12. Mai 2004
Der nekrophile Charakter
Kurze Abhandlung über den Begriff der Nekrophilie

Vermutlich ist den meisten dieser Begriff – wenn überhaupt – nur im Zusammenhang mit der gleichnamigen sexuellen Perversion bekannt: Sex an und mit weiblichen Leichen. (In allen Fällen, von denen ich bisher gelesen habe, waren es ausschließlich Männer, die solche Handlungen begingen.) Es existiert aber noch eine weitere Bedeutung.

Das griechische Wort nekros bezeichnet einen Leichnam, etwas Totes und die Bewohner der Unterwelt. Im Lateinischen nex, necs einen gewaltsamen Tod oder Mord. Unverkennbar bezieht sich nekros nicht auf den Tod, sondern auf das Tote, den Leichnam und den Ermordeten (dessen Tod man anscheinend von einem natürlichen Tod unterschieden hat). "Sterben" und "Tod" haben eine andere Bedeutung; beides bezieht sich nicht auf den Leichnam, sondern auf den Vorgang des Sterbens. Die diesbezüglichen Worte heißen im Griechischen thanatos, im Lateinischen mors und mori. Die englischen Worte die und death (sowie die deutschen Worte "Tod" und "tot" gehen auf die indogermanische Wurzel dheu, dhou zurück (nach Kluge's Handbuch der Ethymologie). Das Gegenstück nur Nekrophilie ist die Biophilie, die Liebe zum Leben und zum Lebendigen.

In der Psychologie bezeichnet der Begriff "Nekrophilie" eine Charakter-Deformation, wovon die bereits genannte sexuelle Perversion lediglich eine der möglichen Ausprägung darstellt, die wiederum in zwei Unterabteilungen zerfällt: die sexuelle (Sex mit Leichen) und die nichtsexuelle Nekrophilie (Leichen anfassen, in ihrer Nähe sein, in sie hineinkriechen, speziell sie zerstückeln wollen). Die nekrophile Charakter-Verzerrung ist im Grunde eine Steigerung und Verschlimmerung des autoritären Charakters, auch als Sadomasochismus bezeichnet, hat aber dennoch andere Ursachen als letztgenannter. Bevor die Psychoanalyse damit begann, die Ursachen diverser Neurosen, Psychosen und auch sexueller Perversionen zu untersuchen, wurde "nekrophil" ausschließlich für Personen mit Neigungen zur tätlichen Nekrophilie, also zur sichtbaren Perversion, verwendet. Einige Psychoanalytiker wie beispielsweise Erich Fromm fanden aber heraus, daß diese extremen Handlungen lediglich die Spitze einer Entwicklung markieren, die sich schon lange vor dem Ausbrechen einer solchen Neigung im Charakter des jeweiligen Menschen etabliert hat. Bei manchen Menschen, in denen eine nekrophile Neigung durch ein "passendes" Trauma (z.B. Tod der Geliebten) verstärkt wurde, kann sich dann unter Umständen jene sexuelle Perversion entwickeln, die laut Berichten vor allem aus dem vorletzen und dem Ende des letzten Jahrhunderts meist von Leuten begangen wurden, die irgendwie beruflich oder sonstwie mit Leichen zu tun hatten, da sich aus sehr verständlichen Gründen nur sehr begrenzte Möglichkeiten bieten, diese Perversion zu befriedigen. Die Leichenberufe (Totengräber, Leichenbeschauer etc.) zogen daher schon immer Leute an, die eine solche Neigung fühlten.

Nun aber wieder zurück zur zweiten Form der Nekrophilie, die oberflächlich betrachtet nicht mit Sexualität verquickt scheint. Sie äußert sich in "Handlungen reinen Zerstörungsdranges" (Fromm), die aus einer inneren fatalen Destruktivität stammen. Die erste belegte Verwendung des Begriffs "Nekrophilie" in diesem zweiten Sinne stammt von 1936 (Beginn des spanischen Bürgerkrieges) vom spanischen Philosophen Miguel de Unamuno, anläßlich einer Rede des nationalistischen Generals Millán Astray in der Universität von Salamanca, wo Unamuno damals Rektor war. Das Lieblingsmotto des Generals lautete Viva la muerte ("Es lebe der Tod"), und einer seiner Anhänger rief dieses Motto aus dem Hintergrunde des Saales. Als der General seine Ansprache beendet hatte, erhob sich Unamuno und sagte:

