20. Januar 2008
Projektion und Selbsthaß
Was geschieht beim Unterdrücken eigener Impulse?

Ein Ich ist um so stärker, je mehr es wahrnimmt und verarbeitet, um so schwächer, je schwächer diese Funktion durch Störungen wird. Je schwächer das Ich wird, umso stärker wird das Über-Ich und umso gehorsamer der Untertan. Der Untertan ist aber beleibe nicht nur gehorsam ...

Wenn ich etwas in meinem psychischen (man sagt auch: seelischen) Bestand Befindliches unterdrücke, wird das im Unterschied zur Unterdrückung anderer Menschen als Selbstaggression bezeichnet. Unterdrückung meines Eigenen, Eigentlichen betrifft immer meine Wahrnehmung, entweder die von Außenreizen oder die gewisser Wünsche und Impulse. Selbstunterdrückung wird, wenn sie noch nicht irreparabel vorangeschritten ist, als schmerzliche Notwendigkeit wahrgenommen: sie hinterläßt einen Haß auf mich selbst, auf die unerwünschten eigenen Regungen, auf die als schmerzlich empfundene scheinbare Unvollkomenheit meines eigenen Selbst, das Unerwünschtes wahrnehmen möchte, das mich in Konflikte stürzen möchte, vor denen ich Angst habe. Deshalb muß ich permanent einen Teil meiner Person am Boden halten.

Weil dieser niedergehaltene Impuls aber ein untrennbarer Teil meines Selbst ist, tut die Selbstunterdrückung sehr weh – weshalb ich erst wieder froh bin, wenn ich es endlich geschafft habe, den unerwünschten Impuls automatisch niederzuhalten und so endlich einen stabilen Zustand dauerhafter Verblödung erreicht habe. Der Schmerz läßt nach, weil ich den unterdrückten Teil nun als etwas Fremdes, Unerwünschtes einstufen kann, das kein Recht auf Ausdruck und Leben hat, und das deshalb selber schuld ist, nun im Keller zu sitzen, wo ich's nicht mehr sehen muß. Auch bemerke ich abolut nichts von der oben erwähnten Ich-Schwächung, ganz im Gegenteil: ich fühle mich jetzt stärker. An den Stellen, wo das Ich zurückgewichen ist, hat sich nämlich sogleich das Über-Ich triumphierend breitmacht, sozusagen übergangslos, von mir unbemerkt.

Alles wieder in Butter, ich atme erleichtert auf und habe keine Angst mehr, unangenehm aufzufallen. Man liebt mich wieder, ich ernte Anerkennung und Respekt, lasse mir die Haare schneiden und rasiere mich gründlich, schlüpfe in bessere Klamotten und vergesse auch nicht Deo, Haarwasser und After Shave. Wie aus dem Ei gepellt fühle ich mich nun wieder als Teil der Gesellschaft, angepaßt und abgerundet. Ich bin eins mit der großen Masse, wir sind viele, mir kann gar nichts mehr passieren.

Was aber, wenn ich nun, an nichts Böses denkend, plötzlich einem liderlichen Menschen begegne, der mich mit seiner widerwärtigen Disziplinlosigkeit ganz unvorbereitet an das unterdrückte Eigene erinnert? Was wohl? Ich werde erstmal höchst ärgerlich auf die verantwortungslose Nachlässigkeit dieses Subjekts reagieren. Was erlaubt der sich eigentlich? Was glaubt der wohl, wer er ist, daß er diesen schändlichen Trieben gestattet, sich zu entfalten? Meine Ärgerlichkeit entwickelt sich jetzt schnell zu einer ausgeprägten Abneigung gegen diesen Menschen, der es wagt, in meiner Gegenwart Gefühle zu zeigen, die ich längst als schädlich und abstoßend erkannt und deshalb erfolgreich ausgemerzt habe. So ein Schwächling! Weiß der sich nicht zu benehmen? Der kann wohl sein Wasser nicht halten! Dem zeig ich's, aber richtig! – wenn ich kann ... wenn nicht, dann zeig ich's ihm trotzdem, dann mach ich ihn schlecht, schwärze ihn an, beschimpfe ihn, schmeiß ihn raus oder – gehe weg.

Tatsächlich widerfährt mir aber folgendes: die Begegnung mit einem anderen Menschen, der etwas lebt, was ich in mir unterdrücke, bewirkt, daß meine einstige Selbstverstümmelung wieder zu schmerzen beginnt. Mein Ärger auf diesen Menschen entsteht als direkte Folge einer Störung meines inneren Gleichgewichts. Der darauf folgende Impuls besteht in dem Wunsch, diese Störung so schnell es geht wieder zu beseitigen.

Diesen Vorgang nennt die Psychoanalyse Projektion: Die Verfolgung des verdrängten Eigenen im Anderen. Die Projektion kann praktisch alles zum Inhalt haben, was Menschen zu verdrängen in der Lage sind. So könnte ein Mann, der sein sexuelles Verlangen einer bestimmten Frau gegenüber verdrängt, sich ohne gegebenen Anlaß von dieser Frau sexuell belästigt fühlen. Ein anderes Beispiel wäre z.B. die verdrängte Lust an Schlamm und Schmutz, die sich in der häufigen Zuweisung des Wortes "du dreckiger ..." in Erinnerung bringt.