23. November 2005
Günstige Manipulations-Voraussetzungen II
Wie wir uns mit einstudiertem Rollenverhalten selbst manipulieren

Gesellschaftliches Rollenverhalten ist Selbstdarstellung. Wer sich nicht in günstigem Licht darzustellen weiß oder aus welchen Gründen auch immer das übliche Theater ablehnt, bleibt vom Gros seiner Mitmenschen unbemerkt, wird womöglich für langweilig und unscheinbar befunden.

Die einzelnen Darsteller möchten das Publikum zu der Annahme bewegen, sie besäßen tatsächlich all jene Eigenschaften und Fähigkeiten, die sie zu besitzen vorgeben. Man gibt sich liebreizend, mächtig, unbewegt-unbeeindruckt und cool, verständnisvoll, zustimmend oder überheblich, um beim Publikum oder beim jeweiligen Gegenüber eine ganz bestimmte Reaktion hervorzurufen. Meist aber möchte der Darsteller in erster Linie für seine Kunst bewundert und bestaunt werden. Das heißt nichts anderes, als daß er die einstudierte Rolle in der Hauptsache für sich selber spielt, um sich in der zu erwartenden Bewunderung sonnen zu können und daduch sein Ego aufzuwerten.

Nicht wenige Darsteller sind ohne jeden Zweifel davon überzeugt, daß sie keineswegs Realität inszenieren, sondern daß der Eindruck, den sie erzeugen, tatsächlich Realität ist. Sobald das anwesende Publikum diese Überzeugung teilt, sind im Grunde nur noch gut geschulte Soziologen und sozial weitgehend Desillusionierte in der Lage, Zweifel an der Echtheit der betreffenden Person zu empfinden. So stellt die eigene zweifelsfreie Überzeugung davon, daß man eben keine Rolle spielt, eine absolute Voraussetzung dar, um das Publikum von der eigenen "Echtheit" zu überzeugen. Der Darsteller muß also, um überzeugend zu sein, die Tatsache, daß er spielt, vollständig vergessen. So manchem gelingt dieses Vergessen so gut, daß ihm nie wieder Zweifel an seiner Rolle kommen.

Dem unbedarften und zumeist ungeschulten Publikum erscheint daher auch jener, der nur ein schwaches Interesse daran hat, seine Mitmenschen zu täuschen, oft als Zyniker oder Menschenfeind, während ihm jene, die ihre Rolle annähernd perfekt beherrschen, als aufrichtig und anständig gelten, weil diese Darsteller selbst an den Eindruck glauben, den sie hervorrufen und oft jahrelang an ihrer Täuschungstechnik arbeiten.

Es versteht sich von selbst, daß gerade jene Menschen, die von ihrer Rolle so vollständig überzeugt sind, ohne je auch nur den Hauch eines Zweifels zu verspüren (oder zuzulassen), sich mit einem ganz bestimmten inneren Konflikt konfrontiert sehen. Weil nämlich ihr eigentliches Wesen keineswegs all dem Verhalten, das ihre Rolle ständig – vor allem vor ihnen selbst – erfordert, entspricht, kommen sie nicht umhin, ständig alles zu verdrängen und zu unterdrücken, was an Emotionen aus der Tiefe ihrer Seele ans Licht strebt. Sie sind somit ständig auf der Hut vor einem unerwünschten Teil ihrer selbst. Diese ständige Anstrengung kostet immense Kraft und führt meist dazu, daß diese bedauernswerten Menschen sich sehr früh in ihrem Leben ausgebrannt und leer fühlen. Meist haben sie bis dahin aber längst vergessen, wer sie einst wirklich waren, und finden deshalb nie wieder aus ihrem eigenen Lügendickicht heraus. Man spricht auch davon, daß es sich hier um sog. regressives (auf frühere Entwicklungsstadien des Individuums zurückgreifendes) Verhalten handelt, denn in der Pubertät ist solches Desintegrations-Verhalten durchaus normal.

Hier setzt eine weitere subtile, nichtsdestoweniger weitverbreitete Manipulationstechnik an. Da die mangelnde Integration von Persönlichkeits-Anteilen zu Charakter-Defiziten führt, sind solche Menschen ziemlich einfach von außen zu beeinflussen. In vielen der verbreiteten sog. "Motivations-Bücher" für Manager und Führungskräfte, die im Grunde nichts anderes als Manipulations-Handbücher sind, wird die desintegrierte Persönlichkeit in vier Unterarten kategorisiert, um so besser die geeigneten Manipulationstechniken ableiten zu können.

