22. April 2006
Nur meine Meinung ...
Sind Meinungen wirklich frei?

Die im Grundgesetz verankerte Meinungsfreiheit zielt vor allem auf die Freiheit der Verlage und Mediengewaltigen, ihre Schriften und Sendungen einer Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Privatleute, wie wir es hier zum allergrößten Teil sind, haben aus Mangel an entsprechenden Mitteln nicht die Möglichkeit, ihre Ansichten einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren und auch weitaus weniger Möglichkeiten, die Äußerung ihrer Meinung juristisch durchzusetzen. Das könnte sich mit der weiteren Verbreitung des Internet durchaus ändern ...

Zudem zählen einzelne Privatmeinungen unbekannter Individuen im täglichen Kampf der Massenmedien um den heiß umkämpften Meinungsmarkt so gut wie gar nichts. Das unbekannte Individuum hat mit seiner Meinung quasi keinen Einfluß auf die sog. "öffentliche Meinung".

Selbstverständlich kann jeder, der über eine eigene Meinung verfügt, diese – soweit er damit gegen kein Gesetz verstößt – ohne die Gefahr staatlicher Sanktionen dort äußern, wo ihm das gestattet ist. Dabei stellt sich für mich jedoch häufig die Frage, ob es sich denn wirklich um eine eigene Meinung handelt oder nicht vielmehr, wie in den meisten Fällen vermutet werden darf, um eine unreflektiert übernommene Ansicht, insbesondere wenn es sich um komplexe Zusammenhänge handelt.

Der heutige Mensch fühlt sich meist sofort ausgesprochen minderwertig, wenn er zu einem gegebenen Thema keine Meinung vorzuweisen hat. Um sich aber nicht ständig "nackt" und angreifbar fühlen zu müssen, nimmt der Großteil der Massen regelmäßig Zuflucht zu den Massenmedien, um sich wenigstens mit einer Meinung von der Stange zu bekleiden. Im Gegensatz dazu wird schnell mal gegoogelt, um sich den Anschein einer Meinung zu verschaffen. Dagegen ist – betrachtet man diese Vorgehensweise gesondert ohne weiteren Bezug zu gesellschaftlichen Gegebenheiten – auch nicht grundsätzlich etwas einzuwenden. Bedenklich wird das ganze aber, wenn man sich klarmacht, daß kurze Zeitungs-Artikel und einseitige Internet-Texte oft keine Hintergrund-Informationen bieten, um das dort Geschriebene richtig einordnen zu können. Natürlich befriedigt diese Tatsache in der Regel das entsprechende Bedürfnis des Suchenden, weil der ja meist nach einer fix&fertig-Meinung Ausschau hält. Auf diese Weise entstehen Klischees und Vorurteile.

Man kann also ohne weiteres sagen, daß in unserer Gesellschaft ein gewisser Meinungszwang herrscht, der freie Meinungsbildung nicht etwa fördert, sondern im Gegenteil immens behindert. Das Fatale an der ganzen Sache liegt aber in der sogenannten Beharrungsneigung des Menschen, bei einer einmal geäußerten Meinung zu bleiben, um sich selbst den Anschein von Konsistenz (im Sinne einer konsequenten Haltung) zu geben. Schon Leonardo da Vinci hat gesagt, daß sich zu widersetzen am Anfang immer viel leichter ist als am Ende. Zwei kanadische Psychologen (Knox & Inkster, 1968) fanden heraus, daß Pferdewetter nach dem Setzen ihrer Einsätze eine weitaus größere Gewinn-Zuversicht zeigen, als davor, obwohl die Gewinnchancen des Pferdes durch das Setzen nicht gestiegen sind.

Robert B. Cialdini, ein bekannter amerikanischer Psychologe, schildert in seinem Buch "Die Psychologie des Überzeugens" den verhängnisvollen Zwang, einen Bruch mit früheren Entscheidungen zu vermeiden:

Seit langem wissen Psychologen um die Macht des Konsistenzprinzips, menschliches Handeln zu steuern. Bekannte Theoretiker wie Leon Festinger (1957), Fritz Heider (1946) und Theodore Newcomb (1953) betrachteten das Streben nach Konsistenz als zentrales psychologisches Motiv. Ist dieser Hang zur Konsistenz wirklich so stark, daß er uns dazu bringt, Dinge zu tun, die wir ansonsten nicht täten? Diese Frage kann man nur mit ja beantworten. Das Bestreben, konsistent zu sein (und nach außen hin zu erscheinen) ist die Grundlage für eine äußerst wirkungsvolle Waffe der Einflußnahme und führt oft dazu, daß wir etwas tun, womit wir eindeutig gegen unsere ureigenen Interessen verstoßen. ... Konsistenz ist deshalb ein so starkes Motiv, weil sie unter den meisten Umständen sinnvoll und nützlich ist. Inkonsistenz dagegen wird in der Regel als wenig wünschenswerte Persönlichkeitseigenschaft betrachtet. Jemand, dessen Überzeugungen, Aussagen und Handlungen im Widerspruch zueinander stehen, wird als verwirrt, falsch oder gar geisteskrank angesehen. Ein hoher Grad an Konsistenz dagegen wird normalerweise mit persönlicher und intellektueller Stärke in Verbindung gebracht und mit Logik, Vernunft, Stabilität und Ehrlichkeit gleichgesetzt.

