31. Oktober 2006
Konstitution der Gesellschaft III
Streß – Definition und Wirkung

Biologisch gesehen beschreibt der Streßbegriff einen Zustand erhöhter Funktionsbereitschaft lebender Organismen. Es handelt sich dabei um einen Prozeß, der die Vitalfunktionen zu erhöhter Leistung bringt, wenn die Situation das erfordert. Nun ist aber der Streß in weiten Kreisen der Bevölkerung negativ besetzt. Das hängt damit zusammen, daß anhaltender Streß nicht nur unangenehme Empfindungen auslöst, sondern nachweisbar ungesund ist.

Streß hat aber durchaus positive Seiten: in Maßen regt der die Denkfähigkeit an, fördert die Durchblutung, beugt Fettablagerungen vor und ist so manchem Motivation und Antrieb. Dagegen führt Dauerstreß zu verschiedenen Symptomen wie (Liste unvollständig):

Es gilt also, chronischen Streß zu vermeiden, der, im Gegensatz zum akuten Streß, zu vielerlei Erkrankungen führt. Dabei gibt es kein allgemeingültiges Maß, ab wann Situationen als Streß empfunden werden: Streß ist das, was ich dafür halte. Das wurde vor vielen Jahren bereits in Streßexperimenten mit Ratten nachgewiesen:

Einer Ratte wird in einem Gitterkäfig die Möglichkeit geboten, elektrische Schocks zu vermeiden, indem sie einen Hebel drückt, nachdem ein akustisches oder auch ein visuelles Signal gegeben wurde. Einer anderen Ratte in einem anderen Käfig wird diese Möglichkeit nicht geboten: sie erhält einen Schock, wenn die erste Ratte einen erhält, ohne Möglichkeit, diesen zu vermeiden. Man kann also ohne weiteres behaupten, daß beide Ratten der gleichen "Störungsmenge" ausgesetzt werden. Dabei traten bei der zweiten Ratte nach einiger Zeit eine ganze Reihe der oben genannten körperlichen Komplikationen auf, bei der ersten Ratte dagegen nicht. Diese hatte nämlich den Eindruck, der Situation generell gewachsen zu sein und alles im Griff zu haben, wogegen die zweite Ratte der Situation hilflos ausgeliefert war.

Was macht Streß im Gehirn?

An der Aktivierung von Streß ist hauptsächlich das sog. Streßhormon Cortisol beteiligt, das mit ähnlichen Hormonen für einen ausgeglichenen Zustand zwischen Streß- und Entspannung sorgt. Dabei funktionieren die Hormone abstrakt betrachtet wie ein Heizungssystem mit Thermostat (Rückkopplungsmechanismus): Die Wärme durch die Heizung dehnt das Bimetall des Thermostats, dadurch wird die Wärmeleistung reduziert, was wiederum das Bimetall sich zusammenziehen läßt, wodurch eine erneute Wärmeleistung ausgelöst wird. Kontrolle darüber, ob auch alles schön im Gleichgewicht ist, übt die Hirnrinde zusammen mit dem Hippocampus aus.

Bei chronischem Streß allerdings gerät dieses fein regulierte System aus dem Gleichgewicht: gerade jene Nervenzellen, die mit der Regulierung zu tun haben, werden überlastet und sterben ab. Untersuchungen an Affen, die an Streß gestorben sind, ergaben eine weitgehend zerstörte Struktur der Nervenzellen des Hippocampus. Chronischer Streß verursacht also auch Gehirnschäden, denn ohne funktionierenen Hippocampus ist das Gehirn nicht mehr lernfähig. Je mehr Streß erfahren wird, desto kleiner wird der Hippocampus. Diese Verkleinerung tritt auch bei chronischer Depression auf, die den Betroffenen quasi unter Dauerstreß hält. So wurde u.a. auch nachgewiesen, daß der Hippocampus von Soldaten, die sich ca. drei Jahre an der Front befanden, auf die Hälfte seiner ursprünglichen Größe geschrumpft ist.

Von diesem Einfluß, den Streß auf die Größe des Hippocampus und auf dessen Funktionsfähigkeit ausübt, sind besonders Ungeborene und Kinder betroffen. Gerade weil sie sich noch in der Entwicklung ihres Körpers befinden, führt übermäßiger Streß bei ihnen zu nachhaltigen Störungen der Denk- und Merkfähigkeit. Die Hirnforschung kann heute nachweisen, daß Kinder, deren vor- und/oder nachgeburtliche Entwicklung mit ständigem Streß verbunden war, enorme Schwierigkeiten beim Lernen aufweisen – eben weil ihr Hippocampus sich unter dem Einfluß der Streßhormone nicht voll entwickeln konnte. Diese Unterentwicklung des Hippocampus bleibt dem so Geschädigten auch im späteren Erwachsenenleben weitestgehend erhalten.

Im Zusammenhang mit den Inhalten der bereits publizierten Artikel dieser Serie – Vorwurfsvolle Schuldzuweisungen und Die Struktur des Hasses – möchte ich Folgendes festhalten:

Der heutige – im Gegensatz zu früheren Erziehungsmethoden zwar fortschrittliche, aber noch immer schädigende – Umgang mit Kindern birgt enorme Risiken für den Fortbestand unserer Spezies. Wir verfügen inzwischen – "dank" unseres technischen Fortschritts – über ein enormes Destruktiv-Potenial: nicht nur über die Massenvernichtungswaffen, sondern auch über ein steigendes Arsenal von Schuß- und Handfeuerwaffen. Gleichzeitig produzieren wir weiterhin hilflose Menschen, deren Hilflosig sich, auch wenn das auf den ersten Blick nicht einleuchten will, in gesteigerter Gewaltbereitschaft ausdrückt. Denn Gewaltanwendung gegen andere ist ein Ausdruck von Hilflosigkeit und Ohnmacht: es bleibt mangels anderer Möglichkeiten nur noch die Flucht in Gewalt und Zerstörung.

