4. März 2006
Kränkung
Beleidigung und verletzter Stolz

Wehe, wenn sich die Leute ihre Spiegelbilder und aufgesetzten Rollen nicht mehr glauben ...

Die vergangenen Tage meines Aufenthalts im Forum eines Diskussions-Servers haben mir zu einigen weiterführenden Erkenntnissen über die Beschaffenheit von Beleidigungen und Kränkungen verholfen. Und obwohl – nein, besser: weil ich ganz genau weiß, daß das Folgende die größtenteils doch eher einfachen Gemüter in diesem Forum wieder einmal weit über deren allzu engen Rand schwappen lassen wird, möchte ich euch diese Erkenntnisse keineswegs vorenthalten und kredenze sie als Wochenend-Lektüre. Sicher wird auch der eine oder andere Leser reiferen Charakters dabei sein, dem ich mit dieser philosophischen Abhandlung eine kleine Freude bereite. Mir sind schon jetzt die Vorstellungen darüber, was sich im Thread ereignen wird, ein köstlicher Genuß.

Der gewöhnliche moderne Mensch des postindustriellen Massenzeitalters, über den ich mich immer wieder gerne etwas abfällig äußere, verdankt einen großen Teil seines Selbstverständnisses einem psychischen Schild, den schon die alten Griechen kannten und der gerade in Foren wie diesem ständig heftig geschwungen wird, um damit Angriffe aller Art – auch die vermeintlichen – abzuwehren. Es ist der narzißtische Schild, dessen Durchdringung als Kränkung empfunden wird. Dieser blankpolierte und daher stark reflektierende Schild stellt quasi das Wunschbild des Schildträgers von sich selbst dar, das gleichzeitig aber auch die Rolle ist, die er mehr oder weniger perfekt spielt, sobald er die Anwesenheit von Publikum spürt oder auch nur vermeint, daß welches anwesend sein könnte.

Der Narziß, auch der weniger ausgeprägte,* gerät innerlich und nicht selten auch äußerlich ins Wanken, sobald sein Schild nicht mehr seine Vorstellung von sich selbst spiegelt, weil er sich von dieser Vorstellung zu sehr abhängig gemacht hat. Nicht eine innere Gewißheit gibt ihm also Halt, sondern einzig sein Schild, von dem er sich bislang stets geschützt glaubte. Diese Abhängigkeit entsteht nicht aufgrund einer einmaligen Entscheidung, sondern spiegelt die tragische Tendenz des Narzißten wider, aus Prinzip stets davon überzeugt sein zu müssen, daß es von immensem Vorteil sei, er selbst zu sein, wobei die Tragik genau darin liegt, daß er das Bild, das er von sich pflegt, für sein Selbst hält.**

* Das ist jener, der um seinen Schild weiß, ihn aber dennoch ständig mit sich trägt, weil er sich nicht auszumalen wagt, was geschehen könnte, wenn er auf ihn verzichtet.
** Hier sehen wir eine Analogie zur kindlichen Weltauffassung, die die Sache mit ihrem Zeichen (ihrem Bild) gleichsetzt.

Ein weiteres tragisches Moment, dem sich der Narziß immer wieder unbeabsichtigt ausgesetzt sieht, ist seine faktische Unzulänglichkeit. Ein echter Narziß glaubt von sich, alles zu können, sich mit allem auszukennen und zu allem eine fundierte Meinung zu haben. In seinen eigenen Augen ist er stark und unverwüstlich, steht über den Dingen und hat keine Schwächen. Betrachtet man das narzißtische Streben aus der Sicht der Systemtheorie, gleicht es biologisch dem Überleben des Stärkeren: Diejenigen Individuen mit einem intakten Immunsystem und mit der ausgeprägtesten Abwehr überleben, die anderen werden ausradiert. Das ist das Bild, das der Narziß klammheimlich von sich und Seinesgleichen aufrechterhält. (Bis heute halten sich z.B. sog. Adlige für eine solche Elite, auch wenn ihr Stammbaum durch anhaltende Inzucht inzwischen dermaßen degeneriert ist, daß nicht wenige an seltsamen Krankheiten leiden – aber das ist eine andere Geschichte.)

In unserer zu markanter Vereinsamung und Versingelung tendierenden Gesellschaft muß es zwangsläufig zu einem immensen Anstieg narzißtisch geprägter Menschen kommen. Man sieht diese Grundtendenz auch in der alleinigen Verantwortung, die man heute gewöhnlich jedem für alles, was ihn selbst betrifft, zuweist. Wer keine Arbeit hat, wer gemobbt wird, wer keinen Sexualpartner hat, wer zu wenig verdient – man ist heute immer selber daran schuld, auch wenn für fünf Millionen Arbeitslose nur eine halbe Million offene Stellen verfügbar sind. Dieses "selber schuld" wird aber keinesfalls weiter beleuchtet und weder von den Beschuldigern noch von den so Beschuldigten hinterfragt, gerade so, als ob letztere klammheimlich zustimmen, indem sie sich in ihr Schuldgefühl ergeben. In der Tat ist Arbeitslosigkeit heute mehr denn je mit Schuld und Verfehlung, ja Minderwertigkeit behaftet. Will der so Stigmatisierte noch ein klein wenig Rest an Selbstachtung bewahren, greift er gewöhnlich auf die altbewährten Rezepte des Narzißmus zurück – er kennt nichts anderes. (Auch hier wieder: Regression auf frühere, unreifere Verhaltensweisen, wenn man nicht mehr weiter weiß.)

