27. August 2006
Konstitution der Gesellschaft II
Die Struktur des Hasses

Daß der Haß allgegenwärtig und doch allermeist uneingestandenen seine Kreise zieht, belegt u.a. ein kleiner Test: die Google-Suche nach dem Wort "Hass" erbrachte 5.520.000 Seiten, die nach er alten Schreibweise "Haß" gar 5.670.000 Seiten auf deutsch.

Der Haß scheint also in aller Munde – vielleicht weil das Zeigen oder gar Ausleben von Haß ein schwächer werdendes gesellschaftliches Tabu darstellt, das wegen zunehmend ausbleibenden Sanktionen immer häufiger unterlaufen wird – viel wahrscheinlicher aber, weil Haß einfach allgegenwärtig ist, zumindest in unserer Gesellschaft, und zwar schon ziemlich lange und von den meisten unbemerkt, weil verdrängt.

Im vorigen Artikel habe ich darzulegen versucht, wie der Haß, der im Grunde immer ein Selbsthaß ist, schon im Kleinkind angelegt wird: Die Angst vor dem Liebesentzug der Eltern im Falle von Ungehorsam läßt schon das vorsprachliche Kleinkind eigene Triebregungen unterdrücken, indem es diese von den Eltern unerwünschten Regungen mit Angst besetzt und diesen Impulsen so die Aufmerksamkeit entzieht (da darf ich nicht mehr hingucken, das darf ich nicht mehr wahrnehmen, das tut zu schrecklich weh). Dadurch führen wichtige Anteile des Selbst ein regelrechtes Eigenleben: sie werden gewöhnlich niemals ins bewußte Selbst integriert. Weil aber der so entstandene Selbsthaß ebenfalls zu den unerwünschten Impulsen zählt, darf auch dieser nicht wahrgenommen werden.

Die Lösung besteht dann gewöhnlich darin, stattdessen im anderen das zu verachten, was man bei sich selbst verachtet. So kann die unangenehme Spannung, die aus dem ständigen Niederhalten des Selbsthasses resultiert, auf wundersame Weise abfließen. Der Selbsthasser kratzt sich sozusagen ein Stück Dreck vom eigenen Kittel und schmiert ihn an den weniger beschmutzten eines anderen. Unbewußt steckt dahinter natürlich das Bedürfnis einer solch bedauernswerten Kreatur, andere darauf aufmerksam zu machen, wie schlecht es ihr geht, indem sie andere seinen Haß fühlen läßt. Bewußt spürt ein so Agierender nur die Erleichterung, manch einer mag auch noch die vage Erkenntnis aufblitzen sehen, selbst ähnliche Regungen zu verspüren wie die im jeweiligen Opfer erkannten, so daß sich ihm die Chance bietet, das Irrationale seiner Handlung zu bemerken. Meist aber sucht ein Hassender ein einmal gesetztes Druckventil in Form eines willkommenen Opfers wieder und wieder zu verwenden, bis sich dieses Opfer erfolgreich zur Wehr setzt oder sich ihm sonstwie entzieht – oder er schlimmstenfalls zum Mörder an seinem Opfer wird. Die ganzen hier bis zum Abwinken abgehandelten Sado-Maso-Bounding-Techniken bezwecken nichts anderes, als diesem tiefen Bedürfnis des Selbsthassers nach Erleichterung nachzukommen.

Der Täter erkennt also in seinem Opfer sein eigenes zurückgewiesenes Selbst, vor dem er sich zu fürchten begonnen hat, weil es ihm unangenehme, verbotene, nicht konfliktfrei integrierbare Gefühle verschafft, die nicht in sein Selbstbild passen. Er möchte sich letztlich am anderen als dem Erwecker seines Selbsthasses dafür rächen, auch dafür, daß er andere diesen Teil seines Selbst nicht unterdrückt, sondern ihn sich gestattet. So spielt im Haß auf andere immer auch ein gut Teil Neid mit, Neid auf die Freiheit des anderen, der keinem oder weniger Selbsthaß ausgeliefert ist. Neid ist der Haß auf das Wohlgefühl eines anderen, das man sich selbst nicht gestattet oder nicht gestatten darf.

Arno Gruen schreibt in seinem Buch Der Wahnsinn der Normalität:

Ist so die Entwicklung eines Mannes verlaufen, wird in der bedrängenden Lage, in der sich sein Opfer befindet, nicht nur das eigene, lang zurückliegende Leiden reaktiviert, es wird das, was von seiner eigenen Menschlichkeit übriggeblieben ist, nun wieder erwachen. Deshalb reagieren solche Männer auf das, was die Reste ihres eigenen Selbst wieder hervorholt, ausnahmslos mit gesteigerter Verachtung und mit Haß, um so die Stimme des Opfers, das sie so sehr in sich selbst hassen, zum Schweigen zu bringen. Die Beziehung zur eigenen Menschlichkeit ist zerstört, weil diese Männer in ihrer eigenen, lang zurückliegenden Geschichte, die eng mit dem Gefühl von Schwäche verbunden ist, die ausbeutende Liebe ihrer Eltern auf Befehl in "wahre" Liebe umdeuten mußten. (Ich habe in erster Linie von Männern gesprochen, obwohl natürlich ebenso Frauen den Zugang zu ihren Gefühlen verlieren können - die schrecklichen Berichte über weibliche KZ-Aufseherinnen haben uns darüber belehrt. Denn in unserer Kultur, die beherrscht ist von der Ideologie der männlichen Überlegenheit, gründet die weibliche Selbstachtung nur zu oft auf den männlichen Kriterien und verleugnet die eigenen weiblichen Eigenschaften.)

Selbsthaß ist im Grunde Haß auf das Leben selbst, Haß auf das Lebendige, das sich im Selbsthasser nicht frei entfalten durfte und seiner Erfahrung nach dem freien Zufluß von Zuwendung und Aufmerksamkeit durch seine Eltern im Wege stand. Genau deshalb muß er ja auch den eigenen Haß leugnen, ihn beschönigen, seine Haß-Handlungen mit logischen Argumenten untermauern, ja sie gar als gutgemeinte Handlungen rationalisieren.

Hast du dir, werter Leser, schon einmal überlegt, weshalb die Menschen in allen Bereichen ihres Lebens ständig Fortschritte machen, auf dem Gebiet des gesellschaftlichen und humanen Miteinander – unserer eigentlichen kulturellen Grundlage – jedoch ständig jämmerlich versagen?