3. Nobember 2006
Konstitution der Gesellschaft IV

Der gesellschaftliche Zwang zur Selbstverleugnung

Alle uns heute bekannten Kulturen zeichnen sich durch eine ganz besondere Gemeinsamkeit aus: den sozialen Zwang zur Selbstverleugnung. Die Grundstein zu dieser Abwehr gegen eigene Anteile des Selbst wird in den Individuen zu einem sehr frühen Zeitpunkt ihrer Entwicklung gelegt.

Bei Selbstverleugnung denkt man meist an sich aufopfernde Menschen, die vorzugsweise religiös geprägt sind und sich nicht ihren Bedürfnissen entsprechend verhalten, aber auch an solche, die nicht zu sich stehen und sich aus welchen Gründen auch immer ihre eigenen Bedürfnisse nicht eingestehen können oder wollen. Selbstverleugnung stellt eine Haltung dar, die kaum jemand bereit ist an sich selbst wahrzunehmen. Das ist, will ich meinen, mehr als verständlich, denn das Wesen der Selbstverleugnung besteht nunmal in Verschleierung, Idealisierung und Beschönigung des eigenen Selbst.

Selbstverleugnung führt zu Selbstverklärung und zur Idealisierung der eigenen Person, ihrer Werte, Haltungen und Handlungen. Das ist deshalb so, weil kein Mensch auf Dauer ertragen könnte, seine Bedürfnisse ständig bewußt zu unterdrücken. Vielmehr webt sich der Mensch ein Hirngespinst, das ihm die Notwendigkeit der Selbstverleugnung plausibel macht. Mit anderen Worten fördert die Selbstverleugnung das Konstruieren von Illusionen über die eigene Person, deren Motive und Ziele. Das hat vielfältige Auswirkungen auf die Wahrnehmung des sich selbst verleugnenden Menschen, denn wir alle – ob nun Selbstverleugner oder nicht – sehen die Welt nicht so, wie sie ist, sondern so, wie wir sind. Sind wir innerlich gespalten – und das sind wir alle mehr oder weniger, auch wenn wir gewöhnlich nur die Schizophrenen als davon befallen gelten lassen. Daher können wir einen Teil der Welt nicht unverzerrt wahrnehmen.

Wird ein so gewordener Mensch selber Vater oder Mutter, dann muß er mit Ereignissen konfrontiert werden, die das ganze mühsam konstruierte Wirklichkeits-Gebäude ins Wanken bringen könnten: er sieht ein lebendiges Kind vor sich, er sieht, wie ein Mensch eigentlich beschaffen ist, wie er sein könnte, wenn man ihn nur nicht daran hindern würde. Aber da kommen bereits eigene Ängste ins Spiel: Das darf nicht sein! Wenn man das Kind, so wie es ist, leben ließe, hieße das nicht, daß die eigenen Opfer und Selbstverleugnungen nicht nötig gewesen wären? Wäre es möglich, daß ein Kind ohne den Zwang zum Gehorsam, ohne die Willensunterdrückung, ohne die seit Jahrhunderten empfohlene Bekämpfung des frühkindlichen Egoismus und Eigensinns gedeihen könnte? Eltern können solche Gedanken nicht zulassen; sie würden sonst in die größte Not kommen und den eigenen Boden verlieren, den Boden der überlieferten Ideologie, in der die Unterdrückung und Manipulation des Lebendigen den höchsten Wert darstellen. Laßt mich dazu ein Beispiel bringen:

Die Mutter liebt ihr einige Tage altes Baby mit einer bis dahin nicht gekannten Zärtlichkeit. Anfangs fällt es ihr schwer, den Kleinen nach dem Füttern wieder hinzulegen, besonders weil er so verzweifelt dabei schreit. Aber sie ist überzeugt davon, daß sie es tun muß, denn ihre Mutter hat ihr gesagt (und sie muß es ja schließlich wissen, die eigene Mutter!), daß er später einmal verzogen sein und Schwierigkeiten machen wird, wenn sie ihm jetzt nachgibt ... Sie zögert. Ihr Herz wird zu ihm hingezogen, doch sie widersteht und geht weiter. Er ist soeben frisch gewickelt und gefüttert worden. Deshalb ist sie sicher, daß ihm in Wirklichkeit nichts fehlt; und sie läßt ihn weinen, bis er erschöpft ist.

