21. Nobember 2006
Konstitution der Gesellschaft VII
Die Maske ist fest angeschraubt

Lebende Wesen, die der Luft ausgesetzt sind, brauchen eine Schutzhaut, und niemand wirft es der Haut vor, daß sie nicht das Herz ist.

"Wir alle spielen Theater" lautet der Titel eines Buchs des bekannten Soziologen Erving Goffman (Untertitel: Die Selbstdarstellung im Alltag, ISBN 3-492-01749-5; die Original-Ausgabe erschien 1959 unter dem Titel "The Presentation of Self in Everyday Life"). Tatsächlich wird sich schwerlich jemand finden lassen, der völlig authentisch und ohne jegliche Täuschungsmanöver mit seinen Mitmenschen umgeht. Abgesehen von schmerzlich naiven Zeitgenossen scheinen das auch alle, die in einer Gesellschaft leben, irgendwie zu wissen – zumindest in den helleren Momenten ihres Bewußtseins ...

Auch die Tatsache, daß wir alle eine Rolle spielen, stellt kein Geheimnis dar. Dabei handelt es sich aber keineswegs um völlig beliebige Rollen, sondern um ein fest umrissenes Ensemble von Rollenvorgaben, für die man sich entscheiden kann. Wer eine Rolle spielt, möchte einen ganz bestimmten Eindruck beim Publikum erwecken. Der Rolleninhaber fordert die anderen quasi dazu auf, seine Darstellung für bare Münze zu nehmen und sie nicht in Frage zu stellen. Er erwartet, in seiner Rolle ernstgenommen zu werden. Die Zuschauer – nicht selten ist's nur einer, und meist sind's immer dieselben Leute, für die er spielt – sollen kritiklos der Gestalt, die sich ihnen vorführt, glauben, daß sie tatsächlich über die Eigenschaften verfügt, die sie zu besitzen vorgibt, und daß wirklich alles so ist, wie es scheint. Gewöhnlich nimmt man deshalb auch fraglos an, daß der Darsteller seine Rolle hauptsächlich für die anderen spielt.

Bereits hier stellt sich mir die Frage, inwieweit dem Darsteller wirklich klar ist, daß er eine Rolle spielt – inwieweit er sich einer Diskrepanz zwischen Darstellung und Wirklichkeit bewußt ist. Meinen wir nicht häufig zu beobachten, daß die Menschen an ihre Rolle glauben? Und zwar so sehr, daß sie sich völlig damit identifizieren und mit der Zeit tatsächlich keine Ungereimtheiten zwischen Darstellung und innerer Wirklichkeit mehr empfinden? Denn wie sonst könnte man die Heftigkeit und Dringlichkeit interpretieren, mit der die meisten Menschen darauf bestehen, so und nicht anders gesehen zu werden?

Dieser Dringlichkeit der Selbstdarstellung liegt nicht selten die ehrliche Überzeugung zugrunde, daß die eigene Darstellung Realität sei. Ein solcher Mensch hat seine wahre Natur womöglich längst vergessen, verdrängt, fortgeschoben in die unendlichen Tiefen des Unterbewußtseins und geht total in seiner Rolle auf. Und je selbstvergessener die Darstellung, desto überzeugter das Publikum – sollte man meinen. So mancher professionelle Schauspieler muß gar nicht so viel spielen, wie es scheint, sondern überläßt sich bei Filmaufnahmen oder im Theater seinen ansonsten in Schach gehaltenen unerwünschten Regungen. Klaus Kinski war so ein Fall: nach eigenen Worten wäre er zum Mörder geworden, hätten sich ihm nicht ausreichend Gelegenheiten geboten, seine Destruktivität im Film auszuleben. (Er hat auch im realen Leben nicht mit Boshaftigkeiten gegeizt.)