Man erkennt reifere Charaktere unter anderem daran, daß sie keinen revanchistischen Groll gegen einen einstigen Diskussionsgegner hegen. Im Gegensatz dazu erkennt man die unreifen Charaktere – und beim Narzißmus handelt es sich um ein regressives Charakterdefizit – an einem manchmal jahrelang anhaltenden und sich nicht selten sogar noch sich steigernden Groll gegen ehemalige Kontrahenten. Der Revanchismus bewahrt sie quasi vor der totalen Selbstaufgabe, vor der Kapitulation. Der Narziß muß gewinnen, um jeden Preis, er kann sich keine Niederlage leisten, das wäre sein Ende. Eine weitverbreitete Technik, dieses Ziel zu erreichen, besteht darin, sich dem Dialog zu entziehen, um so den Konflikt zu verschärfen oder überhaupt erst einzuführen. Das geschieht nicht selten durch absichtliches Nichtverstehen wie auch durch absichtliches Mißverstehen oder das Hinüberzerren des Themas in völlig irrelevante Bereiche. Leider verwehrt sich der Narziß auf diese Weise auch dem Neubeginn. Ein Narziß wird niemals eine Krise als heilsamen Wachstumsprozeß interpretieren, denn in seinen Augen ist er bereits vollkommen, der Größte, und schuld daran, daß er das nicht zu leben vermag, sind andere – immer und ausschließlich – andere, die ihn nicht als das anerkennen, was er zu sein glaubt.

Eine Kränkung ist nichts anderes als der Schmerz darüber, von etwas getroffen worden zu sein, das stärker ist als das mit Hilfe der narzißtischen Einstellung aufrechterhaltene innere Gleichgewicht. Die so als Beleidigung erlebte Information vermittelt die Erfahrung einer plötzlichen Desintegration. Für den Narziß ist eine solche Information, die ihn in Frage stellt, um ein vielfaches schmerzhafter, weil hinter seinem Spiegelbild, in das er sich ständig aufs Neue verliebt – nichts ist. Gähnende Leere, die ihn schreien läßt ob der Plötzlichkeit, mit der sie ihm bewußt wird – vergleichbar dem Schock des unaufhaltsamen Fallens aus großer Höhe, der Todesangst erzeugt. War der Narziß bislang vom absoluten Vorteil überzeugt, er selbst zu sein – oder besser: was er dafür hielt –, so überzeugt ihn diese seinen Schild durchdringende Information vom Gegenteil: vom Nachteil, er selbst zu sein. Wirft der Schild nicht mehr klar und deutlich das Spiegelbild des Narziß auf ihn zurück, in das er sich einst so unsterblich verliebte, stirbt er – zumindest ist das seine Überzeugung.

Der Narzißmus stellt im Grunde eine ganz spezielle Illusion dar, die für den narzißtisch geprägten Menschen die einzige Halteleine ist, die ihm bleibt. Deshalb darf man getrost davon ausgehen, es mit einem Narzißten zu tun zu haben, wenn fundierte Kritik zu Schlägen unter die Gürtellinie oder gar zu wochen- und monatelangen Haßtiraden provoziert. Viele der in Internetforen umherstreifenden Trolle benötigen nicht einmal eine persönliche Kritik, denn ihnen genügt, um sich provoziert zu fühlen, bereits die Feststellung, daß hier etliche weitaus mehr zu sagen und berichten wissen als sie selbst. Fände der Narziß etwas eigenes, das ihm Gewißheit über sein lebendiges Selbst vermittelt, könnte er womöglich seinen Narzißmus aufgeben ...

empfohlene Literatur zu diesem Artikel:

André Glucksmann: Die Macht der Dummheit, Kap. 6.6: König Narziß
Fritz Riemann: Grundformen der Angst, Kap. IVa: Der hysterische Mensch und die Liebe
Jürgen Wertheimer: Strategien der Verdummung
Ronald D. Laing: Das Selbst und die Anderen
Helmut Joach: Zur gegenwärtigen Eskalation der Gewalt (Erstveröffentlichung im Jahrbuch der Internationalen Erich-Fromm-Gesellschaft, Band 5 1994: Vom Umgang mit dem Fremden / Dielaing with the Alien, Münster: LIT-Verlag, 1994, S. 127-154.)
Ludwig A. Pongratz: Moderne Technik und Nekrophilie
Erich Fromm: Über die Liebe zum Leben (Rundfunksendungen)
Marie France Hirigoyen: Die Masken der Niedertracht
Herbert Marcuse: Aggression und Anpassung in der Industriegesellschaft
Christopher Lasch: Das Zeitalter des Narzißmus
Sighard Neckel: Status und Scham – zur symbolischen Reproduktion sozialer Ungleichheit
Wilhelm Reich: Charakteranalyse
Manfred Spitzer: Verdacht auf Psyche
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter
Claudia Szczesny-Friedmann: Die kühle Gesellschaft – von der Unmöglichkeit der Nähe
David Riesman: Die einsame Masse
Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur
Ken Wilber: Das Spektrum des Bewußtseins – ein metapsychologisches Modell des Bewußtseins und der Disziplinen, die es erforschen
Vance Packard: Die heimlichen Verführer
Stanislav Grof: Typographie des Unbewußten
Viktor E. Frankl: Das Leiden am sinnlosen Leben
Karl Georg Weber: Selbstbild und Täuschung
Arno Gruen: Der Wahnsinn der Normalität