17. Nobember 2006
Konstitution der Gesellschaft VI
Wie Sozialisierung das Funktionieren der Gesellschaft sichert

Die Menschen sind jenen ganz besonders böse, die mit ihrer "falschen" Wahrnehumg die Dinge nicht so sehen, wie sie sein sollten, sondern so, wie sie sind. Sie sind ihnen böse, weil jene Eigenständigen durch gnadenlose Offenheit ihre innere Ruhe und Ausgeglichenheit stören und ihr Selbstbild in Frage stellen, indem sie den längst überwunden geglaubten Schmerz wecken.

Ein gängiges Argument für die weit verbreitete Ablehnung psychologischer Zusammenhänge besteht in der Behauptung, die Menschen seien zu verschieden, um aus ihrem Verhalten einheitliche psychologische Gesetzmäßigkeiten ableiten zu können. In Wirklichkeit basiert diese Ablehnung auf der uneingestandenen Angst vor Selbsterkenntnis, vor der Wahrnehmung jener unerwünschten und daher angstbesetzten Anteile des Selbst, die schon sehr früh unterdrückt werden mußten.

Obwohl man tatsächlich ohne weiteres davon ausgehen kann, daß keine individuelle Entwicklung der anderen gleicht, kann man gewisse, sich in allen Menschen abzeichnende Muster, nach denen sie geprägt wurden, erkennen. Da ist am Anfang die Eltern-Autorität, die das höchst empfängliche, im Werden begriffene Individuum gleich zu Anfang seines Lebens mit einer autoritären Hierarchie empfängt. Abstrahiert man nämlich die wirkungsmächtigen Mechanismen der frühkindlichen Erziehung, kristallisiert sich immer das gleiche Reiz-Reaktions-Muster heraus: Aufgabe eigener Bedürfnisse zugunsten der Eltern-Bedürfnisse, angetrieben von der Angst, das lebenswichtige Wohlwollen der Eltern zu verlieren.

Diese ersten Eindrücke bilden – neben den bereits gut, aber noch nicht umfassend erforschten vorgeburtlichen Erfahrungen – die frühkindliche Basis für den späteren Wert- und Wirklichkeitsmaßstab. Dem Kind erscheint die familiäre Hierarchie als die natürliche Ordnung, weil diese Ordnung keine Konkurrenz hat – weil das Kind erstmal keine andere Ordnung kennt. Das Kleinkind erfährt die elterliche Autorität als so unumstößlich, daß es selbst dann, wenn es zum eigenständigen Denken und Urteilen bereits in der Lage wäre, diese Autorität nicht anzweifeln könnte. Elternautorität stellt somit die ursprüngliche Entscheidungs-Instanz dar: sie prägt die Art und Weise, wie der Mensch erstmalig zu Werten und Urteilen gelangt.

Hier greifen dann auch die Machtmechanismen der gesellschaftlichen Institutionen – politischer Parteien, Kirchen, Gewerkschaften, Schulen, Firmen etc. – wirkungsvoll ein. Sie appelieren auf die eine oder andere Weise an die im Erwachsenen lebendig gebliebene Angst vor dem Verlust der autoritären Beschützer, indem sie für ihre ganz spezielle existentielle Orientierung werben – die im Grundmuster der Orientierung gleicht, die die Eltern gaben. Dabei bedienen sich Institutionen meist einer autoritativen Repräsentations-Symbolik, die einen ähnlich umfassenden Geltungsanspruch erhebt wie einst die Eltern. Auffällig ist dabei, daß nicht alleine der Wahrheitsgehalt einer politischen Parole überzeugt, sondern vielmehr das appellative Erscheinungsbild, das seine mächtige Wirkung vor allem durch den autoritativen Hintergrund der Vermittlung entfaltet. Durch diese Aufladung der ideologischen Symbolik einer politischen Propaganda mit beeindruckendem Autoritätsgehabe wird das Bild, das diese Propaganda entwirft, als so eindringlich, ja geradezu berückend erfahren, daß es beim durchschnittlichen Empfänger instinktiv Selbstbezüglichkeit auslöst: Er identifiziert sich mit den Gestalten der politischen Rollendarsteller so nahtlos und unmerklich, daß selbst das Brechen von Wahlversprechen sein Vertrauen in die jeweiligen Gallionsfiguren nicht wesentlich zu erschüttern vermag – ganz ähnlich, wie das einstige widersprüchliche Verhalten der Eltern, die häufig das von den Kindern geforderte Verhalten nicht selbst lebten, nachhaltig verdrängt wurde.