Nun wird man aber nicht einzig wegen fehlender Konstistenz oder dem völligen Fehlen einer Meinung zu einem gegebenen Thema angefeindet, sondern weitaus häufiger durch das Äußern einer gegensätzlichen Meinung – sei sie im Gegensatz zum Mainstream oder auch nur zum jeweiligen Kontrahenten. Dabei läßt sich häufig die Beobachtung machen, daß meist das verteidigt wird, was den eigenen Lebensbereich konstituiert. Eine solche Verteidigung ist meist daran zu erkennen, daß der Verteidiger auf Einwürfe seines Gegners, die einen alternativen Blickwinkel erfordern würden, grundsätzlich nicht eingeht, sondern sich nur jene Punkte für seine Kritik herauspickt, die erfolgversprechend auf ihn wirken. Das häufig darauf folgende Anfeinden ist angewandte Rabulistik, die dann zum Einsatz kommt, wenn kein wirkungsvolles Argument mehr zur Hand ist. Der Anfeinder kann es sich dabei nicht leisten, auf die Argumente des Gegners einzugehen und greift, wie im Gerichtssaal, zum Mittel der Verächtlichmachung seines Gegners, um ihn vor den Geschworenen resp. dem Publikum unglaubwürdig zu machen. Dabei schrecken geübte Rabulistiker vor absolut gar nichts zurück. Manche gehen daher sogar so weit, Tatsachen über das Privatleben des Gegners zu erfinden – was man Verleumdung nennt und was bei Anzeige geahndet werden kann. Eine erschöpfende Darstellung rhetorischer Tricks, die bei geschicktem Einsatz auch dem, der sich im Unrecht befindet, die Möglichkeit verschaffen, recht zu behalten, findet sich in Arthur Schopenhauers Erisischer Dialektik.

Mein Interesse gilt schon lange der Frage, wie es eigentlich dazu kam, daß die einstmals so hochgelobte deutsche Streitkultur derart verkommen ist, daß man heute so gut wie keine sachliche Diskussion mehr öffentlich führen kann. Dabei bin ich auf die allgegenwärtigen Massenmedien gestoßen, die zwar nicht letzte Ursache, aber doch ein gewaltiger Faktor im Prozeß der systematischen Menschenverdummung sind.

Das Gros der Individuen in modernen Industriestaaten hat zu den meisten gesellchaftlichen Themen neben der öffentlichen Meinung tatsächlich nichts anderes an der Hand. So ist es nicht verwunderlich, daß es bei den meisten Leuten längst zum guten Ton gehört, das zu vertreten, was sie für die öffentliche Meinung halten. Wer sich nicht daran hält, löst in diesen Menschen nur allzu leicht die Empfindung unsittlichen Betragens aus. In vielen Kreisen ist es gar zur Pflicht geworden, sich an die jeweilige lokale Version der öffentlichen Meinung zu halten. Daß die öffentliche Meinung durch die Massenmedien vorgegeben wird, darf man weiten Kreisen heute nicht mal mehr erzählen, will man sich nicht selber ausschließen. Insbesondere in den Büros der Angestellten zählt es zur unabdinglichen Sittsamkeit, genau zu wissen, was die lokale Version der öffentlichen Meinung vom Einzelnen genau erwartet. Daß der Einzelne der öffentlichen Meinung gerade im beruflichen Umfeld weitgehend entspricht, zumindest was seine bewußten Äußerungen betrifft, darf ohne weiteres analog der Frage des Vorgesetzten, ob ihm die Arbeit denn auch Spaß mache und die er gefälligst mit einem freudigen Ja zu beantworten hat, gesehen werden.

Die meisten Menschen sind heute den Massenmedien ziemlich wehrlos ausgeliefert. Das heißt, sie sind nicht mehr in der Lage – sei es aus Zeit- oder Energiemangel, sei es aus Mangel an Wissen darüber, wo und wie man einzelne Behauptungen nachprüft –, sich ein eigenes Bild zu machen. Sie nennen daher das Resultat der Übernahme ungeprüfter Aussagen ihre eigene Meinung und lassen es bequem dabei bewenden ... und was der Mensch einmal sein eigen nennt, das gibt er so leicht nicht wieder her.

