29. April 2005
Täglich zig Lügen
Gelogen wird auf der ganzen Welt – unser täglich Lug und Trug gib uns heute ...

Dieser Artikel ist die erweiterte Widergabe einer meiner Beiträge im Forum von Telepolis, und zwar zum Artikel "Das Leben ist ein Theater" von Florian Rötzer, wo er über einen neu entwickeltne Lügendetektor für Gesichtsmimik schrieb. Es empfiehlt sich, vor dem Lesen meines hiesigen Artikels den von Herrn Rötzer zu lesen. Das Interesse daran, warum gelogen wird, zeig die rege Beteiligung im dortigen Thread.

Zuerst glaubte ich an einen Aprilscherz, doch dann fiel mir ein: tatsächlich existieren solche Entwicklungen wie der software-gestützte Lügendetektor, über den vor längerer Zeit in einer TV-Dokumentation berichtet wurde. Viel interessanter erscheint mir jedoch die Frage, warum wir Menschen, die wir so oft auf Ehrlichkeit pochen, ja diese gar als Tugend gilt, lügen. Wir belügen andere und uns selber, nach diversen Statistiken gar zigmal pro Tag. Ist denn die Realität im Falle des Selbstbelügers so unerträglich, daß man sich ständig etwas vormachen muß?

Marx hat in seiner Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie über Illusion etwas weniger Bekanntes geschrieben, gleich nach dem Absatz, in welchem sich die sehr bekannte Formulierung "Religion ist Opium für's Volk" befindet:

Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über einen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist.

In diesem Zusammenhang darf man auch das tägliche – oft unbewußte – Lügen der allermeisten Menschen betrachten. Wer erträgt schon ständig die nackte Wahrheit?

Was ist heute an Stelle der Religion der Masse getreten? Bei den einen ist das die Wissenschaftsgläubigkeit, bei anderen wiederum der Glaube an immerwährendes Glück durch anhaltenden oder gar ständig steigenden Konsum. Die Anzahl derjenigen, die von sich selber glauben, etwas ganz Besonderes zu sein, ist im Steigen begriffen. Wieder andere flüchten in esoterische Klischees, um der Wahrheit auszuweichen.

Warum also lügen wir? Grundsätzlich läßt sich sagen, daß wir, wenn wir bewußt lügen, das um eines Vorteils willen tun. Beim unbewußten, weil automatischen Lügen tun wir das, weil wir's einerseits nicht besser wissen wollen und andererseits, weil es uns zur Gewohnheit geworden ist. Noch weitergehend kann man behaupten, wir lügen aus Angst vor Nachteilen, vor Herabsetzung, vor Bestrafung.

Alle die Züge, dir wir an Menschen bewundern, Freundlichkeit und Großzügigkeit, Offenheit, Anstand, Verständnis und Mitgefühl, garantieren in unserem System das Scheitern. Und die Eigenschaften, die wir verachten, Härte, Gier, Raffsucht, Gemeinheit, Egoismus und Eigeninteresse, sind die Faktoren des Erfolges. Aber während ersteren die Bewunderung der Menschen gilt, lieben sie die Erträge der letzteren. (keine Ahnung, von wem das ist)

Gegen die Kritik am Lügen und Täuschen wird oft eingewandt, daß es sich dabei doch um eine uralte evolutionäre Technik des Überlebens handelt, was niemand, der sich auch nur ein wenig mit Evolution und Kosmologie (1) auseinandergesetzt hat, ernsthaft bestreiten wird. Führt man aber den Sinn und Zweck von Kultur und Zivilisation dagegen an, ergibt sich die Frage, woran es bisher gescheitert ist, eine Kultur zu erschaffen, in der alle Menschen ohne Lug und Trug auskommen. Man mag die Forderung nach einer menschenwürdigen Lebensweise als Utopie betrachten, die per definitionem eine unmögliche Vision darstellt, etwas, das man nicht verwirklichen kann, wie der sog. "gesunde Menschenverstand" sogleich "erkennen" wird. Doch existiert ein weitgefächertes Sprektrum an Literatur, die sich genau damit auseinandersetzt, daß es sich eben nicht um eine reine Utopie handelt, sondern um realisierbare Visionen zahlreicher Autoren der Vergangenheit und Gegenwart. Der Glaube an die Möglichkeit, eine bessere Welt zu bauen, steckt quasi in jedem von uns und wird regelmäßig von geschickten Demagogen ausgenutzt, um einen Vorteil zu erlangen: heute von Politikern, früher von der katholischen Kirche. Wäre diese Vision nicht schon in uns, könnte uns niemand mit dem – häufig falschen – Versprechen, Verbesserungen zu bewirken, locken. Doch immer wieder keimt Hoffnung in uns auf – und wird zerstört, wenn wir wieder einmal begreifen, daß wir aufs falsche Pferd gesetzt haben.

Getreu dem Motto, daß du niemanden ändern kannst außer dich selbst, appeliere ich an den werten Leser, bei sich selbst zu beginnen, statt von anderen zu erwarten, sich zu verändern.

(1) siehe auch Hoimar von Ditfurth,
"Am Anfang war der Wasserstoff" und
"Der Geist fiel nicht vom Himmel"