1. Mai 2005
Reaktionäres Verhalten
wichtige Zusammenhänge

Im Reaktionären zeigt sich die Neigung, zu reagieren statt zu agieren.

Meine Definitionen:
Reagieren – Reaktion – reaktionäres Verhalten
re-agieren: automatisches bis halbautomatisches, oft triebhaftes Handeln, mit minderer bis kaum erkennbarer Beteiligung des wachen Bewußtseins, von äußeren und/oder inneren Reizen ausgelöst
agieren: bewußte, zielgerichtete, absichtliche, überlegte und autonome Handlung

Ausuferndes reaktionäres Verhalten basiert auf einem Überbleibsel unserer tierischen Instinkte und ist im menschlichen Nervensystem in Form fest verdrahteten Auslöser für vorgefertigte Handlungen fixiert. Nur durch die Stärkung des wachen Bewußtseins wird es uns gelingen, diese uralten Reflexe zu dominieren. Ohne diese jedem erwachsenen und zivilisierten Menschen mehr oder weniger eignende Fähigkeit zur Selbstdisziplin würden diese Instinkte unser Denken und Handeln vollständig kontrollieren.

Der Tierverhaltensforscher M. W. Fox führte 1974 ein Experiment mit einer Truthenne und einem ausgestopften Stinktier durch, das für die Henne seit Urzeiten einen natürlichen Feind darstellt. Um dieser Gefahr zu begegnen, überlegt die Henne nicht erst lang und breit, sondern wird von einem fest verdrahteten Reaktionsmuster gesteuert, sobald der Auslöser gedrückt wird. Nun baute Fox ein Tonband in das Stinktier ein, mit dem er die "Tschiep-Tschiep"-Laute der Truthennen-Küken widergab. Was geschah? Die Henne nahm die vermeintlichen Küken unter ihre Fittiche, obwohl die Attrappe noch immer wie ein Stinktier aussah. Stellte Fox das Tonband ab, gingen die Attacken gegen den Skunk sofort wieder los. Diese fixed-action-patterns finden sich in allen höheren Tierarten und ebenso – wenn auch in abgeschwächter Form – beim Menschen. In der einschlägigen Literatur werden sehr viele dieser Experimente beschrieben, auf die ich aber, da ich mich in meinen Artikeln kurz fassen möchte, nicht weiter eingehen kann.

Ein 1978 erfolgtes Experiment der Sozialpsychologin Ellen Langer demonstriert automatisches Verhalten von Menschen: Sie bat Leute, die vor dem Kopierer einer Bibliothek anstanden, um den Gefallen, vorgelassen zu werden. Mit dem Hinweis, daß sie nur fünf Seiten hätte und in Eile wäre, wurde sie von 94% der Wartenden vorgelassen. Erwähnte sie nur die fünf Seiten, sank der Anteil des Entgegenkommens auf 60%. Der Unterschied schien in der Zusatz-Info "weil ich es eilig habe" zu liegen. Beim dritten Versuch benutzte Langer nach dem Hinweis auf die wenigen Seiten nur das Wort "weil", ohne einen Grund anzugeben, sondern bestätigte nur das Offensichtliche: "Entschuldigung, ich habe 5 Seiten, könnten Sie mich bitte vorlassen, weil ich Kopien machen muß?" Das Entgegenkommen stieg diesmal auf 93%. Obwohl die Wartenden keine Information erhielten, welche die Ausnahme gerechtfertigt hätten, gaben sie nach. Es war das "Zauberwort" weil, das ähnlich funktionierte wie das Tschiep der Stinktier-Attrappe. Ähnliche feste Reaktionsmuster wurden mit anderen Experimenten nachgewiesen: Ladenhüter gehen oft schneller weg, wenn man den Preis erhöht, da sie dem Käufer dann als wertvoller erscheinen. Die moderne Produktreklame nutzt solche fixed-action-patterns weidlich aus.

Ein weiteres – und, wie ich finde, sehr bestürzendes – Experiment stellt das berühmte Milgram-Experiment (1) dar. Einem Schauspieler wurden von einer Versuchsperson scheinbar heftigste Elektroschocks verpaßt, die das vermeintliche Opfer sich vor Schmerzen winden ließen. Es ging dabei um die Frage, wie weit Menschen zu gehen bereit sind, wenn sie von einer Autoritätsperson beauftragt wurden. Von den 40 Versuchspersonen hörte keiner vor der Höchstgrenze von 450 Volt auf.

