6. März 2006
Lust und Gewaltbereitschaft
Nachtrag zu bzw. Verbesserung des gestrigen Artikels

Da der Link im gestrigen Artikel kaum Beachtung fand, möchte ich hier eine etwas detailliertere Ausführung dessen geben, was J. W. Prescott mit der Beziehung zwischen Lust und Gewalttätigkeit ausdrücken will.

Hier geht's zum Aufsatz von Prescott

Prescott behauptet, daß die größte Bedrohung für den Weltfrieden von jenen Nationen ausgehe, "die ihre Kinder in der reizärmsten Umgebung aufziehen und die sexuelle Zuneigung und weibliche Sexualität am stärksten unterdrücken". Er versucht, die übliche Assoziation von Sexualität mit Gewalt weiterzuführen, indem er Gewalttätigkeit als Ausdruck mangelnder körperlicher Lust begreift. Um diesen Zusammenhang zu belegen, führt er an, daß ein reziprokes Verhältnis zwischen Lust und Gewalt besteht: "Sobald entweder Gewalttätigkeit oder Lust zunimmt, nimmt das jeweils andere ab."

Der Inhalt, den ihr unter dem oben angeführten Link findet, spricht für sich und sollte eingehend studiert werden. Insbesondere die Tabellen, in denen sich Studien und Umfragen über die Zusammenhänge zwischen körperlich bejahender Erziehung und späterer Gewaltbereitschaft niederschlagen, sind einer genaueren Analyse wert. Prescott kommt u.a. zu der Erkenntnis, "daß lebenslanger Mangel an körperlicher Lust – jedoch besonders während der Wachstumsperioden in der Kindheit und Adoleszenz – sehr eng mit der Höhe der Kriegsbereitschaft und der zwischenmenschlichen Gewalttätigkeit verbunden ist. Diese Einsichten sollten auf große und komplexe industrielle und postindustrielle Gesellschaften angewandt werden."

Wir kommen alle als Individualisten mit ganz eigenen Begabungen und Veranlagungen auf die Welt. Wir sind lange absolut von der Zuneigung und Liebe unserer Eltern abhängig. Eltern wollen ein fröhliches Kind, das sie bedenkenlos vorzeigen können, das in die Gesellschaft paßt und entsprechend den geltenden Normen funktioniert. Auf diese Weise lernen viele Kinder, ihre Verhaltensweisen diesem Wunsch der Eltern so anzupassen, daß sie möglichst viel Anerkennung ernten. Sie lernen, die Pose – den Schein – zu bejahen und das von den Eltern nicht Erwünschte zu unterdrücken. Sie spielen Freude vor, wo sie Schmerz empfinden. Sie lernen, daß Schmerz = Schwäche ist, sie wollen stark sein für ihre Eltern, um dafür gelobt und geliebt zu werden.

Diese früh erlernten Verhaltensweisen sind beim Erwachsenen so vollständig verinnerlicht, daß die meisten heute den sensibleren Teil ihres Selbst wie selbstverständlich, um nicht zu sagen: automatisch unterdrücken, ausklammern, ja gewissermaßen sogar fürchten. So bemerken sie auch nicht mehr, wenn sie anderen Schmerz zufügen.

Im Laufe ihres sog. Erwachsenwerdens ersetzt der Gehorsam gegenüber einer Ideologie, einer Religion bzw. einem Gott, einer Autorität, einer Firma, eines Vorgesetzten den Gehorsam, den sie zuvor ihren Eltern entgegenbrachten. Auch hier wollen die Menschen für ihren Gehorsam belohnt werden: wer gehorcht, erhält Anerkennung, wer nicht, wird ausgesondert.

Hannah Arendt hat in ihrem Buch "Eichmann in Jerusalem" dargelegt, daß die Anstrengungen der Staatsanwaltschaft, Eichmann als ein sadistisches Ungeheuer zu zeichnen, sich als fundamental falsch erwiesen hätten. Eichmann sei vielmehr ein phantasieloser Bürokrat gewesen, der einfach an seinem Schreibtisch saß und seine Arbeit erledigte (bedingungslos gehorchte).