Nur sehr wenig von unserem Wissen über die gesellschaftlichen Gegebenheiten der Welt haben wir durch eigene Erfahrung gelernt. Die meisten unserer bildhaften Vorstellungen üper die Welt – unserer inneren Landkarte – haben wir von eben diesen Informationsorganen empfangen. Das fängt schon in der Schule mit den Schulbüchern an, setzt sich im Studium fort und findet beim Nicht-Akademiker seinen Niederschlag gewöhnlich im täglichen TV-Konsum. Nicht selten führt das so weit, daß wir nicht einmal das glauben, was wir mit eigenen Augen gesehen haben, bevor wir es nicht in der Zeitung stand, im Radio zu hören oder im TV zus sehen war. Doch die Informationsorgane versorgen uns nicht nur mit Nachrichten, sie beeinflussen und leiten auch unsere Erfahrungen. Unsere Maßstäbe für Glaubhaftigkeit und Wahrheit, unsere Vorstellung von der Wirklichkeit werden mehr und mehr von diesen Masseninformationsmitteln statt von unserer eigenen Erfahrung bestimmt. Daraus folgt, daß sogar dann, wenn der Einzelne die Ereignisse persönlich und direkt miterlebt, seine Erfahrung nicht primär und direkt ist: sie bleibt auf wenige klischeeartige Vorstellungen beschränkt. Man kann das Resultat solch subtiler Indoktrination ohne weiteres mit einer eingefärbten Brille vergleichen, die nur noch ganz gewisse Spektren des Lichts hindurchläßt und deren Linse das Licht so bricht, daß sich auf der Netzhaut des Geistes eine verzerrte Wirklichkeit abbildet. Solche feststehenden Vorurteile auszurotten, um alles wieder unbefangen sehen zu können, bedarf ausdauernder und systematischer Übung.

Die Masseninformationsmittel wirken aber nicht nur auf unsere Erfahrung der äußeren Wirklichkeit ein, sie beeinflussen auch unsere Selbsterfahrung. Sie sagen uns, wer wann von wem Anerkennung zu erwarten hat. So kommt es zum Beispiel zu der häufigen Verirrung, daß Arbeitslose für faul gehalten werden, weil es die Medien so proklamieren, allen voran die Schmuddelsender, die sich nicht entblöden, ständig von Sozialbetrügern zu berichten, so daß beim kritiklosen TV-Konsumenten unweigerlich der Eindruck entstehen muß, alle Arbeitslosen wären Faulenzer.

Bei der allgemeinen Verbreitung der Massenmedien ist es inzwischen so weit gekommen, daß sie – besonders das Fernsehen – die Diskussion im kleinen Kreis verdrängen und die Möglichkeit für einen vernünftigen und gemütlichen Meinungsaustausch in der Familie oder im Freundeskreis blockieren. Das stellt eine der wichtigsten Ursachen für die Zerstörung des Privatlebens in seiner vollen menschlichen Bedeutung dar. Das ist aber auch ein wichtiger Grund für die Tatsache, daß das Fernsehen nicht nur als Erziehungsfaktor versagt, sondern sogar einen schlechten Einfluß ausübt: Es bringt dem Zuschauer oder Zuhörer die allgemeinen Ursachen seiner Sorgen und inneren Spannungen nicht zum Bewußtsein. Es hilft ihm auch nicht, Klarheit in seine nur dumpf empfundenen Ressentiments und halbdurchdachten Hoffnungen zu bringen, und es versetzt den Einzelnen auch nicht in die Lage, die Grenzen seiner beengten Umwelt zu überschreiten oder auch nur deren Bedeutung für seine Person zu erkennen.

Die Informationsorgane versorgen den Konsumenten reichlich mit Informationen und vielen Nachrichten über die Ereignisse in der Welt – man spricht heute unverhohlen von einer regelrechten Informationsflut. Diese Informationsflut befähigt den Konsumenten aber nicht, sein tägliches Leben auch wirklich mit diesen Realitäten des Weltganzen in Verbindung zu bringen. Fast jeder hält sich heute für ein natürliches Produkt seiner eigenen Fähigkeiten, seiner Erziehung und seiner Erbanlagen. Denn die Massenmedien zeigen die Zusammenhänge nicht auf, die zwischen den Informationen, die sie bieten, und den Sorgen, die der Einzelne empfindet, bestehen. Sie tragen nicht dazu bei, daß die Menschen eine rationale Einsicht in jene Spannungen erhalten, die im Einzelmenschen selber ihren Ursprung haben oder als Spannungen des gesellschaftlichen Lebens von ihm nur reflektiert werden. Im Gegenteil, sie lenken ihn ab und verringern so seine Chance, sich selber und die Welt zu verstehen. Sie lenken seine Aufmerksamkeit auf künstlich erzeugte Zwangssituationen, die innerhalb der kurzen im Programm zur Verfügung stehenden Zeit gelöst werden, meist durch eine Gewalttat oder das, was man im Fernsehen Humor nennt – die Spannungen werden dadurch eigentlich nicht gelöst – es wird nur der Eindruck einer Lösung erweckt, weil kurzfristig Spannung abgebaut werden kann. Die wichtigsten Spannungselemente, die die Ablenkung bewirken, beruhen auf der Kluft, die zwischen dem Nichthaben und dem Habenwollen irgendeines Gegenstandes oder einer schönen Frau besteht. Fast immer herrscht der allgemeine Ton angeregter Unterhaltung oder unterdrückter Spannung, aber es führt nirgendwo hin und kann niemals irgendwo hinführen.