Gerade eben habe ich einen nekrophilen und sinnlosen Ruf gehört: "Es lebe der Tod!" Und ich, der ich mein Leben damit verbracht habe, Paradoxe zu formulieren, die den verständnislosen Zorn anderer erregt haben, ich muß Ihnen als Fachmann sagen, daß mich dieses ausländische Paradoxon abstößt. General Millán Astray ist ein Krüppel. Ich möchte das ohne jeden abschätzigen Unterton sagen. Er ist Kriegsversehrter. Das war auch Cervantes. Leider gibt es gerade jetzt in Spanien viele Krüppel. Und bald wird es noch mehr geben, wenn uns Gott nicht zu Hilfe kommt. Es schmerzt mich, denken zu müssen, daß General Millán Astray uns die Psychologie der Massen diktieren würde. Ein Krüppel, dem die geistige Größe eines Cervantes fehlt, sucht sich gewöhnlich dadurch eine fragwürdige Erleichterung, daß er alles rings um sich her verstümmelt. (M. de Unamuno, 1936)

Da konnte sich Millán Astray nicht länger zurückhalten und rief: "Abajo la inteligencia!" ("Nieder mit der Intelligenz!") "Es lebe der Tod!" Und die Falangisten applaudierten begeistert. Unamuno fuhr fort:

Es ist dies der Tempel des Intellekts. Und ich bin sein Hohepriester. Sie sind es, die diesen heiligen Bezirk entweihen. Sie werden siegen, denn Sie verfügen über mehr als genug brutale Macht. Aber sie werden niemand zu ihrer Ansicht bekehren. Denn um jemand zu seiner Ansicht zu bekehren, muß man ihn überzeugen. Und um zu überzeugen, brauchten Sie etwas, was Ihnen fehlt, nämlich Vernunft und Recht im Kampf. Ich halte es für zwecklos, Sie zu ermahnen, an Spanien zu denken. Mehr habe ich nicht zu sagen. (M. de Unamuno, 1936)

Fromm hatte diesen Begriff von Unamuno übernommen und das Phänomen der charakterologischen Nekrophilie seit 1961 studiert. Seine theoretischen Auffassungen hat er in der Hauptsache aus der Beobachtung von Personen in der Analyse gewonnen. Die Untersuchung gewisser historischer Persönlichkeiten – Hitlers zum Beispiel, der ein ausgeprägter nekrophiler Charakter war –, die Beobachtung von Einzelpersonen, das Studium des Charakters und des Verhaltens sozialer Klassen haben ihm zusätzliche Daten für die Analyse des nekrophilen Charakters geliefert. Aber so sehr seine klinischen Beobachtungen ihn auch beeinflußt haben, so glaubte er doch, daß der entscheidende Impuls von Freuds Theorie des Lebens- und Todestriebes ausging. Fromm war von seiner Auffassung tief beeindruckt, daß der Lebenstrieb und der Todestrieb die beiden fundamentalsten Kräfte im Menschen sind; aber mit Freuds theoretischer Erklärung dafür konnte er sich nicht befreunden. Trotzdem hat ihn Freuds Theorie veranlaßt, klinische Daten in neuem Licht zu sehen, seine Auffassung neu zu formulieren – und so zu bewahren, allerdings auf einer anderen theoretischen Grundlage, auf klinische Daten begründet, die, wie er zeigt, die Verbindung mit Freuds früheren Befunden über den analen Charakter (der vorwiegend hortend, geizig, ordentlich und sauber ist) herstellen.

Die Nekrophilie kann man im charakterologischen Sinn definieren als das leidenschaftliche Angezogenwerden von allem, was tot, vermodert, verwest und krank ist; sie ist die Leidenschaft, das, was lebendig ist, in etwas Unlebendiges umzuwandeln, zu zerstören um der Zerstörung willen; aber auch das ausschließliche Interesse an allem, was rein mechanisch ist. Es ist die Leidenschaft, lebendige Zusammenhänge zu zerstückeln bzw. die Angst vor dem Lebendigen.

Die Sprache eines ausgeprägt nekrophilen Menschen ist dadurch gekennzeichnet, daß er vorwiegend Worte benutzt, die sich auf Zerstörung, auf Exkremente und Toiletten beziehen. Wenn auch das Wort "Scheiße" sehr häufig gebraucht wird, so sind doch jene Leute leicht auszumachen, die es zu ihrem Lieblingswort gemacht haben und es auffallend häufig anwenden. Viele Nicknames in Foren und Chaträumen haben eine direkt an Zerstörung erinnernden Inhalt und Klang.

