17. Januar 2003
Über das Selbstmitleid
Warum wir immer wieder auf Mitleidsgeheische hereinfallen

Daß Selbstmitleid mit Jammern gleichzusetzen ist, hat sich schon soweit herumgesprochen, daß diese Tatsache inzwischen zum Allgemeingut geworden ist. Was steckt eigentlich dahinter, wenn wir Menschen es vorziehen, uns selber zu bedauern, statt nach Ursachen für unser Scheitern zu suchen?

Wer derart mit sich selber hadert, daß er anfängt, sich zu bedauern, sich selber runterputzt oder sich gar soweit hineinsteigert, zu glauben, er sei nichts wert, erlebt dabei eine ganz spezielle "Wonne" – eine bittersüße Überschwemmung seines Gemüts, die es ihm nicht gerade erleichtert, so ohne weiteres aus dieser Falle herauszufinden. Doch wie kommt das, wie fängt das Selbstmitleid an, seine zerstörerischen Energien zu entfalten?

Zuerst ist da mal der Umstand, daß der Selbstmitleidige der Überzeugung ist, er habe das ganze Unglück eigentlich gar nicht verdient. Er hält sich – im Gegensatz zu irgendwelchen Leuten, die ihn seiner Meinung nach schlecht behandeln – für was Besseres. Er glaubt sich ungerecht behandelt. Und da er sich nie den notwendigen Durchblick verschafft hat, um die entsprechenden Zusammenhänge zu erkennen, fällt ihm sein eigener Beitrag zu seiner Misere nicht besonders ins Auge.

Die einzige Möglichkeit, sich vor Bevormundung zu schützen, ist die Stärkung der eigenen Urteilskraft. Aber das weiß unser armer Trottel nicht. Er glaubt nämlich, er sei doch ein netter Typ, und ist doch nur dann freundlich, wenn er sich einen Vorteil davon verspricht. Er liest Zeitung und hält sich für gebildet, würde sich aber niemals getrauen, dem jeweiligen Platzhirschen oder gar dem Vorgesetzten zu widersprechen. Er hält sich für liebenswert, ist sich aber kaum der Tatsache bewußt, daß er sich ständig über die Gefühle anderer hinwegsetzt. So, und nun wird dieser Typ zurückgestoßen – entweder von einer Schönheit, in die er sich unsterblich verliebt hat, oder von sonstigen Menschen, die ihn einfach wegen seiner offensichtlichen Oberflächlichkeit ablehnen. Was passiert? Seine Selbstverliebtheit kann er nicht länger aufrecht erhalten – er beginnt zu jammern. Er spürt einen Schmerz, einen ganz speziellen – der rührt aus dem Zusammenstoß seiner Vorstellungen mit der Wirklichkeit.

So erscheint es doch nicht allzu weit hergeholt, zu behaupten, daß Selbstmitleid eigentlich nichts weiter als ein Resultat von Selbstüberschätzung ist. Und weil der Betroffene das nicht erkennt, muß er sich unweigerlich ungerecht behandelt fühlen und verfällt deshalb in Selbstmitleid. Doch warum reagieren so viele Menschen auf Selbstmitleid? Weil sie – bewußt oder nicht – insgeheim spüren, was es damit auf sich hat?

Mit dem Mitleid hat es eine ähnliche Bewandtnis. Ja, ich behaupte sogar, daß Mitleid und Selbstmitleid im Grunde ein und dasselbe sind – und dabei ist es mir echt wurscht, ob in diesem oder jenem Psychologie-Handbuch was ganz anderes steht. Mitleid wird ja meist beim Anblick von vermeintlichem Leid empfunden – von jenen Äußerungen mal abgesehen, die einem Gegner Leid unterstellen: "Du tust mir leid!" Mitleid ist ein angebliches Mitleiden, was dem vermeintlich Leidenden meist sehr wenig bis gar nichts hilft. Ergo findet beim Mitleid eine Identifikation mit dem Leidenden statt – der Mitleidige versetzt sich in die Lage des Leidenden und heuchelt Anteilnahme und Verstehen, wo er doch nur Angst davor hat, selber in diese vermaledeite Lage zu kommen und niemanden zu haben, der ihm wieder heraushilft. Im Grunde ist der Mitleidige ganz froh, daß es den Leidenden und nicht ihn selber erwischt hat, weshalb er sich als was Besseres als der Leidende fühlt. Mitleid ist also immer mit einer guten Portion Hochmut durchsetzt. Der Mitleidige sagt letztendlich dem Leidenden: "Du hast da diese Schwäche, du bist weniger wert als ich. Wenn ich dir helfen soll, sag's mir, aber du weißt ja, daß du dann in meiner Schuld stehst für den Fall, daß es mich auch mal erwischen sollte." Diese subtilen Zusammenhänge, die den allermeisten Menschen zeit ihres Lebens niemals bewußt werden, kennen fast alle (nicht geistig) Behinderten aus dem Eff-Eff – weshalb sehr oft zu beobachten ist, daß diese auf Mitleid allergisch bis aufgebracht reagieren.

Etwas völlig anderes dagegen ist das Mitgefühl. Der Mitfühlende leidet nicht die Schmerzen des Leidenden, er identifiziert sich nicht mit diesem und ist erst dadurch, daß er eine gewisse Distanz zum Leidenden wahrt, eventuell in der Lage, diesem zu helfen. Der Mitfühlende erkennt im anderen sich selbst. Er kennt die Schmerzen des anderen aus eigener Erfahrung, und er wünscht niemandem dieses Leid.