10. Nobember 2006
Konstitution der Gesellschaft V
Unerkannte Gefahren durch Bildschirm-Medien

Neben den in den vorigen Artikel dargestellten Schädigungen durch Dauerstreß und Selbstverleugnung verfügt die moderne Gesellschaft über weitere destruktive Techniken. Eine dieser noch kaum erkannten Gefahren besteht in der rasant zunehmenden Verfügbarkeit von Bildschirm-Medien.

Stellt euch einmal eine Welt vor, in der es keine Autos gibt. Nein, das wird jetzt keine heile-Welt-Illusion, sondern die Einleitung für ein eindringliches Beispiel. Wir haben also eine fiktive Welt ohne Autos, ziehen wie früher unsere Lasten mit organischer Pferdekraft durch die Landschaft und – da landet plötzlich ein Raumschiff mit uns weit überlegenen Außerirdischen auf der Erde. Die erkennen sofort unser unterentwickeltes Transportsystem und zeigen uns, wie man Verbrennungsmotoren baut und damit Fahrzeuge antreibt. Natürlich machen das diese Aliens nicht umsonst. Als Gegenleistung fordern sie eine Million Menschenleben jährlich. Ein Aufschrei ginge um die ganze Welt, und die Menschheit wäre sich – was, wenn überhaupt, selten genug vorkommt – völlig einig, diesen Deal abzulehnen. Doch längst fordert das Auto tatsächlich eine Million Menschenopfer pro Jahr. Hinzu kommen noch gut 20 Millionen Verletzte mit teilweise lebenslangen Behinderungen, die Zupflasterung der Landschaft (Oberflächenversiegelung), die zu erhöhter Hochwassergefahr führt, all der Lärm und Gestank und die gesundheitliche Beeinträchtigung in den Städten in Form von Kreislauf- und Atemwegserkrankungen. Ähnlich verhält es sich mit den Kraftwerken – ob Kohle oder Kernkraft –, die zu weiteren Belastungen führen, an denen aber weitaus weniger Menschen sterben als durch Autounfälle. Doch die Gefahr, die z.B. von Kernkraftwerken ausgeht, wird von einer beträchtlichen Bürgerzahl immerhin so ernst genommen, daß sie auf die Straße gehen und dagegen demonstrieren.

In nahezu 98 Prozent aller deutschen Haushalte steht heute mindestens ein TV-Gerät. Der Trend geht längst zum Fernseher fürs Kinderzimmer. In den USA verfügen bereits 24 Prozent aller Zwei- bis Fünfjährigen, 48 Prozent der Sechs- bis Elfjährigen und 60 Prozent der Zwölf- bis Siebzehnjährigen über einen eigenen Fernseher, den sie unbeobachtet von den Eltern in ihrem Zimmer ein- und ausschalten können, wie's ihnen beliebt.

Die unterschiedlichen Auswirkungen des Fernsehkonsums auf die menschliche Gesundheit sind derart komplex, daß sie bisher noch nicht in allen Einzelheiten untersucht werden konnten, obwohl wir bereits wissen – wie zahlreiche Studien und Untersuchungen unwiderlegbar zeigen –, daß Fernsehen zu gesundheitlichen Schäden bis zum Tod führen kann – und das auch in vielen Fällen tut.

Im Jahr 2002 legte die Diplom-Biologin Helen Kalies von der Uni München (LMU) eine Studie über die Fettleibigkeit von Kindern für den Zeitraum von 1982 bis 1997 vor. Danach waren damals 11 Prozent der Jungen und 13.6 Prozent der Mädchen übergewichtig und 2.8 Prozent richtiggehend fettleibig. Das bedeutete einen Anstieg dieser gesundheitlichen Belastund um 45 Prozent bei Jungen und 43 Prozent bei Mädchen in diesem Zeitraum. Aus Kinder- und Jugendarztpraxen liegen neuere Daten (2004) vor. Danach sind heute 6.9% der Jungen und 7.1% der Mädchen fettleibig. Dabei handelt es sich keineswegs um ein deutsches Problem. Fachleute sprechen von einer weltweiten Epidemie: In Rußland steigt der Anteil der Fettleibigen unter den 6-18jährigen pro Jahr um 9% an, in China um 3%, in den USA um 4%, in Brasilien um 11% (6-9jährige), in Ghana um 21%.

