10. Februar 2008
Religion und Moral
Gottesvorstellungen im Massenbewußtsein

Als gestandener Ketzer und geübter Häretiker sehe ich mich in der Lage, einige weniger voreingenommene Gedanken über Gott und seine Welt zu entwickeln, als es beispielsweise einem Pfaffen oder Bischof je erlaubt oder möglich wäre.

Die gängigsten Vorstellungen der Masse über den angeblich so gütigen Gott der Christen umfassen folgende Eigenschaften dieses unsichtbaren Wesens:

Seitdem Kants Philosophie an Einfluß zu gewinnen begann, streben Philosophen danach, die Gottesidee aus der Moral, die dem Menschen bereits auf sehr primitiver Stufe eigentümlich sein soll, abzuleiten. Demnach herrschte auf sehr früher Entwicklungsstufe der menschlichen Gesellschaft das Gewohnheitsrecht. Wurde dieses Recht gebrochen, wendete man in zweifelhaften Fällen das Ordal an, ein Experiment, das den Zweck hatte, den Schuldigen bloßzustellen oder die Unschuld des Beschuldigten zu beweisen. Die Anwendung der Ordalien setzte eine höhere Macht, ein höheres Wesen voraus, das sich unmittelbar und direkt in das Geschehen einmischen werde und so den Schuldigen zweifelsfrei erkennen lasse. Man glaubte schon damals zu Zeiten der Vielgötterei, daß diese mächtigen Wesen über gute und böse Handlungen wachen und durch direktes Eingreifen die Schuldigen ihrer Bestrafung zuführen, die Unschuldigen retten und so eine entschieden moralische Macht darstellen.

Ist Gott wirklich nur das Gute? Hat der Mensch ursprünglich nur dem "guten" Gott seine Ehrfurcht erwiesen. Von den Bahau auf der Insel Borneo erzählt man sich zum Beispiel, daß die guten Geiter nicht nur ansich ungefährlich seien, sondern dem Menschen ständig alles nur erdenklich Gute antun, dagegen die bösen Geister den Menschen als Strafe für ihre Sünden Unglück bringen. Daher kommt es, daß die Bahau sich hauptsächlich für die bösen Geister interessieren, denn die letzteren erfordern durch ihre Gefährlichkeit mehr Aufmerksamkeit als die harmlosen guten.

Bei den Kamtschadalen finden wir ähnliches. Die Leute erzählen von ihren alten Gottheiten und Dämonen, daß der Hauptgott Kuk'h mit seiner Gemahlin Kak'h, ihrem Sohn Trel-Kruthan und ihrer Tochter Isch-schachels zumeist auf den Gipfeln hoher Vulkane residieren, wo sie das Feuer zur Bereitung ihrer Speisen verwenden. Mit den Menschen hätten sie im grunde nichts zu tun und lebten daher in ewiger Abgeschlossenheit und Machtlosigkeit, weshalb sie auch von den Kamtschadalen wenig beachtet würden. Diese alte Götterfamilie wird sogar verlacht und verspottet, weil sie das Land so unpraktisch geschaffen hätte: nur hohe Berge und viel Eis und Schnee, es komme also nichts Gutes von ihnen. Den bösen Dämon Ssossotschelk dagegen, der ständig unter den Menschen leben soll und nur auf günstige Gelegenheiten wartet, die Menschen zu necken, zu stören und ihnen böswillig Schaden zuzufügen, den fürchten sie gewaltig, weshalb sie ihm Opfer darbieten und versuchen, ihn durch Schamanen zu versöhnen.

Diese Kombination von kaum beachteten guten und vielbeachteten bösen Dämonen und Göttern findet man so häufig, auch bei den vormals in Polen und Schlesien verehrten Gottheiten (bialy bog i czerny bog, der schwarze und der weiße Gott), daß das alte Sprichwort seine Berechtigung findet: "Es ist besser, dem Teufel zwei als dem lieben Herrgott ein Licht anzuzünden." Auch die Beduinen in den Steppen Asiens und Syriens denken, wenn sich ihre Gedanken zu einem göttlichen Wesen emporschwingen, nicht an den liebenden Vater, sondern an den strafenden, eifersüchtigen Tyrannen, von dem jegliches Übel kommt. Solche weit verbreiteten Dichotomien widerlegen die Ansicht der Philosophen, wonach alle Religion nur Auslegung des moralischen Bewußtseins sei.

In allen heutigen Kulturen läßt sich beobachten, daß die Gottesvorstellung schon sehr früh in den Kindern angelegt wird. Bereits Schopenhauer hatte den Grund dafür klar erkannt und deutlich hervorgehoben:

Wenn nämlich dem Menschen in früher Kindheit gewisse Grundansichten und Lehren mit ungewohnter Feierlichkeit und mit der Miene des höchsten, bis dahin von ihm noch nie gesehenen Ernstes wiederholt vorgetragen werden, dabei die Möglichkeit des Zweifels daran ganz übergangen, oder aber nur berührt wird, um darauf als den ersten Schritt zum ewigen Verderben hinzudeuten; da wird der Eindruck so tief ausfallen, daß, in der Regel, d.h. in fast allen Fällen, der Mensch fast so unfähig seyn wird, an jenen Lehren, wie an seiner eigenen Existenz zu zweifeln; weshalb dann unter vielen Tausenden kaum Einer die Festigkeit des Geistes besitzen wird, sich ernsthaft und aufrichtig zu fragen: ist das wahr? (...) So stark demnach ist die Gewalt früh eingeprägter religiöser Dogmen, daß sie das Gewissen und zuletzt alles Mitleid und alle Menschlichkeit zu ersticken vermag. (aus: Arthur Schopenhauer, Parerga und Paralipomena II, cap. XV, § 174. Ein Dialog)

