11. November 2005
Massenmanipulation und Meinungsmache
Social Control auf hohem technischem Niveau

Wer morgens seine Zeitung aufschlägt, tut das meist voller Vertrauen in die Aufrichtigkeit und Lauterkeit der Redakteure und Journalisten. Was man schwarz auf weiß in den großen Tageszeitungen liest, gilt gemeinhin als unumstößliche Tatsache. Tatsächlich findet man – von "Revolverblättchen" wie BILD oder BZ einmal abgesehen – in den großen bundesdeutschen Zeitungen kaum offensichtliche Lügen oder "Fehldarstellungen".

Der Leser kann und will sich nicht vorstellen, daß eine Zeitung sich trauen könnte, Lügen zu verbreiten, würde doch der jeweils Geschädigte sofort juristisch dagegen vorgehen. Was aber, wenn es keinen feststellbaren Geschädigten gibt? Was, wenn die Unwahrheiten so subtil und versteckt sind, daß sie zwar ihre Wirkung nicht verfehlen, dem kritischen Verstand des Durchschnittsmenschen aber entgehen?

Der Öffentlichkeit bleiben die Wege, auf denen Informationen vom eigentlichen Geschehen über den Journalisten, weiter über den Redakteur und die Redakteurskonferenz bis zum Leser gelangen, größtenteils verborgen. Eine Beurteilung des Inhalts einer Tageszeitung hinsichtlich ihres Wahrheitsgehalts liegt nicht im Bereich der Möglichkeiten des gewöhnlichen Lesers. Er kann sich lediglich entscheiden, ob er glaubt, was er liest, oder nicht. Ich für meinen Teil halte das in einer Demokratie für ziemlich unbefriedigend. Ich kann mich noch gut an das Jahr 1984 erinnern, als die CDU/CSU lauthals ihr neues Programm "für eine freiheitliche Informationspolitik" veröffentlichte. Darin hieß es: "Demokratie ist die Staatsform, die am meisten auf Kommunikation, auf ein Höchstmaß an Öffentlichkeit und Vielfalt der Meinungen und Konkurrenz der Ideen angewiesen ist."

Daß die Wirklichkeit heute anders aussieht, scheint niemanden sonderlich zu interessieren – ja, ich habe fast den Eindruck, als sei diese Tatsache überhaupt völlig unbekannt. Dabei ist es doch leicht verständlich und nachvollziehbar, daß eine große Zeitung, die zwischen 80 und 90 Prozent ihrer Einkünfte mit Reklameseiten macht und den Rest mit dem Verkauf ihres Blattes – das also lediglich eine Werbeplattform darstellt –, weit mehr an den Werbekunden als am Leser interessiert sein muß. Mit dem Fernsehen ist es ja längst ganz genau so: die Spielfilme werden nur deshalb gezeigt, um dem Zuschauer die Werbung aufs Auge drücken zu können. Am liebsten würden die Sender 24 Stunden pro Tag Reklame senden, um ihre Werbeeinnahmen ins Unendliche zu steigern.

Würde die allgegenwärtige Produktreklame nicht funktionieren, wären die Ausgaben für Reklame nicht in diese heutigen astronomischen Höhen geschossen. Das Hamburger Abendblatt meldete heute, daß das Wachstum des Werbemarktes ("in den klassischen Medien von Fernsehen bis Plakat") in den ersten neun Monaten dieses Jahres um 4, 7 Prozent auf 13, 3 Milliarden Euro angewachsen ist. Die Zeitung beruft sich dabei auf das Hamburger Marktforschungsunternehmen Nielsen Media Research GmbH. Allein die Radiowerbung habe um ganze 20 Prozent zugenommen, 247 Millionen Euro gaben die Medienbetreiber selbst für Werbung aus, ca. 77 Millionen Euro wurden für Fax- und Telefondienste, unter welche auch die unzähligen Angebote für Klingeltöne fallen, verbraten.

Warum erzähle ich euch das? Um euch mit Statistiken zu langweilen? Nein, um auf einen Aspekt dieser riesigen Werbeausgaben hinzuweisen – 13 Milliarden in neun Monaten! –, der gewöhnlich nicht beachtet wird. Diese 13 Milliarden Euro werden von Industrie und Handel auf die Preise geschlagen, die der Kunde bezahlt. Das bedeutet, wir bezahlen die Werbung, mit der man uns unterschwellig beeinflußt, um uns zu steigendem Konsum anzuregen, um in uns Bedürfnisse für Dinge zu wecken, die wir offensichtlich nicht begehren würden, wenn es keine Werbung gäbe.