Gewöhnlich neigen die Menschen (von Soziologen, Psychologen und sonstigen Desillusionierten einmal abgesehen) nicht dazu, die Wahrhaftigkeit der Darstellung ihrer Mitmenschen anzuzweifeln. Seit undenklichen Zeiten gehört es regelrecht zum guten Ton, die Darstellungen anderer nicht in Frage zu stellen, ja sie erst gar nicht als Darstellung zu empfinden. Wer dies dennoch tut, hat keine Manieren, und weil seine geäußerten Zweifel Frust und Angst hervorrufen, wird er gewöhnlich ziemlich schnell ausgeschlossen, wenn er das Spiel nicht mitspielt.

Neben dem selbstvergessenen Darsteller, dem seine Rolle auf den Leib geschneidert zu sein scheint, existiert als Gegenstück jener, der von seiner eigenen Rolle wenig bis gar nicht überzeugt ist. Solche Leute wirken auf das jeweilige Publikum nicht selten zynisch, weil die Zuschauer unmerklich spüren, daß er ihnen etwas vormacht. Dagegen wird der Selbstvergessene eher als aufrichtig und ehrlich empfunden. Der sich seiner Schauspielerei bewußte Darsteller ist meist ein Machtmensch, dem es gar nicht so sehr auf die Anerkennung seiner Rolle ankommt, wie das beim Selbstvergessenen der Fall ist, sondern vielmehr auf das Machtgefühl, daß ihm seine erfolgreiche Maskerade vermittelt. Er weiß ja, wie er ist und fühlt sich schon allein deshalb überlegen, weil er ebenso weiß, daß er sein Publikum an der Nase herumführt, und weil er sich sicher wähnt, daß ihm keiner seinen Betrug nachzuweisen vermag oder sich keiner trauen wird. Die größte Befriedigung erhält er jedoch durch die belebende geistige Aggression, mit der er sich in der Gesellschaft immense Vorteile zu verschaffen versteht. Ein recht anschauliches Beispiel stellt der gewöhnliche Politiker dar, von dem viele mit ziemlicher Sicherheit wissen, daß er sich verstellt, dem aber keiner etwas kann, weil er einfach zu viel Macht hat. Oder der erfolgreiche Großindustrielle, der sich von den Massenmedien demonstrativ als die Großzügigkeit und das Wohlwollen schlechthin produzieren läßt. Von erfolgreichen Politikern weiß man, daß sie gelegentlich Kurse besuchen, um sich in der Darstellung von Gefühlen zu üben – von Gefühle, die sie nicht haben.

In seiner ursprünglichen Bedeutung wurde mit dem Wort Person die Maske des Schauspielers bezeichnet. Heute werden weitgehend alle Menschen als Personen aufgefaßt, was einer mehr oder weniger bewußten Anerkennung der Tatsache gleichkommt, daß alle eine Maske tragen. Die Masken sind fest angeschraubt (Titel eines eindringlichen Songs der schwäbischen Rockgruppe Schwoißfuaß). Die Identifikation mit der Maske scheint nahezu perfekt, wir erkennen uns und andere nur noch an der Maske. Als Individuen kommen wir zur Welt, bauen einen Charakter auf und werden Personen – mit gesetzlich verbrieftem Recht auf Unversehrtheit der Maske. (Eine interessante Perspektive dieses Zusammenhangs liefert die juristische Person, die Firma, die Institution, deren Vertreter – ebenfalls Personen – mit allen Mitteln ein ganz bestimmtes Gesicht ihres "Hauses" in der Öffentlichkeit zu installieren bemüht sind.)