1. Fehlende Integration der Emotionalität

Bei nicht wenigen Menschen kann man heute ohne weiteres ein fast vollständiges Überwiegen der "sachorientierten technischen Rationalität" über die eigene Emotionalität feststellen. Ein knallharter Geschäftsmann läßt sich unter keinen Umständen erweichen, schon gar nicht, wenn dadurch sein Profit geschmälert werden könnte. Ebenso muß ein mit allen Wassern gewaschener Politiker sein politisches Ziel unter allen Umständen erreichen, will er sich nicht als Versager fühlen. Dabei muß es ihm gleichgültig bleiben, ob seine Entscheidungen zur Vergrößerung des Lebens-Elends einiger Teile der Bevölkerung beitragen. Sowas hat ihn nicht zu kümmern, er hat hier schließlich einen harten Job zu erledigen. Ähnlich gestrickt sind Manager und Betriebsberater, die, mit dem Auftrag der "Entschlackung" und "Rationalisierung" betraut, ihre ausgereiften Manipulationstechniken dazu einsetzen, Hunderttausende um Lohn und Brot zu bringen und am Ende dafür noch eine saftige Abfindung zu kassieren. Solche Manager werden verständlicherweise nur Menschen in Führungspositionen gelangen lassen, die ihnen charakterlich ähnlich sind, also emotional unterentwickelte Macher und Karrieristen. Man sagt nicht umsonst, daß die Luft auf den höheren Stufen der Karriere-Leiter zunehmend kälter und dünner wird.

2. Abspaltung der Triebstruktur

Die menschlichen Triebe sind – nach gängiger psycho-soziologischer Theorie, die sich längst vielfach bewährt hat – Grundantriebe des Menschen, die zum Zweck der Vergesellschaftung des Individuums mittels Sozialisierung in für die Gesellschaft nützliche Kanäle geleitet werden. Um dies zu erreichen, wird im noch jungen menschlichen Individuum (Kind) ein sog. Über-Ich eingerichtet, daß die menschlichen Triebe einer sozial unschädlichen Kontrolle unterwirft. Schon ein Kind erfährt ganz deutlich, daß es zwischen dem Ich und seinen Wünschen eine Mauer errichten muß, um Liebe und Anerkennung zu erhalten. Dabei wird "sein offenes, spontanes, frei empfindendes und handelndes Selbst" (Arthur Janov) einer äußerst strengen Zensur durch das Über-Ich unterworfen. Das Kind lernt so, daß es nicht geliebt wird, wenn es sich so gibt, wie es ist, sondern nur dann, wenn es sich verhält, wie man es von ihm erwartet.

So entsteht in beinahe jedem Menschen, der in einer modernen Gesellschaft lebt, ein latenter innerer Konflikt: Der Trieb fordert und das Über-Ich verbietet. In einer annähernd "freien" Gesellschaft stellt dieser latente Konflikt jedoch kein ernstzunehmendes Problem dar, weil genug Möglichkeiten geboten werden, die Triebe dennoch zur eigenen Befriedigung auszuleben. In einer eher repressiven Gesellschaft wie der unseren entsteht meist aber eine unheilvolle Spannung zwischen Sozialität und Individualität. Viele Menschen kommen mit dieser Spannung nur dadurch zurecht, daß sie einen Teil ihrer Triebhaftigkeit ständig vor sich selbst verleugnen und einen anderen Teil rationalisiert-verdeckt ausleben. Dadurch sind die so in Schach gehaltenen Triebe zwar nicht verschwunden, entziehen sich aber dem kritischen Bewußtsein des Betreffenden. Somit ergibt sich hier ein weites Feld für Suggestionen und Wunscherweckung unterhalb der Bewußtseinsschwelle, die nicht nur von der Produktreklame weidlich ausgenutzt wird. Macht man sich einmal klar, daß pro Jahr allein in der BRD ca. 400 Milliarden Euro nur für Werbung ausgegeben werden und daß wir, die wir Ziel dieser Werbung sind, diese finanzieren, kann man sich des Eindrucks, daß wir selber die Ketten schmieden, in denen wir ein Leben lang gefangen sind, kaum noch erwehren.