Wie Werbung wirkt

Gewöhnlich erhält man auf die Frage an jeden x-beliebigen Konsumenten, ob er durch Werbung beeinflußbar sei, ein ganz klares Nein. Es ist völlig gleich, wen ich frage: beinahe jeder glaubt, in seinen Kaufentscheidungen völlig frei von Beeinflussung zu sein – ob er im TV, in einer Zeitschrift, im Radio oder von riesigen Plakatwänden herab beworben wird, niemand habe ihn zum Kauf irgend einer Ware überredet. Und ich glaube den Leuten – auf's Wort! Ich glaube ihnen, daß sie aufrichtig davon überzeugt sind, vollkommen autonom darüber entscheiden zu können, was sie kaufen und was nicht.

Tatsächlich wirkt Werbung unterschwellig, womit gemeint ist, daß sie unterhalb der Schwelle des Wachbewußtseins ansetzt – und wir genau deshalb nichts davon bemerken. Ein gelungener Werbeclip wirkt keinesfalls einzig mit dem, was der Zuschauer bewußt mitbekommt, mit dem bestechenden Glanz blitzenden Chroms oder der Reinheit eines Frühlingsmorgens, sondern vielmehr mit unerfüllten Sehnsüchten, die er weckt. Und weil der Durchschnittsbürger selten in der Lage ist, sich diese geweckten, oft kaum eingestandenen Wünsche zu erfüllen, bleibt das künstlich hervorgerufene Bedürfnis erstmal bestehen – zumindest so lange, bis der Konsument dem Produkt, dessen Werbung seine Sehnsüchte angesprochen hatte, leibhaftig gegenübersteht. (Hinweis: das ist eine sehr vereinfachende Darstellung.) Doch dieses Produkt befriedigt das Bedürfnis, das der geweckten Sehnsucht zugrunde liegt, auch nicht, obwohl es meist eine Spannungsverminderung bewirkt. Was hat eine mit Tabak gefüllte Papierrolle, die man anzündet und deren Rauch man inhaliert, mit Freiheit, Abenteuer und Lebensfreude zu tun? Oder was hat die Limousine mit dem Rasseweib zu tun, das im Clip halb nackt die Scheiben wischt? Weder erlebt man Abenteuer, wenn man raucht, noch erotische Stunden, wenn man das umworbene Fahrzeug endlich sein eigen nennt.

Die "Lüge", auf die ich am Anfang meines Artikels zu sprechen kam, besteht also nicht darin, daß offensichtliche und leicht nachprüfbare Falschdarstellungen veröffentlicht werden, sondern vielmehr im vorgeblichen Zweck eines Massenmediums selbst. Was würde uns denn fehlen, wenn wir nicht täglich davon erfahren würden, was in der Welt so alles geschieht? Betrifft uns jede Nachrichtenmeldung persönlich? Müssen wir das alles wissen? Müssen wir uns jeden Abend irgend einen Spielfilm oder eine Serie ansehen, um uns alle 20 Minuten von lärmender Reklame – der Ton wird bei Werbung absichtlich lauter gestellt, damit man's ja nicht überhört – unterbrechen zu lassen? Doch ist es nicht von der Hand zu weisen, daß Fernsehen in allen Industrienationen längst zur Beschäftigung Nr. Eins geworden ist, was auf ein weitverbreitetes Suchtverhalten schließen läßt.

In zahlreichen Experimenten mit Hypnose wurde nachgewiesen, daß unterschwellige Suggestionen fast zwanghaft dazu führen, ihnen zu folgen. Werden Menschen nach dem Befolgen der unter Hypnose erteilten Befehle gefragt, warum sie diese Handlung ausgeführt hätten, erhalten die Experimentatoren allermeist eine rational und logisch klingende Antwort. Das heißt nichts anderes, als daß unser Verstand eine Antwort erfindet, um nicht ohne Begründung dazustehen und so den Eindruck vor sich selbst zu bewahrt, die Kontrolle zu haben.