Die Dramatisierung des Alltags

Mit welchen Mitteln nun kontrolliert der Gesellschaftsmensch den Eindruck, den er auf andere zu machen hofft? Der wichtigste Aspekt, den es beim erfolgreichen Eindruckschinden zu beachten gilt, betrifft die Herstellung einer gewissen Dramatik, ohne die eine Darstellung langweilig und wenig überzeugend wirkt. Denn zum großen Unglück der zahlreichen Darsteller sind nicht alle Lebenssituationen dazu geeignet, Interesse zu wecken und vor allem, dieses aufrecht zu erhalten. So mancher hat es da recht einfach, weil ihm seine gesellschaftliche Position oder sein Beruf zahlreiche dramaturgische Szenen liefert: der Polizist, der Rettungssanitäter, der Streetworker oder der Journalist weiß gewöhnlich immer etwas Fesselndes zu berichten, wogegen der Fabrikarbeiter, der Krankenpfleger oder der Sachbearbeiter einer unbedeutenden Behörde dramatisieren muß, um für seine Tätigkeit besondere Aufmerksamkeit zu bewirken. Für Außenstehende mag sich der Eindruck, der mit einer solchen als langweilig eingestuften Tätigkeit Befaßte tue im Grunde nichts, verstärken, wenn ihm diese Tätigkeit nicht als wichtig, unabdinglich und anstrengend vorgetragen wird. Die meisten in Büros tätigen Menschen haben sich daher angewöhnt, stets einen geschäftigen Eindruck zu machen, indem sie sich betont zielbewußt und rasch fortbewegen, das Gesicht ständig in angestrengte Falten legen oder die Fäuste in die Hüften stemmen, um sich nur ja nicht dem Verdacht auszusetzen, sie hätten nichts zu tun oder wären gar gelangweilt.

Ein solcher Darsteller muß also einen erheblichen Teil seines täglichen Energieaufwands dazu verwenden, seine Rolle wirkungsvoll zu gestalten, obwohl seine eigentliche Tätigkeit – z.B. Formulare überprüfen – kaum Anlaß dazu bietet. Sartre hat einmal geschrieben: "Der aufmerksame Schüler, der aufmerksam sein will, den Blick an den Lehrer geheftet, die Ohren weit aufgetan, erschöpft sich damit, den Aufmerksamen zu spielen, derart, daß er schließlich gar nichts mehr hört." (aus: "Das Sein und das Nichts", S. 108) Um also seiner Tätigkeit zur Zufriedenheit des jeweiligen Vorgesetzten nachkommen zu können, muß sich der mit solch unbedeutenden Tätigkeiten Beschäftigte meist der wirkungsvollen Darstellung seiner Arbeit enthalten. Denn gerade denen, die genügend Zeit und Talent haben, eine gestellte Aufgabe gut zu erfüllen, bleibt häufig genau deswegen weder Zeit noch Talent, anderen vorzuführen, wie gut sie sie erfüllen. In manchen Betrieben und in der Politik wird dieses Problem bisweilen gelöst, indem man Dramatik erfordernde Funktionen offiziell einem Spezialisten überträgt, der seine Zeit darauf verwendet, die Bedeutung der Aufgabe auszudrücken, und keine Zeit darauf, sie tatsächlich zu erfüllen.

Um dem Leser, der bis hierher gefolgt ist, die ihm zugemutete seelische Pein etwas zu lindern, sei ausnahmsweise auch einmal ein konstruktiver Aspekt des bisher Dargelegten herausgestellt. Der schöne Schein hat nämlich durchaus Vorteile, auch wenn sie nicht jeder gleichermaßen zu nutzen versteht. Denn würden wir niemals auch nur versuchen, etwas besser zu scheinen, als wir sind, wie könnten wir uns dann bessern? Durch das besser-scheinen-Wollen ensteht den noch nicht völlig Gefühllosen in ihrem Innern eine unangenehme Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit, die niemand auf Dauer ertragen kann, will er nicht seinen gesamten Gefühlsapparat auf ein erträgliches Maß herunterfahren. Den eigenen guten Schein zu zerstören kommt als Lösung dieses Konflikts in den allermeisten Fällen aber auch nicht in Frage, was dazu führt, daß nicht wenige Menschen ständig aufs Neue bemüht sind, ihren eigenen Ansprüchen zu genügen (bzw. ihnen hinterherzurennen) und, geschieht diese Bemühung nur hartnäckig und wiederholt genug, sich auf diese Weise tatsächlich manchmal bessern. Ob sich die so entstandenen Gutmenschen nun lediglich an kommerziell organisierten Träumen von Helden, Rettern und Superstars orientierten oder ihre Motivation aus den als real geltenden Fiktionen der anderen Darsteller bezogen, spielt für die letztlich erfolgte Besserung keine große Rolle: Der Erleuchtung ist es schließlich egal, wie man sie erlangt ...