Der Versuchsleiter war schockiert. Das hatte keiner erwartet. Auch bei veränderten Versuchsanordnungen, wenn beispielsweise das "Opfer" über Herzbeschwerden klagte, gingen immer noch 65 % der Versuchspersonen bis zum bitteren Ende. Dabei waren sämtliche Versuchspersonen, wie durch Persönlichkeitstests belegt wurde, völlig normale Durchschnittsmenschen. Milgram ist sich inzwischen sicher, daß diese Ergebnisse auf einer tiefverwurzelten Autoritätshörigkeit basieren. Die Versuchspersonen waren unfähig, sich gegen den Mann im weißen Kittel aufzulehnen, der sie im Befehlston dazu drängte, ihre Aufgabe zu erfüllen. Daran änderten auch die offensichtlichen Qualen des Opfers nichts. Milgram selbst beschreibt einen solchen Fall:

Ich beobachtete einen anfänglich selbstsicheren Geschäftsmann mittleren Alters, wie er mit einem Lächeln auf den Lippen und voller Optimismus das Labor betrat. Zwanzig Minuten später hatte er sich in ein zuckendes, stotterndes Wrack verwandelt und stand kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Unaufhörlich zog er an seinem Ohrläppchen und rang die Hände. An einem Punkt preßte er die Faust gegen die Stirn und sagte leise: "Oh Gott, hören wir auf damit." Und trotzdem gehorchte er dem Versuchsleiter bis zum Schluß aufs Wort. – Das wichtigste Ergebnis der Studie besteht darin, wie groß die Bereitschaft von Erwachsenen ist, fast alles zu tun, was eine Autorität von ihnen verlangt.

Milgrams Intention bestand ursprünglich darin, verstehen zu wollen, wie es zur Ermordung von Millionen Unschuldiger in Konzentrationslagern kommen konnte. Er wollte diese Untersuchung ursprünglich in Deutschland durchführen, weil er dort eine ausgeprägtere Autoritätshörigkeit erwartete. Nach den ersten Ergebnissen in den USA sparte er sich diesen Aufwand: "Ich stieß auf so viel Gehorsam, daß ich es für überflüssig hielt, mit dem Experiment nach Deutschland zu gehen."– Überall, wo dieses Experiment wiederholt wurde, erbrachte es die gleichen Ergebnisse, ob in Holland, Deutschland, Spanien, Italien, Australien oder Jordanien.

Es sind seitdem noch viele Experimente zur Untersuchung des Autoritäts-Gimmick angestellt worden – das berühmteste dürfte wohl das Stanford-Gefängnis-Experiment (2) gewesen sein. Das älteste liegt in der Geschichte Abrahams vor (die Milgram als Vorbild diente), der seinen Sohn Isaac auf Befehl Gottes töten sollte. Er hätte es getan, wenn ihn Gott nicht in letzter Sekunde davon abgehalen hätte.

Das Verhalten von Menschen, die blind gehorchen, unterscheidet sich im Grunde nicht von dem, was man reaktionäres Verhalten nennt und das den faschistoiden Charakter kennzeichnet. Dieser blinde Gehorsam wird uns mehr oder weniger anerzogen. Die Entwicklungspsychologie geht zunehmend von sog. Prägungsfenstern aus, die nur für eine begrenzte Zeit offenstehen, um dann nie wieder zu erscheinen. Solche Prägungsfenster erlauben dem Prägenden (Erzieher, Eltern), dem jeweiligen Kind für ganz bestimmte Fälle ein festes Verhaltensmuster einzuprägen. In den Entwicklungsjahren jedes Menschen wird so der Grundstein dafür gelegt, wie sehr er später seiner eigenen Wahrnehmung traut, wie sich seine Fähigkeit zu Skepsis und Kritik entwickelt, ob er mehr zu Gehorsam oder mehr zu Zivilcourage neigt und dergleichen mehr. Eine Mutter beispielsweise, die ihrer Tochter Verachtung gegenüber Männern vorlebt, installiert in dieser jungen Frau unweigerlich ähnliche Mechanismen, die später kaum noch wahrgenommen, geschweige denn zu durchschauen sind. Ein Vater, der seine Frau vor den Kindern stets herunterputzt, bringt seinen Söhnen bei, auf Frauen stets herabzusehen, seinen Töchtern aber einen Minderwertigkeitskomplex, den diese nicht selten mit männlichem Gehabe (manchmal bis zur völligen Verneinung der weiblichen Rolle) zu kompensieren trachten. Hier sei der Leser auf die mannigfaltige Literatur verwiesen, die es zu diesem Thema gibt.

(1) zum Milgram-Experiment siehe auch folgene Links:
Wikipedia
Autorität, Gehorsam und das Milgram-Experiment
FU Berlin
Uni-Protokolle
demokratie-3000
Weitere Links lassen sich mit leicht selbst ergoogeln.

(2) das von Oliver Hirschbiegel verfilmt wurde: Das Experiment