine ich nicht die seltsame Erfindung der Ich-AGs und die häufig damit verbundene Schein-Selbständigkeit.)

Vor der Tat steht der Entschluß, der wiederum aus dem jeweiligen Bewußtsein erwächst. Demnach fehlt es vor allem an Bewußtsein für die tatsächlich wirkenden Zusammenhänge, die dazu führten, daß wir zu dem geworden sind, was wir heute sind. Ohne Bewußtsein dessen, wo wir uns befinden, was uns beeinflußt, wer uns wie manimpuliert und ohne die Klärung der Frage, was wir mit unserem Leben anfangen wollen, gibt es keine Weiterentwicklung. Fortschritt heißt nicht in erster Linie technischer Fortschritt, sondern vor allem ein Fortschritt im Bewußtsein der Menschen. Dazu gehört auch, den Menschen nicht für grundsätzlich schlecht oder gar bösartig zu halten, sondern lediglich für pathologisch und somit für fähig, geheilt zu werden von dem, woran er jeweils krankt. Wäre der Mensch von Grund auf böse und schlecht, wie es jene annehmen, die den Menschen zu seinem Wohl zu zwingen trachten, gäbe es keine Hoffnung auf Besserung.

Das allergrößte Heil des Menschen sehe ich in dem, was man Selbstverwirklichung nennt: die Einrichtung und Gestaltung des eigenen Lebens nach eigenen inneren Maßstäben und Bedürfnissen. Menschen mit der Tendenz zur Selbstverwirklichung meiden Verführungen zur Unselbständigkeit, lernen die leisen Stimmen ihres Innenlebens besser wahrzunehmen, finden Freude und Befriedigung an selbstgewählter und selbstgestalteter Tätigkeit und erlangen daraus ihr Selbstbewußtsein, was wiederum ihre Eigenständigkeit fördert. Solche Menschen werden nicht durch Bevormundung, sondern im Gegenteil nur dort entstehen, wo Bevormundung und Entmündigung fehlen oder doch zumindest abgebaut werden, wo dem Einzelnen nicht Tag für Tag die Mittel gekürzt werden, mit denen er seine Selbstverwirklichung leisten könnte.

Die moderne Erziehung zur Unselbstständigkeit beginnt tatsächlich schon im Kleinkindalter, setzt sich in der Schule fort und findet ihren krönenden Abschluß beim Eintritt in eine Firma, wo der so Dressierte umso erfolgreicher ist, je geringer der Anteil an Eigensinn in seinem Wesen ausfällt. Die schleimigsten Kollegen begegneten mir einst während meiner Tätigkeit im Öffentlichen Dienst, wo Unterwürfigkeit und Gleitfähigkeit unabdingbare "Fähigkeiten" (die eigentlich Unfähigkeiten sind) darstellen, um weiterzukommen. Der Tüchtigere und Intelligentere wird dort gefürchtet und gemieden wie die Pest. Leider habe ich erst im Nachhinein voll erfaßt, weshalb mich diese sieben Jahre beim Staat so schwer erkranken ließen ... Immerhin habe ich inzwischen erkannt, daß Krisen eine Chance zur Heilung darstellen, wie auch der Ausbruch einer Krankheit nicht mit der Entstehung letztgenannter zusammenfällt, sondern eine Krise darstellt, in deren Verlauf entweder Heilung erfolgt oder Siechtum und Tod beginnen.