19. Februar 2005
Im Rausch der Macht
Die süße Droge Politik – BRD 2004

Artikel anläßlich der Dokumentation von Ferdos Forudastan, Käthe Jowanowitsch und Stephanie Rapp: "Die süße Droge Politik - BRD 2004" – gesendet am 16.02.05 um 23:30 bzw. am 17. Februar 2005 um 03.25 Uhr vom Sender ARD – 44 Minuten

Zwar widerfährt mir das äußerst selten, doch ist es immer wieder befriedigend, wenn unpopuläre Behauptungen einiger Weniger sich später dann doch noch als wahr und zutreffend herausstellen. So jedenfalls erging's mir von Mittwoch auf Donnerstag, als ich mir oben benannte Sendung im TV ansah. Das erstemal erregte dieses Thema meine Aufmerksamkeit, als der – wohl eher nur Wenigen bekannte – Film von Oliver Hirschbiegel, "Das Experiment" in die Kinos kam und in der Folge einige Artikel im Stern auf diese und andere Aspekte von persönlicher Macht hinwiesen.

Viele Politiker sind süchtig nach Einfluß und Präsenz in der Öffentlichkeit. Zwar bemerken viele Minister, Parlamentarier und Regierungschefs, daß ihr Job sie verändert, daß sie sich von ihren familiären und sozialen Bindungen entfernen, ja oftmals regelrecht entfremden. Die Konsequenzen daraus zieht aber kaum einer: sie hängen an ihrem Amt wie der Junkie an der Nadel. Sogar besser bezahlte Jobs in der Wirtschaft, die oft mit weniger Streß verbunden sind, lehnen sie ab. Die Dokumentation, anläßlich der ich diese Zeilen schreibe, beschäftigt sich mit den Folgen, die dieses Dilemma für die Amts- und Mandatsträger ebenso wie für die Bevölkerung hat, die von ihnen regiert wird. Die Macher der Dokumentation haben zu diesem Zweck zehn Spitzenpolitiker interviewt, worauf so einiges ans Tageslicht kam, was der gutgläubige Wähler kaum glauben mag.

Nach dem, was die unsichtbare Sprecherin in dieser Dokumentation verlauten ließ, sei süchtig, wer die Kontrole über sein Tun verliere und die Realität nur noch verzerrt wahrnäme. Des weiteren erwähnte sie Entzugserscheinungen, Verharmlosung des Problems und die tatsächlich unter Süchtigen weit verbreitete Ansicht, allein damit fertig zu werden.

Interviewt wurden:
Helmut Kohl, CDU, Bundeskanzler a.D.
Horst Seehofer, CDU, MdB
Joschka Fischer, Die Grünen, Außenminister
Wolfgang Thierse, Bundestagspräsident
Wolfgang Schäuble, CDU, MdB
Gregor Gysi, ehem. PDS-Vorsitzender
Wolfgang Clement, SPD, Bundeswirtschaftsminister
Heide Simonis, SPD, Ministerpräsidentin Schleswig Holstein
Klaus Kinkel, FDP, Bundesaußenminister a.D.
Andrea Fischer, Die Grünen, Bundesgesundheitsministerin a.D.

Leider ist es mir aus urheberrechtlichen Gründen nicht gestattet, das volle Interview hier wiederzugeben. Die Rechte an Bild, Ton und Wort liegen beim WDR, der eine wörtliche Wiedergabe dieser Sendung verbietet. Ich hatte in der selben Nacht noch, nachdem ich die Aufnahme dieser Sendung erhalten hatte, alle Aussagen eigenhändig anhand der – legalen – Videoaufnahme in den PC getippt. Auf meine Anfrage beim WDR erhielt ich ein vollständiges Original-Manuskript der Sendung, das meinen schriftlichen Aufzeichnungen beinahe bis aufs Haar glich – aber den leidigen Zusatz enthielt, daß ich das auf keinen Fall veröffentlichen dürfe. Immerhin war das Original-Manuskript ein Beleg für die Ordentlichkeit meiner Niederschrift. So behelfe ich mir eben mit "nicht wörtlichen Zitaten", wogegen hoffentlich kein Mensch etwas einzuwenden hat. Ich hoffe, eine repräsentative Auswahl getroffen zu haben – Auszüge und Zitate zu verwenden ist, wenn als solche gekennzeichnet, bekanntlich legal.

Nach meiner Beurteilung äußerten sich die interviewten Politikerinnen weitaus ehrlicher als die Männer. Beide Frauen gestanden rundweg ihre Abhängigkeit ein. Frau Simonis, die damals noch in Amt und Würden weilte, gestand ganz offen, daß ihre Abhängigkeit am schlimmsten zum Ausdruck käme, wenn sie mit einem Schlag entwöhnt werden müßte, wenn sie also zurücktreten oder nicht wiedergewählt werden würde. Wie weit sie dafür gehen würde, daß dieser Fall nicht eintritt – darüber ließ sie den Zuschauer in Unkenntnis.

Der ehrlichste unter den Männern war eindeutig Horst Seehofer. Ganz zu Anfang der Sendung erklärte er ohne Umschweife, daß Politik süchtig mache, daß sie wirklich eine Droge sei. Er spüre Entzugserscheinungen, wenn er zu lange nichts mit seinem Beruf zu tun habe. Am witzigsten war seine Beschreibung der Situation im Urlaub, wo er es einfach nicht lassen kann, sich telefonisch darüber zu informieren, ob er noch gefragt sei. Auch Schäuble schlug in diese Kerbe, indem er Politik als eigentlich unter die Suchtkrankheiten gehörig bezeichnete.

Kohl gab sich – wie wir das von ihm kennen – pathetisch und meinte, daß die größte Anziehung der Politik darin bestünde, daß sie eine Chance darstelle, etwas zu gestalten und zu bewegen. Wie nebenbei erwähnte er, daß diese Gestaltung immer mit Macht zu tun habe. Später gab er zu, daß die Öffentlichkeit, die einem Politiker zuteil wird, natürlich auch ein Stück Rausch sei und das ihm das gut tue, wie er verschmitzt grinsend hinzufügte.

Gysi nannte eine "beachtliche Anziehungskraft" und erwähnte im Zusammenhang mit Politik die Begriffe Eitelkeit und das Gewicht der eigenen Meinung, wobei man aufpassen müsse, daß das nicht irgendwann in Wichtigtuerei ausarte.

Am interessantesten fand ich Andrea Fischer, die von Ausreden für das Vernachlässigen der Kinder oder der Ehe sprach, z.B. "ich mache hier was Bedeutendes". Sie sehe das heute schärfer, meinte sie, weil sie inzwischen sehr viel darüber nachgedacht habe. Ihrer Ansicht nach sei das heutige Umfeld der Politik nicht dazu angetan, nette Menschen zu produzieren.

Um die Geduld der Rechte-Inhaber nicht weiter zu strapazieren, finde ich hier ein (abruptes?) Ende und verweise auf die Redaktion des WDR, die Ihnen bei Interesse womöglich das Manuskript per Email zusenden wird (ich hab's damals erhalten) oder gar den Film auf CD:
sonderprojekte.fernsehen@wdr.de
Ich darf es ausdrücklich nicht weitergeben.

Immerhin sind heute schon einige Politker – vielleicht aufgrund der ständig zunehmenden politischen Skandale, vielleicht auch, weil psychologische, soziologische und überhaupt das menschliche Bewußtsein betreffende Diskussionen zunehmen – so weit, daß sie sich diese Ehrlichkeit erlauben. Ob und wie weit wer mit diesem Thema kokettiert hat, um sich beliebt zu machen, vermag ich nicht zu beurteilen.