Obwohl die Inhalte der verschiedenen religiösen Systeme – mit Ausnahme des Buddhismus, der ohne Gottesvorstellung auskommt – allesamt ziemlich haltlos und geradezu kindisch anmuten, werden sie geglaubt und für bare Münze genommen, und das ziemlich unabhängig von Bildungsgrad und Intelligenz. Die Antwort liegt in der Gewalt, besser: in der geistigen Vergewaltigung von Kindern, denen diese Gottesvorstellungen auch heute noch, in einer angeblich aufgeklärten Epoche, in grober Weise aufgezwungen wird, wie das Zitat von Schopenhauer illustriert.

Erkennt man die Gewaltgrundlage der religiösen Lügen an, angefangen beim kaum wahrnehmbaren sozialen Druck und der emotionalen Erpressung durch nahe Angehörige und Eltern bis hin zu juristischen Diskriminierungen und religiös motivierten Morden (z.B. Hexenverbrennungen), so scheint sich das Rätsel der Religion aufzulösen, zumindest hinsichtlich der Frage, weshalb sie trotz offenkundiger Realitätswidrigkeit, auffälliger Willkürlichkeit und zahlreicher logischer Brüche dennoch geglaubt wird. Nur höchst selten gedeihen Religionen ohne die direkte und massive Unterstützung der Machthaber, die den Unterworfenen die lebensnotwendigen Mittel entreißen, um damit die religiösen Institutionen zu unterhalten. "Gib Gott, was des Gottes, und dem Kaiser, was des Kaisers" lautet denn auch eine alte religiöse Vorschrift: Gib dem Gott deine Seele und dem Kaiser dein Geld. Jeder weiß, daß die Ehe von Gewalt und Religion, Thron und Altar, so festgefügt ist wie die Symbiose von Pilz und Alge bei den Flechten.

Weil sich in der individuellen Entwicklung des Menschen das Prägefenster für Gottesvorstellungen mit der frühen Kindheit schließt, kann man einen Erwachsenen, der in seiner Kindheit nicht entsprechend indoktriniert wurde, nur sehr schwer "religiös machen". Einzig ein paar merkwürdige neuere Experimente zeigen eine erstaunliche Möglichkeit, vollkommen areligiösen Menschen in eine Art religiöser Ekstase zu versetzen und stark religiösen Menschen die religiöse Verblendung vorübergehend zu nehmen. In der Zeitschrift WELTWOCHE ist ein entsprechender Artikel zu lesen: Gott spüren – Ein Gefühl, schöner als Glück:

Hirnforscher haben Techniken entwickelt, die Menschen Gott spüren lassen und selbst Atheisten kommen ins Schwärmen. Schwachsinn? Es ist ein Helm, der schmerzlos zu dieser übermenschlichen Erfahrung führt. Und zu der Frage: Kommt nach dem iPod der iGod?

Um dem geneigten Leser die Möglichkeit zu geben, sich selbst ein Bild zu machen und nicht ausschließlich meiner vorurteilsbelasteten Meinung ausgesetzt zu sein, füge ich hier noch ein paar Links an, unter denen sich jeder heraussuchen kann, was seiner Neigung entspricht:

STERN ONLINE: Richard Dawkins: Gott existiert mit großer Wahrscheinlichkeit nicht. Ein Interview mit dem britischen Zoologen.

DIE ZEIT: Kernspin im Nirwana. "Meditieren erhöht die Konzentration, verändert die Architektur des Gehirns und hilft bei Depressionen, sagt Ulrich Ott. Nun will er die Erleuchtung messen" Ein Link vom User H., dem ich für diese wertvolle Information an dieser Stelle meinen Dank ausspreche.

GOETHE-INSTITUT: Wo Gott wohnt - Hirnforschung und Religion. "Was passiert, wenn wir beten, meditieren oder sonst wie religiös aktiv" sind? Neurowissenschaftler bringen mit bildgebenden Verfahren ans Licht, was dabei im Gehirn geschieht. Wohnt Gott nur in unseren Köpfen?

Institut für Glaube und Wissenschaft: umfangreiche Textsammlung zu religiösen Themen im weitesten Sinne, aus der ich lediglich zwei PDF-Dateien hervorheben möchte:

Dr. Daniel von Wachter: Gott im Gehirn. "Ist Gott ein Hirngespinst? Forschungsergebnisse einer Disziplin, die sich neuerdings "Neurotheologie" nennt, werden mitunter als positive Antwort auf diese Frage verkauft."

Prof. Dr. Ulrich Eibach: Kritische Bemerkungen zur Relevanz neurowissenschaftlicher Erkenntnisse und Theorien für den christlichen Glauben.