Diese Mutter kann das Verlangen ihres Kindes nach Kontakt und Berührung nicht erkennen und deshalb auch nicht angemessen darauf reagieren. Das ist so, weil in ihrer Entwicklung ihr eigenes Verlangen danach abgewürgt wurde. So ein Entwicklungs-Ablauf führt dazu, daß eine Mutter keinen Zugang zur eigenen Autonomie hat und deswegen auch nicht zu der ihres Kindes: sie traut ihrer eigenen Wahrnehmung weniger als dem Ratschlag der eigenen Mutter. Hier passiert im Grunde etwas Unabsichtliches: Die Mutter läßt den Säugling leiden, ohne daß sie sich dessen bewußt wird oder sich gar eine Absicht dahinter eingestehen müßte. Das Ungeheuerliche daran ist die Art und Weise, wie der Mutter Verhältnis zur Realität als Waffe gebraucht wird, um das Kind zu peinigen. Wir haben es hier mit einer verleugneten Feindseligkeit zu tun, die uns von Geburt an umgibt und deswegen weder vom Opfer noch von dem, der Unterwerfung fordert, anerkannt wird. In Wirklichkeit fehlt dem Kind ja nichts! Jeder kennt wohl den häufig gebrauchten Satz: "Hör auf zu weinen, du hast gar keinen Grund dazu!" Als ob das Kind (oder der Lebenspartner) absichtlich heulen würde, um den anderen, den dominanten Part, zu ärgern.

Und weil die Mutter kein Schuldgefühl empfindet, braucht sie sich auch nicht damit auseinanderzusetzen, daß sie gerade dabei ist, ihre eigene Lebensgeschichte, ihre eigenen Erfahrungen von Unterdrückung und "Vergewaltigung" zu wiederholen. Noch weniger vermag sie zu erkennen, daß sie dabei auch ihre eigenen Bedürfnisse abtötet, ihre eigene Spaltung zementiert. Das Schreien ihres Kindes weckt ihre eigene Verzweiflung von damals und damit quälende Gefühle der Wut und Ohnmacht. Die kann sie aber nicht zulassen, denn sie widersprechen ihrer erlernten "Wirklichkeit" und der ganzen Struktur ihres Selbst, die auf diesem Erlernten basiert. Das Schreien ihres Kindes als Verzweiflung wahrzunehmen, würde sie mit der Auflösung ihres seelischen Zusammenhalts bedrohen.

Der Mythos, den wir alle um unsere Person aufzubauen gelernt haben, zerstört uns daher selbst und in gewisser Weise auch alles, was wir berühren. Natürlich sind wir nicht alle im selben Ausmaß davon geprägt, aber der Mythos ist immer gegenwärtig, weil wir ihn nämlich brauchen, um vor dem eigenen wahren Selbst auszuweichen, um das Verleugnete nicht aus uns hervorbrechen zu lassen. Und wie so häufig ist auch hier Angst, tiefe, uneingstandene Angst die Ursache. Wie sonst wäre es zu erklären, daß sich Menschen immer wieder genau jenen ergeben, die die größte Selbstaufopferung von ihnen verlangen, die jedoch selbst stets das Image von Stärke und Herrschaft pflegen? Denn nichts löst diese der religiösen Ergebenheit zum Verwechseln ähnliche Unterwerfung, dieses erhabene Gefühl der Heiligkeit einer Mission mehr aus als die Hörigkeit einem "höheren" Ziel gegenüber. Wer die Entwicklung des deutschen Faschismus eingehend studiert hat, wird das bestätigen können. Wir haben diesen Unterwerfungsreflex zu früh gelernt, um ihn später mit unseren geistigen Fähigkeiten erkennen zu können als das, was er in Wirklichkeit ist: ein Resignieren und daraus resultierendes überlebensnotwendiges Idealisieren derer, die uns in diesem frühen Lebensabschnitt Qualen bereiteten.