3. Verdrängte Individualität und Sozialität

Ein nicht unwesentlicher Teil unserer lieben Mitmenschen löst den oben beschriebenen Konflikt zwischen Individualität und Sozialität durch eine einschneidende Entscheidung zugunsten einer der beiden. Eine weit verbreitete Variante der Abspaltung jeglicher Sozialität stellt der nach sog. "autistischen Denken" Handelnde dar: ein solcher Mensch läßt sich nur noch von seinen eigenen Wünschen leiten, ohne besondere Rücksicht auf seine soziale Umwelt. Der (pathologische) Extremfall wäre dann der autistische Mensch, der fast alles ablehnt, was von außen an ihn herangetragen wird.

In der individuellen Entstehungsgeschichte bildet sich autistisches Denken und Handeln durch früh erfahrene soziale Orientierungslosigkeit heraus: der betroffene Mensch kann mit seinen Mitmenschen nicht allzu viel anfangen, fühlt sich unwohl in größerer Gesellschaft oder Gruppe, ja, nicht wenige Betroffene empfanden schon früh die Wünsche und Interessen der anderen als Bedrohung. Meist flüchten sich solche Menschen früh in Phantasiewelten, die ihnen die fehlenden sozialen Kontakte ersetzten.

Das Gegenteil des autistischen Denkens (das nicht mit Autismus verwechselt werden sollte, obwohl es in diese Richtung strebt) ist das sog. "realistische Denken" (das gewöhnlich mit einer gesunden Wirklichkeitsorientierung gleichgesetzt wird). Hier findet man den umgekehrten Fall vor: der Betroffene verleugnet sich selbst in einem ungesunden Ausmaß zugunsten gesellschaftlicher Nützlichkeit. Am bekanntesten dürfte das weitverbreitete Helfersyndrom sein, das Menschen bis zur völligen Aufopferung für die Gesellschaft tätig sein läßt.

Ursachen dieser einseitigen Entwicklung, in deren Verlauf ein wesentlicher Teil der eigenen Individualität geleugnet und verdrängt wird, ist die weitverbreitete Unfähigkeit, wenig bis gar nichts mit sich selbst anfangen zu können. Solche Menschen benötigen auch in ihrer vermeintlichen Freizeit (in der sie keineswegs frei von diesem Zwang sind) Anleitung und Motivation, wie sie sich beschäftigen sollen. Diese Lücke macht sich längst die wohletablierte Vergnügungs-Industrie zunutze.

Weil die autistische Orientierung in unserer Gesellschaft ziemlich verpönt ist, "wählen" heute die meisten Menschen, die von dieser Unausgelichenheit zwischen Individualität und Sozialität betroffen sind, die "realistische" Orientierung, die belohnt und akzeptiert wird. Dabei kommt es zuweilen zu auffallenden Symptomen wie

4. Entfremdung des Lebensraums

Der heutige durchschnittliche Bewohner von Industriestaaten lebt sein Erwachsenenleben gewöhnlich in zwei unterschiedlichen Lebensräumen: den eigenen vier Wänden und dem Arbeitsplatz. Hier kommt es häufig zur inneren Abspaltung eines dieser beiden Lebensräume, die somit nicht mehr als dem eigenen Selbst zugehörig empfunden werden und die die weitere Entfremdung des betroffenen Individuums vorantreibt.

Befehlsempfänger neigen meist zur Abspaltung ihrer Arbeitswelt. Sie fühlen sich erst in der eigenen Wohnung wieder zu Hause. Die Arbeitswelt, insbesondere bei schlechtem Betriebsklima, wird als fremd und aufgezwungen empfunden und erlebt.

Der Arbeiter fühlt sich ... erst außer der Arbeit bei sich und in der Arbeit außer sich. Zu Hause ist er, wenn er nicht arbeitet, und wenn er arbeitet, ist er nicht zu Hause [bei sich]. Seine Arbeit ... ist daher nicht Befriedigung eines Bedürfnisses, sondern sie ist nur ein Mittel, um Bedürfnisse außer ihr zu befriedigen. (Karl Marx)

Befehlshaber dagegen ziehen nicht selten ein solches Maß an Befriedigung aus ihrer betriebliche Position, daß sie in ihrer Rolle als Macht- und Autoritätsperson viel mehr aufzugehen vermögen als beispielsweise in der des Familienvaters. So kommt es hier häufig zu einer Abspaltung des privaten Lebensraumes, worunter neben den Betroffenen auch die jeweiligen Ehefrauen und die Kinder zu leiden haben. Der Vater wird der restlichen Familie zunehmend fremd, er verbringt immer mehr Zeit im Büro, und ist oft froh, wenn Montags die Arbeit wieder ruft. Je höher die Position und die damit verbundene Macht- und Entfaltungsbefungnis, desto größer die Gefahr der Verführung durch Macht.