Eine Längsschnittstudie (Beobachtung der Entwicklung von bestimmten Menschen über 17 Jahre hinweg), die bereits vor 20 Jahren im amerikanischen Fachjournal PEDIATRICS veröffentlicht wurde, wies als Haupteinflußfaktor für die rasante Zunahme der Dickleibigkeit unter Kindern den zunehmenden TV-Konsum nach. Dabei wurde nicht einfach nachgeschaut, ob der, der dick ist, viel fernsieht, sondern auch, ob jene, die als Kinder viel vor der Glotze hockten, als Jugendliche später auch (noch) dick waren. Die Untersuchung ergab ein eindeutigis Ja. Inzwischen existieren zirka 50 ähnliche Studien, die alle eindeutig belegen: TV-Konsum macht dick.

Gortmaker et al. 1996: Längsschnittstudie an 764 Kindern zwischen 10 und 15 Jahren mit dem Ergebnis einer klaren Dosisabhängigkeit des Körpergewichts von der Zeit vor der Glotze. Die Zahl der neu hinzugekommenen Übergewichtigen nahm innerhalb des Beobachtungszeitraums ebenso zu wie der Anteil der Übergewichtigen. "Die Wahrscheinlichkeit, übergewichtig zu werden, nimmt mit jeder zusätzlichen Stunde Fernsehen pro Tag um den Faktor 1.2 zu [... und die] Wahrscheinlichkeit, übergewichtig zu bleiben, nimmt mit jeder zusätzlichen Stunde Fernsehen/Tag um den Faktor 1.3 zu", kommentierten Gortmaker und seine Mitarbeiter ihre Ergebnisse. Von diesen Kindern verbrachten nur 11% weniger als zwei Stunden täglich vor dem TV-Gerät.

Aufschlußreich ist auch die entsprechende Entwicklung in China: Im Jahre 1997 schauten gerade mal 8 Prozent von 2675 beobachteten Kindern (mittleres Alter 11.5 Jahre) mehr als zwei Stunden täglich fern, weniger als 1 Prozent mehr als vier Stunden täglich (Daten aus dem China Health National Survey von 1997). Mittlerweile erhöhte sich die Anzahl der TV-Geräte pro Haushalt von 17.2% (1985) auf 111.6 (1999). Drei Jahre nach der erwähnten Studie, also im Jahr 2000, fand man einen deutlichen Zusammenhang zwischen TV-Konsum und Übergewicht, bei Mädchen sogar ausgeprägter als bei Jungs.

Die bisher gezeigten Fakten geben über eine Sache keinen Aufschluß: Wie macht Fernsehen dick? Bislang sind drei Mechanismen bekannt, die den Zusammenhang zwischen erhöhtem Fernsehkonsum und Gewichszunahme erklären:

1. Wer vor der Glotze sitzt, bewegt sich weniger.. Die bewegungsarme Zeit vor dem Fernseher geht von der Zeit aktiver Bewegung ab. Wer dicker wird, bewegt sich zudem immer weniger, weil ihm Bewegung immer schwerer fällt.

2. Fernsehen zeigt ungünstige Auswirkungen auf Eßgewohnheiten – und zwar während und nach dem TV-Konsum. Hier kommt einerseits die Vorbildwirkung der Schauspieler zum Tragen, zum anderen die Produktreklame, die fast ausnahmslos ungünstige bis schädliche Nahrungsmittel anpreist: hochkalorienhaltige Nahrung, salzige und süße Snacks, gezuckerte Limos, Alkohol (Bier & Wein). Dazu kommt die weite Verbreitung der Angewohnheit, die Mahlzeiten vor dem laufenden Fernseher einzunehmen, was die Qualität der Mahlzeiten ungünstig beeinflußt, vor allem aber zu einem unbewußteren Eß- und Kauverhalten führt, wodurch mehr geschlungen und somit nachweisbar mehr gegessen wird.