Von Lewis Mumpford stammt der Zusammenhang zwischen Destruktivität und machtzentrierten Megamaschinen, wie sie vor mehr als 5000 Jahren in Ägypten und Mesopotamien existierten. Diese mega-mächtigen Gesellschaftssysteme haben viel mit den heutigen Megagesellschaften gemein. Mumford schrieb 1967:

Ihrem Wesen nach waren die Instrumente der Mechanisierung vor fünftausend Jahren bereits losgelöst von menschlichen Funktionen und Zwecken, die nicht der ständigen Steigerung von Ordnung, Macht, Vorausbestimmbarkeit und vor allem der Kontrolle dienten. Mit dieser protowissenschaftlichen Ideologie Hand in Hand ging eine entsprechende Reglementierung und Degradierung der einst autonomen menschlichen Tätigkeiten: "Massenkultur" und "Massenkontrolle" tauchten hier zum ersten Male auf. Mit sarkastischem Symbolismus waren die größten Erzeugnisse der Megamaschine in Ägypten kolossale Gräber, die von mumifizierten Leichen bewohnt waren, während später in Assyrien – wie auch immer wieder in sämtlichen, sich ausdehnenden Weltreichen – eine Wüstenei zerstörter Dörfer und Städte und vergifteter Boden das Haupt-Zeugnis technischer Leistungsfähigkeit war: der Prototyp ähnlicher "zivilisierter" moderner Greuel (L. Mumford, 1967).

Die heutige Hinwendung der Masse zu nekrophilen Charakterstrukturen beschreiben Fromm, Pongratz, Adorno, Ziehe, Häsing, Böckelmann und andere zeitgenössische Gesellschaftskritiker ungefähr folgendermaßen:

Es sind die Sozialisations- und Assimilationsbedingungen der hochtechnisierten Welt, die die Energien der Gesellschaftsmitglieder in einer paradoxen, selbstzerstörerischen Form binden und den nekrophilen "homo mechanicus" (Fromm), den Automatenmenschen hervorbringen. Materiell belohnt wird gewissermaßen, wer sich am erfolgreichsten zu einem Warenartikel degradiert (regrediert) und wer am erfolgreichsten seine die Produktion störenden Gefühle und Impulse unterdrückt, wer sich also einem gefühllosen Automaten am weitesten annähert. Davor war der sadomasochistische Persönlichkeitstyp generell der wirtschaftlich Erfolgreiche, der zwar das soziale Elend, das die Einführung seiner Manufaktur-Fabriken schuf, noch wahrnahm, der sich aber daran erfreuen konnte, wenn andere litten. Der nekrophile Charakter hat auch daran keine Freude mehr, er möchte alles leblos geordnet, sauber aufgereiht und bereit für die Zerstörung sehen. Anders ausgedrückt: dem nekrophilen Charakter genügen zur Angstabwehr und Selbststabilisierung nicht mehr die sadistische Objektkontrolle, die zwar quälen will, aber nicht töten, weil sie ja sonst sich selbst ihres Genußobjektes berauben würde. Der Nekrophile ist wie ein totes Stück Holz, das ganz tief drinnen noch etwas fühlt, aber sonst keine als wirklich empfundene Verbindung zum Außen empfindet, so daß er das Außen nur als Bedrohung erleben kann. Fromm:

Wenn niemand außer mir existiert, brauche ich andere nicht zu fürchten, und ich brauche keine Beziehungen mit ihnen einzugehen. Indem ich die Welt zerstöre, rette ich mich davor, von ihr zerschmettert zu werden.

Beim nekrophilen Charakter greift quasi der Defekt der Charakterstruktur noch weitaus tiefer in den Menschen ein, die regressive Tendenz ist noch intensiver und damit sind die ausgelösten archaischen Ängste noch überwältigender und die vernichtenden Energien noch unkontrollierbarer. Wenn wir nun die Megamaschine des allmächtigen Staatsapparates dem kleinen Bürger gegenüberstellen und uns ausmalen, welche Angst und Ohnmacht er angesichts dieses Riesenapparats empfinden muß, dann wird verständlich, warum immer mehr Menschen sich in irgendwelche Phantasien flüchten, in Drogenkonsum (Alkoholismus ist viel viel weiter verbreitet als man gemeinhin annimmt, absolute Nicht-Trinker sind die Ausnahme), sexueller Ausschweifung und sonstwelchen Kicks, die ihnen wenigstens ab und an noch das Gefühl vermitteln, sie seien lebendig. Daß ihr, die ihr das jetzt lest, das alles nicht so seht und empfindet, glaub ich euch aufs Wort, denn wir Menschen haben die unheimliche Fähigkeit, alles das auszublenden, was uns unangenehm erscheint, indem wir es unter anderem zurechterklären (rationalisieren) oder gekonnt wegschauen, weghören, wegfühlen.