Auch hier kann die jeweilige Disposition von einem geschickten Manipulator zu eigenen Zwecken leicht ausgenutzt werden.

Alle oben beschriebenen Abspaltungen einzelner Persönlichkeits-Anteile sind selbstverständlich nur selten in reinster Form anzutreffen. So haben denn auch die meisten Menschen in modernen Gesellschaften eine Mischung verschiedener Abspaltungs-Typen manifestiert.

Im Laufe dieser Artikelserie bekam ich wiederholt den Hinweis (per Mail oder Messenger), daß einer meiner größten Fehler im Zusammenhang mit diesen Aufsätzen darin bestehe, daß ich dem werten Publikum nicht schmeichle. Um Zustimmung zu erhalten, sei es absolut notwendig, allzu krasse Kritik zu vermeiden und das Publikum in seinen Ansichten hin und wieder zu bestärken. Leider stellt ein solches Vorgehen bei dieser Tabu-Thematik ein äußerst schwieriges Unterfangen dar. Dennoch gab und gibt es ein paar wenige Schreibkünstler, denen sogar dieser Clou gelungen ist. Einer davon ist der berühmte Erasmus von Rotterdam, der mit seinem unsterblichen Werk "Das Lob der Torheit" ein solches Buch geschaffen hat. Gleich zu Anfang läßt Erasmus die Torheit über sich selbst zu Worte kommen:

Wie abschätzig auch immer die Sterblichen überall über mich reden mögen – denn ich weiß genau, in welch schlechtem Ruf die Torheit sogar bei den ärgsten Toren steht –, so bin doch ich es, ich allein, behaupte ich, die durch meine Macht Götter und Menschen heiter zu stimmen vermag. Und hier gleich ein schlagender Beweis: Kaum hatte ich mich vor dieser so vielköpfigen Versammlung zu Wort gemeldet, erstrahlten plötzlich die Gesichter aller in einer geradezu unerhörten und ungewohnten Heiterkeit. Eure Stirnfalten glätteten sich im Nu, und euer vergnügtes und gefälliges Lachen bekundet mir euren Beifall, so daß ihr mir, so zahlreich ich euch hier anwesend sehe, wie die homerischen Götter von Nektar und Nepenthes (1) trunken erscheint, während ihr doch vorhin noch betrübt und besorgt dasaßet, als wäret ihr gerade erst aus der Höhle des Trophonios (2) zurückgekommen. Wie die erste Morgensonne ihr schönes und goldenes Antlitz der Erde zeigt oder nach einem garstigen Winter ein neuer Frühling mit schmeichelnden Lüften sie belebt, alsbald in alle Dinge ein neues Aussehen, neue Farbe und in jeder Beziehung Jugendfrische zurückkehrt, so haben sich eure Züge sofort verwandelt, wie ihr mich erblickt habt. Was sonst nämlich bedeutende Redner mit einer ausufernden und in langen Nächten ausstudierten Rede kaum je erreichen können, das habe ich allein auf der Stelle durch mein Erscheinen zuwege gebracht.

(1) Nepenthes (Kummer verscheuchend) ist ein bei Homer erwähntes ägyptisches Zauberkraut, das, mit Wein vermischt, alle Sorgen verscheuchen sollte.
(2) Wer das Orakel der Gottheit Trophonios im boiotischen Lebadeia konsultieren wollte, mußte eine enge, finstere Höhle aufsuchen, in der er zahlreiche, schreckenerregende Riten zu erfüllen hatte, ehe er nach einem oder mehreren Tagen die Orakelstätte wieder verließ. Manche sollen dabei die Fähigkeit zu lachen verloren haben, so daß der sprichwörtliche Ausdruck entstehen konnte, mürrische und trübsinnige Menschen müßten der Höhle des Trophonios entsprungen sein.