3. Bildschirm und Energieverbrauch: Man hat beobachtet, daß Kinder, die gebannt vor dem Apparat sitzen, sich im Gegensatz zu ihren sonstigen Gewohnheiten – Zappeln, Herumtollen, Springe usw. –, fast gar nicht mehr bewegen. Auch der erwachsene couch-potato liegt meist faul und bequem vor der Flimmerkiste und – wird dick durch Erstarrung. Daß nicht allein die Ernährung für's Dickwerden verantwortlich zeichnet, stellte eine 1999 in der Zeitschrift SCIENCE veröffentlichte Studie (Levine et al.) fest: 16 normalgewichtige Personen mußten während 8 Wochen täglich 1000 Kalorien zuviel zu sich nehmen. Manche nahmen mehr als vier Kilo zu, andere fast gar nicht. Man wies nach, daß diese Unterschiede auf unmerkliche Bewegungsgewohnheiten (kein Sport) zurückzuführen waren: kleine Zappelbewegungen, häufigere Veränderung der Körperhaltung usw. Man spricht von nonexercise activity thermogenesis: Energieverbrauch ohne Schwitzen. Wer also viel zappelt, öfter die Haltung ändert, auch mal aufsteht und herumgeht, Tanzbewegungen oder Händefuchteln zelebriert, setzt weniger Fett an, denn diese kleinen Bewegungen stellen gut ein Drittel des täglichen Energieverbrauchs. In einer 2002 veröffentlichten Studie (Coon und Tucker) kam heraus: "Über längere Zeit könnte die Tendenz des Fernsehens, das kindliche Zappeln oder andere kleine Bewegungen der Kinder zu unterdrücken, den durchschnittlichen kindlichen Energieverbrauch beeinflussen und dadurch zu einer positiven Energiebilanz führen."

Neben den gesundheitlichen Gefahren, die vom Fernsehen ausgehen, existieren noch jene, die sich auf die kognitive Leistungsfähigkeit auswirken. Zahlreiche Studien weisen einen direkten Zusammenhang zwischen Fernsehkonsum und Schulerfolg nach. In den Anfängen der Fernsehkultur dachte man noch, daß man mit Informationssendungen eine Verbesserung schulischer Leistungen erzielen könnte. Inzwischen ist eindeutig erwiesen: Fernsehen führt zu schlechten Noten, was Morgan und Gross bereits 1982 nachwiesen und Myrtek 2003 bestätigte. Dabei stellt sich der Zusammenhang des Fernsehkonsums mit Schulschwäche nicht einfach als Auswirkung nicht gemachter Hausaufgaben dar: Wer als Kind viel fernsieht, lernt schlechter lesen (Corteen & Williams 1986; Ennemoser 2003b), ist weniger kreativ (Harrison & Williams 1986), nimmt Dinge um ihn herum eher oberflächlich wahr, denkt weniger kritisch und übernimmt leichter vorgegebene Rollen (Kimball 1986). Die Hälfte der 15jährigen – sie zählen zu den 50% der Vielseher – verbringt von ihren 5840 Stunden jährlicher wacher Zeit ca. 1200 vor der Glotze, dagegen 1000 Stunden in der Schule und 1170 mit der Familie, wobei häufig gemeinsam ferngesehen wird. Myrtek & Scharff (Forschungsgruppe für Psychophysiologie, 2000, S. 140): "Nimmt man die Schule, das Elternhaus und das Fernsehen zusammen, so werden fast 42% der 'Erziehung' vom Fernsehen geleistet. ... Diese Beispiele zeigen, daß der Einfluß des Fernsehens bei den Vielsehern größer sein muß, als es sich viele eingestehen möchten. Das Weltbild der Vielseher wird ganz erheblich vom Fernsehen geprägt, ein Bild, das mit der Wirklichkeit nur wenig zu tun hat."

Eine andere Studie (2003, S. 458), ebenfalls von Myrtek, kommt zu dem Schluß:
Es läßt sich somit kein "Schulstreß", sondern vielmehr ein "Fernsehstreß" ausmachen. Vielseher reagieren auf das Fernsehen emotional schwächer als Wenigseher. Es zeigt sich weiterhin, daß die jüngeren Schüler beim Fernsehen emotional beanspruchter sind als die älteren; in der Schule läßt sich dieser Unterschied nicht nachweisen. Subjektiv wird die Schulzeit im Vergleich zum Fernsehen von allen Schülern als aufregender und unangenehmer beurteilt. Der "Schulstreß" [...] kann nicht mit physiologischen Daten belegt werden; vielmehr ist das Fernsehen beanspruchender als die Schulzeit.