Psychologisch gesehen stellt diese durch politische Propaganda geweckte Haltung das dar, was man Regression nennt: den Rückgriff auf kindliche bzw. einem früheren Entwicklungsstadium eigene Haltungen und Handlungsweisen. Völlig unabhängig davon, welche Rolle der Adressat politischen Werbens sonst im Leben zu spielen gewohnt ist – der eine gibt den drahtigen Abteilungsleiter, der andere den souveränen Manager, jener den sich eigenständig wähnenden Buchhalter: wenn er regrediert, ist er wieder Kind, hört er auf die Stimmen von Mami und Papi, läßt er sich gängeln und – verarschen.

Laßt mich dieses Bild noch von einer anderen Seite beleuchten:

Oft werden Entscheidungen, die die Gesellschaft betreffen, von Leuten getätigt, denen leicht nachzuweisen ist, daß das Wohlergehen der Bevölkerung ihnen nicht allzu sehr am Herzen liegt (Verschlimmbesserung). Ihre Legitimation erhalten diese Leute – Politiker und ihre Hintermänner (Konzerneigner, Bankdirektoren, Kapitalriesen) – durch politische Wahlen, deren Ausgang sie mit Mitteln zu steuern wissen, die dem uneingeweihten Normalbürger nicht geläufig sind und die seit vielen Jahrhunderten, wenn nicht gar Jahrtausenden als Herrschaftswissen immer nur einer Minderheit geläufig sind. Der erste Schritt der Manipulation großer Volksmassen besteht darin, die Fähigkeiten des kritischen Denkens und des rationalen Urteilens einzuschränken. Zu diesem Zweck appellieren sie an tieferliegende, dem kritischen Verstand gewöhnlich nicht zugängliche Schichten unserer Psyche – an eben jene problembehafteten und deshalb verdrängten Anteile unseres Selbst.

So gut wie alle Techniken der als "sanfter Zwang" bekannten Manipulationstechnik greifen auf das uns allen eingeprägte Vertrauen in die elterliche Autorität zurück. Dieses früh erworbene Vertrauen lindert dem Kind die Angst vor dem Neuen in der Welt, dem es täglich begegnet. Es fühlt sich geborgen, weil es die Großen in seiner Nähe weiß, die ihm Schutz gewähren. Verstärkend kommt das kindliche Bedürfnis nach Anerkennung durch die Eltern hinzu – wir lernen als Kinder das meiste nicht deshalb, weil wir unabhängiger werden wollen, sondern weil wir nach der Anerkennung der Großen streben, was wir durch Nachahmung ihres Verhaltens zu erreichen suchen. Als Kinder benötigen wir diese Anerkennung so dringend, daß wir im Grunde alles dafür tun würden. Mit dem Älterwerden übertragen wir dieses Bedürfnis nach Anerkennung auch auf andere Erwachsene wie den Lehrer, den Chef, den Pfarrer, den Politiker – und die Religiösen auf Gott.

Die Schattenseite dieses Mechanismus liegt in der instinktiven – und daher unbewußten – Reaktion auf Autoritätsgehabe. Wer kennt nicht Demütigungen durch Vorgesetzte oder Sexualpartner, durch vermeintliche Freunde oder durch Amtspersonen? Hier werden wir wieder, meist ohne uns darüber im Klaren zu sein, zum Kind, das sich eingeschüchtert der Autorität beugt. Manche Menschen lösen diese Regression allein durch ihre Stimme bei uns aus, andere durch ihre Kleidung – der Zweck des Eindruck schindenden dunklen Anzugs samt Krawatte und Weste –, oder durch eine ganz bestimmte eindringlich-appellative Wortwahl oder durch ihr sonstige Gebaren. So manchem rutscht z.B. die Stimme unwillkürlich eine Oktave höher, wenn er mit einem uniformierten Beamten zu tun hat.