Der Aufruf, für einen Gott, eine Nation, eine Idee Blut zu vergießen, löst Gefühle der inneren Reinheit aus, eine Ekstase absoluter "Liebe", einen Taumel von tugendhafter Selbstverliebtheit. Warum erkennen wir aber jedesmal erst dann, wenn dies in die Geschichte als Geschichte eingeht, daß es sich um Unterwerfung unter den Wahnsinn eines Mächtigen gehandelt hat? Oft sind es die Besten unter uns, jene, die frei sein möchten, die alles, was ihnen lieb ist, verlassen. Sie wenden sich gegen ihre eigenen Vorsätze, gegen ihre eigenen Gefühle in dem Moment, in dem ein Diktator, ein Führer, ein Oberpriester, Premierminister oder Duce sie zum Kampf aufruft – und fühlen sich erhoben. Dieses heilige, tugendhafte Gefühl, was hat es mit dem wahren Selbst zu tun?

Warum verhalten wir uns immer wieder wie Schafe in unserer eigenen Geschichte, gerade gegenüber denen, die uns am meisten verachten, beherrschen, unterdrücken, zerstören? Warum verschafft Gehorsam ihnen gegenüber ein so gutes Gefühl? Warum erlöst es uns von der Angst, der Unruhe nach einem eigenen Selbst, der eigenen Verantwortung? Ist die Angst vor der eigenen Hilflosigkeit so tief in uns Männern ausgeprägt, daß wir jedem Führer entgegenlaufen, der uns Erlösung durch Zuflucht in seine Verachtung für uns anbietet? Ja, seine Verachtung für uns, unser Am-Leben-Sein erlöst uns, weil wir uns selbst verachten. Unser Streben nach Macht, Überlegenheit, Herrschaft, Erfolg und Eroberung verhüllt die immer präsente Furcht vor dem Versagen, der Hilflosigkeit, die wir nur als Schwäche zu erleben gelernt haben. Trotz der erstaunlichsten Errungenschaften zweifeln wir an unserer "Männlichkeit".

Unsere Partnerin hat zum Beispiel keinen Orgasmus, und schon haben wir das Gefühl, daß sich in dieser Tatsache unsere ungenügende Potenz widerspiegelt! Es ist unsere eigene geheime Selbst-Verachtung, von der der Unterdrücker uns befreit, indem er uns in der Tat und ganz offensichtlich verachtet. Wie sonst wird ein Stalin zu einer Vaterfigur? Ein Hitler zu einem fehlerlosen Gott? Wir verherrlichen sie – und fühlen uns dann selber erhoben –, weil wir in der Tiefe ihre Minderwertigkeit, Leere und Haß auf das Leben erkennen. Bis auf den heutigen Tag versehen Historiker Hitler mit magischen Eigenschaften, um zu erklären, wie ihm die ganze Welt verfallen konnte. Aber die Gründe liegen vor allem in uns selbst. Wir statten solche Führer mit nicht existenten Qualitäten aus, weil ihre Verachtung uns befreit.

(aus: Arno Gruen, Verrat am "Selbst")

Was tatsächlich hinter solchen als charismatisch verklärten Führern steckt, läßt sich vielleicht durch einen Absatz aus John Tolands Buch "Adolf Hitler" (1977) erhellen:

Dem Kind Adolf war die Kontinuität der Schläge gesichert. Was er auch getan haben mochte, es konnte auf die täglichen Prügel keinen Einfluß haben. Es blieb ihm nur die Verleugnung der Schmerzen, also die Selbstverleugnung und die Identifikation mit dem Aggressor. Niemand konnte ihm helfen, nicht einmal seine Mutter, die sonst in Gefahr geriet. Denn auch sie wurde geschlagen.

Stanley Milgram, dessen berühmtes Experiment weltweit für Aufsehen sorgte, resümiert gegen Ende seines Buches:

Es ist bittere Ironie, daß die Tugenden der Loyalität, der Disziplin und der Selbstaufopferung, die wir am einzelnen so hoch schätzen, genau die Eigenschaften sind, die eine organisierte Kriegs- und Vernichtungsmaschinerie schaffen und Menschen an bösartige Autoritätssysteme binden. ... Jeder Mensch hat ein Gewissen, das mehr oder weniger dazu beiträgt, die Triebbefriedigung, die anderen Schaden zufügt, zu verhindern. Doch wenn der Mensch seine Person in eine Organisationsstruktur einbringt, tritt an die Stelle des autonomen Menschen ein neues Wesen, das von seinen individuellen Moralvorstellungen nicht mehr eingeschränkt ist, das von der Behinderung durch Gebote der Menschlichkeit befreit ist und nur auf die Sanktionen seitens der Autorität achtet.

(aus: Stanley Milgram, "Das Milgram-Experiment")