Myrtek gelangte zu seinen Daten über eine EKG-gestützte Untersuchung, während der der Puls und die körperliche Bewegung über an den Testpersonen (Schülern) angebrachte Sensoren gemessen wurden, während diese ihren üblichen Tagesablauf absolvierten. Die Schüler erhielten ein mobiles Datenerfassungssystem, das alle 15 Minuten eine kurze Beschreibung ihres Befindens und ihrer aktuellen Tätigkeit verlangte. Von 223 Testpersonen waren 200 Datensätze auswertbar, so daß erstmals eine sehr genaue Beschreibung des Alltags von jeweils 100 Kindern im Alter von elf bzw. 15 Jahren möglich wurde.

Die bedenklichsten Auswirkungen des Fernsehens auf Kinder sind in deren Sozialverhalten zu beobachten: Vielseher führen weniger Gespräche, sind öfter allein, verbringen weniger Zeit mit Freunden. Damit ist das häufig eingewandte Argument für die Notwendigkeit des Fernsehens entkräftet, das besagt, Kinder und Jugendliche müßten fernsehen, um nicht zu Außenseitern der Gesellschaft zu werden, denn das gneaue Gegenteil ist der Fall.

Der schon lange kontrovers diskutierter Zusammenhang zwischen Gewaltdarstellungen im Fernsehen und der Zunahme der Gewaltbereitschaft unter Kindern und Jugendlichen ist inzwischen ebenfalls eindeutig nachgewiesen. So ermordeten drei männliche Teenager einen behinderten 65jährigen, indem sie mit der Tat eine Szene aus dem Film NATURAL BORN KILLERS nachhahmten. Frankreich wurde vor einigen Jahren von einer Gewaltwelle im Zusammenhang mit dem Kultfilm SCREAM heimgesucht, wie THE OBSERVER am 09.06.2002 berichtete. Mehr als die Hälfte der von Kindern ausgeliehenen Videos sind Horrorfilme mit brutalsten, für mein Empfinden ekelerregenden Gewaltszenen. So kam es nach dem Bekanntwerden der Vorfälle um die SCREAM-Morde, insbesondere des Mordes an einer 15jährigen durch einen jugendlichen Bekannten in Saint-Sébastien, zu einem regelrechten Ansturm auf Videotheken: Die Leute wollten SCREAM sehen (nach Webster 2002).

Das deutsche Fernsehen wurde ab den 80er Jahren gewalthaltiger. Die Einführung der Privatsender im Jahr 1984 führte zu einem erheblichen Konkurrenzdruck durch die größere Anzahl der Anbieter von TV-Werbezeit. Bekanntlicherweise führen gewalttätige Sendungen zu höheren Einschaltquoten, was letztlich zu einer medialen Gewaltspirale ohne absehbares Ende eskaliert. Selbst in Musiksendungen ist seit MTV Gewalt alltäglich. Helmut Lukasch von der Uni Regensburg hat mit seinen Mitarbeitern in der Studie DAS WELTBILD DES FERNSEHENS (2004) alarmierende Daten präsentiert:

Mittlerweile gibt es schon Arbeiten zur Geschichte des Literatur-Genres "Gewalt im Fernsehen", was zeigt, daß Auswirkungen von Mediengewalt inzwischen sehr gut untersucht sind: Man kennt heute etwa 800 empirische Untersuchungen, in denen ca. 2400 einzelne Effektvergleiche dargestellt werden. Die Frage, weshalb die Förderung von Gewaltbereitschaft durch Mediengewalt noch immer kontrovers diskutiert wird, läßt eine ganz andere Problematik durchscheinen. Zu weiteren Zusammenhängen siehe auch folgende Artikel:

Auf zum lustigen Passantenklatschen
Gewalt: eine soziale Krankheit der gesamten Gesellschaft
Kriegswahn schon im Kleinen?
Lust und Gewaltbereitschaft
Zur steigenden Gewaltbereitschaft Jugendlicher

Im Übrigen gilt das meiste für die Glotze hier Beschriebene auch für den längst in vielen Kinderzimmern zu findenden Computer, der nicht, wie viele heute noch glauben mögen, vorwiegend zum Lernen & Recherchieren interessanter Inhalte für die Schule, sondern vor allem zum Herunterladen von Ballerspielen verwendet wird.

(alle Daten aus: Manfred Spitzer, VORSICHT BILDSCHIRM, elektronische Medien, Gehirnentwicklung, Gesundheit und Gesellschaft, ISBN 3-12-010170-2, KLETT-Verlag)