Stanley Milgram hat mit seinem berühmten Experiment nachgewiesen, daß ganz normale, nicht auffällig gewalttätige Menschen sich über ihren Gerhorsams- und Unterwerfungsreflex ganz leicht von einer Autorität zu grausamen Handlungen an Dritten bewegen lassen: "Derselbe Mensch, der aus innerster Überzeugung Diebstahl, Tötung und Körperverletzung verabscheut, wird sich vielleicht doch in Akte des Raubens, Tötens und Folterns verstricken, und zwar ohne nennenswerten inneren Widerstand, sofern eine Autorität ihm den Befehl dazu gibt. Ein Verhalten, das bei einem Menschen, der aus eigener Verantwortung handelt, undenkbar ist, wird vielleicht ohne die geringste Hemmung praktiziert, wenn ein Befehl es verlangt."

Töten wird allermeist mit Gehorsam gerechtfertigt. Je leerer ein Mensch in sich selber ist – je mehr er seine Individualität ausgeklammert hat, ja sogar mehr oder weniger bewußt bekämpft –, umso empfänglicher wird er auch für das Aufstellen von Feindbildern, auf die man dann seinen Haß projizieren kann. Unterdrückte Individualität und somit Selbstverleugnung findet so massenhaft in den Menschen statt, das sich der damit verbundene Haß sogar bis zum Völkermord an den Juden im 3. Reich hochschaukeln ließ, von anderen Greueln, die im Namen einer Ideologie, eines Nationalgefühls, einer Religion begangen wurden, ganz zu schweigen.

Die Macht von Tyrannen baut auf Menschen, die sich nur über ihren Gehorsam noch etwas wert sind. Sie wissen nicht, was sie tun, da sie den unterdrückten Teil in sich selbst nicht mehr kennen. Viele Menschen, die dem Buddha, einem Gott, einer Ideologie ... also einer "Gleichmacherei" hinterherstreben, sehnen sich nach Anerkennung und Liebe, nach Geborgenheit, die sie sich selbst nicht geben können. Das Kollektiv stärkt aber nur das Empfinden für die "Pose", für den Schein, und sanktioniert die Eigenständigkeit, den Eigensinn und die Selbstfindung. So ist es nur allzu leicht, den Menschen etwas vorzumachen und sie zu verleiten. Die Weichen wurden bereits in der Kindheit gestellt. Es ist die Pose, die von den Eltern geliebt wird. Wer nicht zu sich selbst findet und zu seinem Weinen und Lachen steht, wer also seine Empfindungen kontrolliert und unterdrückt, der hat ein Leben im Hamsterrad gewählt.

Lange Zeit, bevor ich begann, in Internet-Foren Artikel zu veröffentlichen, diskutierte ich im Fido-Net über dieselben Themen, die mich heute noch weit mehr beschäftigen. Einen Dialog, den ich vor über zehn Jahren mit und einem User "Ayro" (der seinen richtigen Namen nicht nenne wollte) geführt hatte, möchte ich euch abschließend zu lesen geben:

Ich: Aber wenn ich weiß, daß dies das einzige Leben ist, das ich habe, kann das nicht eine wunderbare Motivation sein, mich mehr anzustrengen?

Ayro: Das erscheint mit äußerst unlogisch. Wieso und für was sollte sich jemand noch anstrengen, wenn er glaubte, daß eh alles bald vorbei sei? Mir scheint eher, er hätte dazu nicht den geringsten Grund.