Diese Techniken werden vorwiegend in Lehr- und Handbüchern zur Personalführung, für Verkaufserfolg und für Verhöre beschrieben. Sie alle basieren auf der induzierten Regression, die sich der Überreste unseres natürlichen Bedürfnisses aus der Kindheit, Anerkennung zu erwerben, bedient. Dabei wird unser "Instinkt", Autoritäten zu respektieren, dazu mißbraucht, um uns auf einen unterwürfigen, nach Anerkennung gierenden Zustand der Kindhei zu reduzieren bzw. zurückzuwerfen. Der Volksmund begleitet den Ausdruck "so klein mit Hut" meist mit der Zwei-Finger-Geste, die einen minimalen Abstand zwischen Daumen und Zeigefinger anzeigt. Damit wird die Kleinheit des hilflosen Kindes angedeutet.

Die individuelle Lösung der dargestellten Problematik besteht nun aber keinesfalls darin, sich all jener Bedürfnisse, die wir uns mit unserer Autoritätshörigkeit und der dadurch ausgelösten Unterwürfigkeit erfüllen, zu entledigen. Wir brauchen einander und würden gerne in einer Welt leben, in der das Vertrauen in eine Autorität auch gerechtfertigt ist. Menschen mit einem ausgeprägten Kontrollbedürfnis, die sich irgendwann dazu entschlossen haben, ihre Gefühle weitgehend zu unterdrücken, um nicht ständig diesen Fallen ausgesetzt zu sein, leiden letztlich an Gefühlsarmut, weil es niemandem auf Dauer gelingen kann, nur die unerwünschten Gefühle zu unterdrücken: es leidet immer der gesamte "Gefühlsapparat" daran, sich nicht entfalten zu dürfen. Man sieht das daran, daß solche Leute zu menschenfeindlichen Haltungen, Handlungen und Aussagen fähig sind, die dem Gefühlsmenschen nicht so ohne weiteres möglich wären. Der – kranke – Gefühlsreduzierte bedient sich dabei völlig schamlos der von ihm als Schwäche empfundenen Gefühlsbereitschaft des noch halbwegs Fühlenden, induziert in ihm die oben beschriebene Unterlegenheit und Unterwürfigkeit und nötigt ihn durch die solcherart herbeigeführte Demütigung, es ihm gleichzutun. Er sucht ihn quasi mit seinem Vorbild der Gefühlsarmut genau dahin zu locken, wo er sich selbst befindet – mit dem unausgesprochenen Versprechen, diesen ganz speziellen Schmerz der Unterlegenheit und Hilflosigkeit zukünftig vermeiden zu können, wenn er sich den Forderungen des Gefühlsarmen anpaßt. Daß mit der Entscheidung, seine Gefühlsbereitschaft zu reduzieren, auch ein immenser Verlust an Erlebnisfähigkeit und Lebensfreude einhergeht, verschweigt der Gefühlsarme wohlweislich. Man befreit sich nicht vom sanften Zwang, indem man seine sozialen und emotionalen Bedürfnisse leugnet – das gelingt nur dadurch, daß man sie sich zurückerobert. Und dazu ist das Bewußtsein über diese Zusammenhänge Voraussetzung!

Vielleicht leuchtet dem einen oder anderen der behauptete Zusammenhang zwischen Gefühlsarmut – eingeschränkter oder gar fehlender emotionaler Bezogenheit auf die Umwelt – und übersteigertem Kontrollbedürfnis (Kontrollsucht der Kontrollfreaks) nicht auf Anhieb ein. Die Kontrollsucht entspringt aber tatsächlich der durch die Gefühlsarmut ausgelösten Angst vor Gefühlen – die den Urteilen der meisten Menschen zugrunde liegen – und der Angst vor den noch Fühlenden, die er, um sie abzuwerten, als schwach einschätzt, weil sie noch fühlen. Die Kontrollsucht scheint dem Gefühlsarmen das einzige Mittel, sich dieser Angst zu entledigen: Gewinnt er den Eindruck, alles unter Kontrolle zu haben, reduziert das seine Angst vor den Unwägbarkeiten der Gefühle. Letztlich hat er aber Angst vor seinen eigenen Gefühlen, weil ihm diese durch die Härte der frühen Sozialisierung so nachhaltig mit Verlustangst verknüpft wurden, daß ein Zulassen der eigenen Gefühle Todesängste auszulösen vermag.