31. Juli 2006
Religiosität – Seelentherapie oder Neurose?
Wie und warum werden Menschen plötzlich religiös?

Der Glaube an Gott oder Götter ist seit langem (zugunsten eines mindestens ebenso unsinnigen Glaubens) im Abnehmen begriffen. Nicht zuletzt stellt diese Abnahme der Religiosität ein Resultat der humanistischen Aufklärung wie auch der Verwissenschaftlichung der Welt dar.

Laut Wikipedia bezeichnet der "Ausdruck Religiosität die subjektive und individuelle Seite der Religion im Gegensatz zur Religion als einer objektiven institutionell vorgegebenen Größe". Es geht hier also nicht um einzelne Religionen oder Institutionen, sondern um die individuelle Religiosität, den persönlichen Umgang mit dem Glauben an eine höhere Intelligenz, Macht oder Kraft.

Kürzlich erst erzählte mir eine 54jährige deutschstämmige Aussiedlerin aus Kasachstan (heute Sozialpädagogin in einer karitativen Einrichtung), mit der ich täglich beruflich einige Stunden zu tun habe, wie es kam, daß sie zu glauben begann und nun seit vielen Jahren täglich in der Bibel lese. Mit 15 Jahren, so offenbarte sie mir, sei ihr der Teufel erschienen, was sie aber erst, nachdem sie hier im Westen die erste Bibel in die Hand bekam, realisierte. Dieses Erlebnis, in dessen Verlauf ihr von rauhen Händen nachts der Hals zugedrückt wurde, läßt sie noch heute die eigenen Hände schützend über ihren Hals gelegt einschlafen.

Inzwischen hat sie die Bibel – wohl in Folge wiederholter Indoktrinationen der Zeugen Jehovas, die sie mehrfach erwähnte – unzählige Male "vor- und rückwärts" gelesen, wie sie sich ausdrückt. Das Resultat nennt man Bibelfestigkeit. Sie ist nun in der Lage, alle Erscheinungen dieser Welt mit der Bibel zu "erklären", was zur Folge hat, wie sie eindrücklich betont, daß sie nie wieder Unsicherheit und Ängstlichkeit erleben muß. Sie vergleicht diese allmächtige höhere Intelligenz, der sie sich ohne den geringsten Zweifel unterwirft, mit einem beschützenden Vater. Ihr eigener Vater wurde ihr früh genommen – nach ihren Aussagen hat sie nach seinem Tod sehr unter diesem Verlust gelitten.

Diese Frau nimmt die Bibel absolut wörtlich. So versuchte sie mir letzte Woche ein Video anzudrehen, auf dem sich der unumstößliche Beweis dafür finden soll, daß die Erde und alles Leben darauf erst ein paar tausend Jahre alt und die Evolutionstheorie ein großer Schwindel sei – selbstverständlich alles wissenschaftlich bewiesen. Wenn ich vom Affen abstammen wolle, sei das meine Sache, sie sei von Gott gemacht. Mir waren solche Absurditäten schon länger bekannt, doch um ihren Mitteilungsdrang (der mir eher wie ein ausuferndes Sendungsbewußtsein vorkommt) nicht unnötig zu frustrieren, lehnte ich mit einer anderen, nicht unwahren Begründung ab: ich besitze weder Fernseher noch VHS-Player. Meine Einwände gegen die sog. Junge-Erde-Theorie, die u.a. in der Erwähnung der Radiokarbon-Messung bestanden, wischte sie mit wiederholten Hinweisen auf die Bibel beiseite.

Nun sind mir seit langem psychoanalytische Erkenntnisse so weit geläufig, daß mir während der Beschäftigung mit diesem umfangreichen Themengebiet nicht entgehen konnte, wie die meisten Psychologen heute die Religiosität einschätzen. Schon Sigmund Freud war davon überzeugt, daß Religiosität einer Selbstentzweiung gleichkommt und somit eine Neurose darstellt. Der Glaube an einen übermächtigen Herrscher der Welt kommt dem weitverbreiteten Bedürfnis nach Führung und Autorität entgegen, denn der religiöse Mensch braucht einen Vater oder Führer, der ihm die Verantwortung für ein selbstbestimmtes Leben abnimmt. Im Gottesglaube drückt sich der Wunsch nach Geborgenheit, Autorität und vor allem Sicherheitsgefühl aus. Nach der Theorie des Über-Ich, das sich mit dem Heranwachsen des Menschen aus den Ver- und Geboten der Eltern bzw. des Vaters in die Gebote der Gesellschaft wandelt, hilft dem Religiösen sein Gottesglaube, die geforderte Triebunterdrückung zu leisten, vor allem aber, diese auszuhalten.

Erich Fromm geht in seinem Hauptwerk "Anatomie der menschlichen Destruktivität" noch einen Schritt weiter und bezeichnet den Glauben an personifizierte Gottheiten als Götzendienst. Der Gläubige verlegt nennenswerte Teile seiner konstruktiven Fähigkeiten in das Wesen seines Gottes. Infolge dieser Verlagerung (Übertragung) muß er sich diesem allmächtigen Wesen unterwerfen und ihm huldigen, will er an seinen einstmals eigenen konstruktiven Fähigkeiten teilhaben. Alles Gute vermöge er von nun an nur noch durch Gott, während das Fleisch, der materielle Mensch ohne Gott schlecht sei. Nur durch Gott könne er Friede und Erlösung erlangen. Parallel dazu verlagert der Gläubige alle destruktiven Eigenschaften seines Selbst auf den Teufel, den Gegenspieler, den Versucher – womit er gleichzeitig die Verantwortung für seine Destruktivität auf dieses ebenso imaginäre Wesen projiziert.

Meine eigene, schon im Kindesalter äußerst schwach ausgeprägte Neigung zur Gläubigkeit geriet schon früh vollständig ins Wanken, als ich dem für uns Konfirmanden zuständigen Vikar von meinen Nöten im Elternhaus (täglich Prügel und Geschrei) berichtete. Mir wurde schlicht und einfach erklärt, daß ich Vater und Mutte ehren solle. Meine Überraschung und Verärgerung über so viel Ignoranz hielt sich allerdings in Grenzen, weil diese Reaktion schon damals weitgehend meinen Erwartungen entsprach.