Ich: Denk doch mal langsam und gründlich darüber nach. Wenn du unsterblich wärest oder es dir auch nur einbilden würdest (wie es meiner Meinung nach die allermeisten Menschen tun, ohne sich dessen so recht bewußt zu sein), dann würdest du dir sagen, ich kann das alles immer noch irgendwie morgen korrigieren, was ich heute falsch mache. Doch die Wahrheit sieht anders aus: Du wirst älter werden, wenn du nicht vorher stirbst. Deine Energie nimmt kontinuierlich ab, du findest ab 40 kaum noch einen neuen Job, die ersten Gebrechen beginnen vielleicht mit 50 (Knochen, Augen, Zähne und weiß der Geier was noch alles) und auch deine Ansichten, deine Weltanschauungen sind dann soweit verfestigt, daß du kaum noch umlenken kannst, wenn du mit 60 merkst, daß du auf'm Holzweg warst. Dann lebst du vielleicht noch mal 20 Jahre, weil du vielleicht noch immer einen Grund darin siehst, am Leben zu sein (Lebensfreude oder vielleicht auch nur, weil dir's Essen so gut schmeckt). Und weil die Alternative, der Tod, ja eh auf dich wartet, mußt du dich ja auch nicht damit beeilen, es kommt von alleine. Und bist du erst mal Rentner, mit weniger Geld, vielleicht alleine gelassen von deinen Nachkommen, dann hast du plötzlich Zeit und Muße, über so manches nachzudenken und würdest dann einiges anders machen als früher. Aber du hast dann keine Energie mehr, etwas zu verändern, nicht mal mehr deine Gewohnheiten und Laster.
Auch sehen einige Menschen im Alter plötzlich alternative Wege und Lichter, denen sie hätten folgen können – aber sie können nicht mehr. Wenn du das alles vorher schon weißt, bevor du zu alt und zu schwach bist, etwas zu ändern (an dir), dann ist das durchaus eine Motivation, ein bißchen mehr Dampf zu machen, solange ich noch kann. – Wenn ich z.B. unsterblich wäre wie der Highlander, der eine Fiktion ist, würde ich dann nicht alles auf morgen schieben, was mir unangenehm ist?

Ayro: Wenn jemand wüßte (oder zumindest fest damit rechnete), immer weiter zu leben und daher den Konsequenzen seines heutigen Handelns niemals entgehen zu können, dann würde er schon heute nur noch so handeln, daß ihm aus diesem Handeln möglichst niemals Nachteile erwachsen würden. So würde er sich schon von daher weit mehr anstrengen als jemand, der denken würde "nach mir die Sintflut" – mit meinem Tode kann ich den Folgen entfliehen, was immer ich auch tue, Hauptsache, ich kann jetzt meine Interessen durchsetzen, auch wenn ich über Leichen gehe, hat das dann keine Folgen mehr für mich. Im Prinzip glauben solche Menschen an eine automatische und endgültige Erlösung durch den Tod des Körpers.

Ich: Sind das Annahmen von dir oder haben dir das Leute gesagt, die eben so denken: nach mir die Sintflut? – Davon abgesehen kann niemand – unabhängig davon, wie lange oder kurz er lebt – sein Handeln so gestalten, daß ihm niemals Nachteile daraus erwachsen. Derjenige müßte das ja erst mal lernen, und dazu muß er Fehler machen, aus denen er lernt. Dein obiger Absatz ist für mich ein sehr schönes Beispiel, wie die Worte, fühlen sie sich nur schlüssig genug an, in die Irre führen können. Du hast da einige Dinge als Fakten hingestellt, ohne diese zu überprüfen, und operierst dann mit diesen ungültigen Faktoren. So ist es dann nicht verwunderlich, wenn du zu "aberwitzigen" Erkenntnissen gelangst. Ich kenne einige Leute, die durch bestimmte Krankheiten eine rapide Verkürzung ihres Lebens erfahren werden. Fast ausnahmslos sind diese Menschen, sobald sie ihre – durch die Nachricht ihres bevorstehenden Todes ausgelöste – Depression überwunden haben, weit motivierter als die, die glauben, sie würden noch eine ganze Weile auf dieser Kugel wandern. Die wollen dann plötzlich Dinge tun, die sie sonst weit vor sich hergeschoben haben - eben weil die Zeit drängt. Auch wenn sich deine Sätze noch so schön und "logisch" anhören, es ist halt nicht so. Sorry, wenn ich dir deine Träume zerstöre und dir die Augen aufreiße – das Leben ist mit dem Verstand nicht vollständig zu erfassen.