So kommt es dann zu diesen destruktiven Verhaltensweisen wie beispielsweise in jenem Artikel eines deutschen Diskussionsforums, wo eine Userin ihren ganzen Mut zusammennahm, um über ihren Therapiebeginn zu schreiben und dafür regelrecht virtuell gesteinigt wurde. User, die ihr beistehen wollten, wurden als "edle Möchtegern-Ritter" verunglimpft. Mir tut es in der Seele weh, wenn ich sehe, wie gefühl- und rücksichtslos Menschen mit anderen umgehen, wenn ich erkenne, wie gefühllos sie selber sein müssen, wieviel Angst vor Gefühl in jenen herrschen muß, daß sie sich zu solchen Auswüchsen hinreißen lassen. Diese Gefühllosen sind nicht nur dumm, sie sind quasi Zombies, die alles zerfetzen möchten, was nach Lebendigsein und Heilung aussieht. Davor haben sie höllische Angst! Adorno nannte das die "Gesundheit zum Tode" (1951). Die vermeintlich Gesunden, die so abfällig auf Menschen reagieren, die psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nehmen, haben sie selber bitter nötig. Diese Gesunden, die sich vor Blut ekeln, aber gerne jeden Knopf zu drücken bereit sind: das popular girl und der regular guy ... "Keine Forschung reicht bis heute in die Hölle hinab, in der die Deformationen geprägt werden, die später als Fröhlichkeit, Aufgeschlossenheit, Umgänglichkeit, als gelungene Einpassung ins Unvermeidliche und als unvergrübelt praktischer Sinn zutage kommen." (Th. W. Adorno 1951) Das ist genau der Nekrophile von heute, er fällt nicht auf und paß in jeden Rahmen des gerade aktuellen technologischen Standards, der die soziale Lebenswelt durchsetzt und normt.

Herbert Marcuse hat schon 1967 festgestellt, daß Technik und Wissenschaft immer umfassender in den Prozeß der Konstitution des Subjekts verwickelt sind. Mit anderen Worten: Technik und Wissenschaft sind längst nicht mehr auf die materielle Produktion beschränkt, sondern sehr direkt in der Bildung der Charaktere unserer Gesellschaft verstrickt. Das Produkt ist die technologische Lebensform. Habermas ergänzte 1968: "Technologie und technokratisches Bewußtsein rücken dabei in die Position ein, die ehedem herrschaftsstabilisierenden Ideologien zukam. Doch wirken sie unwiderstehlicher und weitreichender als zuvor, gerade weil sie die alte Gestalt von Ideologie abstreifen und zur heute dominanten, eher gläsernen Hintergrund-Ideologie werden." Diese Ideologie ist so gut wie keiner Kritik mehr zugänglich. Baruzzi schreibt 1973 gar von einer "maschinellen Vorstruktur" der Wirklichkeitsbewältigung, aus tiefenhermeneutischer Perspektive betrachtet, die sich wie ein Schatten auf Bewußtsein und Unterbewußtsein der Menschen legt. Er meint damit, daß sich die Psyche des Menschen in immer engere, maschinell und unlebendig anmutende Formen hineinentwickelt, je weiter die technologische Entwicklung fortschreitet und je stärker diese Entwicklung die Lebensbedingungen der Menschen bestimmt. Sind wir nicht gerade heute im Zeichen allgemeinen Sozialabbaus und gestiegener Zumutbarkeit soweit, daß wir, wie von uns erwartet wird, uns vollkommen ganz und gar der Maschine unterzuordnen?

Wenn also die moderne Technik zum Nährboden nekrophiler Tendenzen wird, dann hauptsächlich deshalb, weil sie den traditionellen Rahmen des wirtschaftlich-industriellen Gefüges sprengt, indem sie auf die soziale Lebenswelt der Menschen übergreift und sich letztere unterordnet. Wir dürfen heute doch nicht einmal mehr entscheiden, ob wir krank sind, egal wie wir uns fühlen. Erst wenn die Maschine (der Arzt, der nach seinen Vorschriften handelt, deren Einhaltung ihm seinen Lebensunterhalt sichert) sagt, ja, du bist krank, erst dann dürfen wir uns einer Genesung zuwenden.