Die Hilflosigkeit des Kindes, hervorgerufen durch seine völlige Abhängigkeit von den Eltern, herrscht auch im Erwachsenenleben vor – vermindert, aber wirkungsmächtig genug, um z.B. eine 20prozentige Zunahme rechtsextremer Gewalttaten gegenüber dem Vorjahr auszulösen.

siehe dazu auch: Maerkische Allgemeine, Wiesbadener Kurier, Wormser Zeitung, Hamburger Abendblatt, Neues Deutschland, Der Standard.at, Kölner Stadt-Anzeiger, Maerkische Allgemeine, Antifa warnt, Hamburger Abendblatt, Tageblatt online.

Inzwischen halte ich die allerorten zu beobachtende und meist übertriebene Demonstration von Stärke und Überlegenheit für ein warnendes Zeichen der uneingestandenen (und zunehmenden) Hilflosigkeit weiter Teile der Bevölkerung. Letztlich läßt sich die hier verschleiert ausgedrückte Ohnmacht auf die zunehmende Hilflosigkeit gegenüber der Notwendigkeit, die eigene Befindlichkeit erträglich zu halten, reduzieren. Mit anderen Worten: es geht im Grunde um den Erhalt des eigenen Wohlbefindens – bei den oft kindischen Streitereien in Internetforen, im Reallife in Firmen, Familien, Schulen und vielen anderen Orten, wo sich Menschen begegnen und gegeneinander abgrenzen.

Das Wohlbefinden des Menschen unserer Gesellschaft hängt noch immer weitgehend von autoritären Strukturen ab, ohne die er völlig die Orientierung verlieren würde. Das soll aber nicht heißen, daß es sich hier um eine naturgesetzliche Notwendigkeit handelt, wie gewisse Zeitgenossen gerne behaupten, um auf diese Weise Herrschaftsansprüche zu rechtfertigen. Es ist die eingeschränkte Autononomie des Individuums, die sein Verlangen nach autoritären Strukturen begründet. Es sind die Folgen der Unterdrückung wichtiger Selbstanteile, die ihn unvollständig und ohnmächtig machen, die ihn zerteilen und subtil manipulieren, unbemerkt vom (kognitiven) Kontrollschalter des autarken Selbst. Es ist die künstlich herbeigeführte Unterentwicklung weiter Teile der Bevölkerung, die sie vor Wahlen empfänglich macht für grandiose Versprechungen und schnelle Lösungen – die dann routinemäßig nicht eingehalten werden.

Kindermenschen nannte Hermann Hesse, der selbst unter einem repressiven Elternhaus litt, den modernen Durchschnittstyp – und wußte vermutlich nicht, wie treffend dieser Ausdruck gewählt war. In der Tat strebt ein großer Teil der heutigen Menschen ständig nach der Befriedigung unerfüllter Kindheitsbedürfnisse. Sehr deutlich kommt dieser Umstand in überall und jederzeit beobachtbaren Regressionen um Ausdruck, die einsetzen, wenn der unterentwickelte Mensch nicht weiter weiß. Regression bezeichnet den impulsiven Rückgriff auf kindliche Verhaltensweisen, zu denen u.a. Gewalt bzw. Gewaltbereitschaft, Lügen, Verstecken, Verschleiern, Verheimlichen und die Neigung zu Illusionen und Euphemismen zählen. Hesse schreibt in seiner Erzählung "Kinderseele":

Die Erwachsenen taten, als sei die Welt vollkommen und als seien sie Halbgötter, wir Knaben aber nichts als Auswurf und Abschaum. ... Immer wieder passierte schon nach Tagen, schon nach Stunden etwas, was nicht hätte sein dürfen, etwas Elendes, Betrübendes und Beschämendes. Immer wieder fiel man aus den trotzigsten und adligsten Entschlüssen und Gelöbnissen plötzlich unentrinnbar in Sünde und Lumperei, in Alltag und Gewöhnlichkeiten zurück! ... Warum war das so? Ging es anderen anders?

Links zum Thema:

Opfer überforderter Eltern; Artikel beim Deutschlandfunk über vernachlässigte Kinder.
Die Psychologie des Arno Gruen; umfassende Darstellung seines Werks.
Der Nachbarsjunge ist immer so still; Alarmsignale erkennen, wenn Eltern Kinder vernachlässigen.
Vernachlässigte Kinder; Kindeswohl zwischen Jugendhilfe und Familiengericht.
Das Kindeswohl auf dem Altar des Elternrechts; Erfahrungen mit dem staatlichen Schutz für vernachlässigte und mißhandelte Kinder.
Eltern im Netz; Vernachlässigung von Kindern (auch als PDF-Datei verfügbar).
Vernachlässigte Kinder – (K)eine Frage des Geldes; auch Kinder aus der Mittelschicht leiden unter ihren überforderten Eltern.
Hamburg.de: Vernachlässigte Kinder: Sachaufklärung und besonnenes Handeln sind das Gebot der Stunde.

Insgesamt fand Google unter dem Stichwort vernachlässigte Kinder 148.000 Einträge.

Zum Streß siehe auch Folge 17 der Sendung Geist und Gehirn, zum Hippocampus die Folge 9, online abrufbar beim Bayrischen Rundfunk. Dauer jeweils 15 Minuten.