Unterschwellige Suggestionen wirken ganz ähnlich wie Hypnose: das Wecken von Emotionen schwächt den kritischen Verstand. Zudem sind die meisten Leute abends müde von der Arbeit und deshalb schon von Haus aus nicht mehr allzu aufmerksam. Wie oft habe ich vor allem an mir selbst, aber auch an anderen während des Fernsehens eine rapide Abnahme der geistigen Aufnahmefähigkeit beobachtet. Die absichtlich schnellen Szenenwechsel in den meisten Sendungen tragen noch ihr Übriges zur kognitiven Verwirrung bei.

Manipulateure, vor allem die Professionellen, arbeiten längst mit wissenschaftlicher Akribie daran, alle Möglichkeiten der unterschwelligen Beeinflussung des Menschen durch den Menschen bzw. durch die Medien ausschöpfen zu können. Nichts ist ihnen heilig, vor keiner Idee schrecken sie zurück. Dazu werden sogenannte Marktanalysen organisiert, Probanden gesucht, die sich testen lassen und am Ende deren Reaktionen ausgewertet – auch das wieder von dem Geld, das der Kunde bezahlt, wenn er eine Ware kauft. Auch die Bezüge, die sich die Abgeordneten völlig frei und je nach Laune selbst erhöhen können und die deswegen, weil sie so dürftig ausfallen – zumindest im Vergleich mit Aufsichtsrat- und Manager-Gehältern –, Diäten genannt werden, wird von der arbeitenden Bevölkerung erwirtschaftet.

Menschen, die noch nie arbeitslos oder arm waren, können und – vor allem: wollen – sich meist gar nicht vorstellen, auf irgend eines der Dinge, die sie sich zu kaufen gewohnt sind, zu verzichten. Doch hat man sich erst einmal z.B. an den niedrigen materiellen Lebensstandard eines Hartz-IV-Empfängers gewöhnt, ohne – oder besser: um nicht ernsthaften gesundheitlichen und vor allem seelischen Schaden zu nehmen, bringt das auf ganz bestimmte Gedanken. Tatsächlich komme ich inzwischen mit sehr wenig, im Grunde mit dem Nötigsten aus, ohne meine Situation beklagenswert zu finden. Zwar kann ich mir keine Kneipengänge oder Urlaube leisten, auch kein Kino, keine Geschenke zu Weihnachten, keine Fahrkarte, um Leute zu besuchen – aber ich lebe! Ich habe zu essen und ein Dach über dem Kopf, muß im Winter nicht frieren und wohne nicht weit von der Landesbibliothek, um meinen Geist zu füttern. Bei 5 Millionen Arbeitslosen, denen gerade mal 500.000 offene Stellen gegenüberstehen, und mit meinen 45 Jahren und ohne nennenswerte Ausbildung bleibt mir doch gar nichts anderes übrig, als mich mit dem Minimum zu bescheiden. Warum dann nicht aus der Not eine Tugend machen?

Von welcher Tugend ich hier schreibe, wollt ihr wissen? Ist doch sonnenklar: wer nicht mehr im geforderten Ausmaß konsumieren kann, weil ihm nur das Nötigste bleibt, dem droht der Entzug, und ist der erst einmal überstanden (gestorben ist meines Wissens nach noch keiner daran), beginnt das lange eingeschläfert gewesene Bewußtsein, sich langsam und vorsichtig wieder zu erheben. Das führt dann zwangsläufig auch zur Wiederbelebung des kritischen Verstandes und zu Ideen, auf die man im täglichen Hamsterrad niemals gekommen wäre. So kommt es immer wieder zu dem unbegreiflichen Phänomen, daß ein Arbeitsloser, wenn er nicht schon allzu abgestumpft, also noch kein lebender Toter ist, sich zu Erkenntnissen und dem Begreifen von Zusammenhängen aufschwingt, die von noch in ihren Hamsterrädern Befindlichen verständlicherweise als äußerst befremdend und störend empfunden werden müssen. Schließlich leben die meisten Arbeiter und Angestellte heute in der ständigen Angst vor Entlassung, die der Arbeitslose schon hinter sich hat. Und wer nichts hat, der hat auch keine Angst, etwas zu verlieren. Ich bin schon heute gespannt, ob in zwei oder drei Jahren die Obdachlosen-Rate ebenso angewachsen sein wird wie heute die Werbeausgaben.